This
paper attempts to answer several questions. How do east Germans live and feel
today? Can we still find an east German identity, or has society changed and
become more differentiated? What role do east Germans play in reunified
To answer these questions the paper
brings together expectations of fifteen years ago, lost dreams, frustrations,
anger, feelings of betrayal, dreams come true, success stories and the unspectacular
but nevertheless positive arrival in everyday life of the majority of east
Germans in a new Germany they always wanted to be part of, their different
relations with their “brothers and sisters” in the west, and their struggle
to become equal partners with them. It uses concrete examples from different
social spheres in order to show the development of life and the people in
the “neue Länder” and how they have become what they are today.
1. Einleitung
Vor nunmehr fast 15 Jahren ist die Berliner Mauer gefallen, ein Jahr später konnte die Welt die Feier zur Wiedervereinigung Deutschlands vor dem Reichstag in den Medien verfolgen. Viele glückliche Menschen aus Ost und West waren zu sehen oder in Interviews zu hören.
Es dauerte aber gar nicht lange, bis sich die euphorische Stimmung auf beiden Seiten änderte und bis heute wird allerorts – sei es in privaten Gesprächen, im Feuilleton, in der Fachliteratur, in Talkshows – die Mauer in den Köpfen oder den Herzen beklagt.
Wer mehr als zehn Jahre nach der Wiedervereinigung eine Bilanz der wirtschaftlichen, sozialen und mentalen Wandlungsprozesse in Ostdeutschland ziehen will, wird sich um Ausgewogenheit bemühen. Er wird die Erfolge bei der Übertragung des westdeutschen Verwaltungs-, Rechts- und Politiksystems auf Ostdeutschland, bei der wirtschaftlichen Restrukturierung Ostdeutschlands sowie bei der Angleichung der materiellen Lebensverhältnisse zwischen Ost und West würdigen. Gleichzeitig darf er aber nicht außer acht lassen, dass in der Hektik der Wiedervereinigung zum Teil veraltete, nicht wettbewerbsfähige Strukturen – z.B. im Bildungssystem und in der Industrie – übernommen werden mussten, die in der alten Bundesrepublik zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung bereits zu wenn schon nicht krisenähnlichen, doch aber schwierigen Situationen geführt hatten. Er darf auch nicht außer acht lassen, dass die wirtschaftliche Restrukturierung fast 30 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung Ostdeutschlands arbeitslos gemacht hat und dass sich die Einkommen in Ostdeutschland – trotz gleicher Lebenshaltungskosten – nur zwischen siebzig und fünfundsiebzig Prozent des westlichen Wertes befinden.
Irgendetwas scheint an der ausgewogenen Bilanz nicht zu stimmen. Die Erfolge des Wiedervereinigungsprozesses können zwar mit Zahlen belegt werden, aber Euphorie oder Gefühle des Stolzes wollen sich nicht einstellen. Die Begeisterung, der Mut und die Kreativität der Ostdeutschen, die sie das Wunder einer friedlichen Revolution vollbringen ließen – der ersten geglückten in der deutschen Geschichte überhaupt, das scheinen heute übrigens alle vergessen zu haben – , dies alles scheint heute sang- und klanglos verpufft zu sein. Vierzehn Jahre danach ist vom Schwung der Anfangszeit wenig geblieben.
Das zeigt eine Umfrage der Berliner Zeitung (Stimmung im Osten auf dem Tiefpunkt 2004).
(in
Prozent der Befragten: Differenz zu 100 = weiß nicht/keine Antwort)
betreffs der Bedingungen
für… |
Verbesserung |
keine Veränderung |
Verschlechterung |
Wohnen |
15 |
62 |
15 |
eine
harmonische Partnerschaft |
12 |
60 |
12 |
gleiche
Chancen im Erwerbsleben |
13 |
50 |
27 |
Persönliche
Sicherheit |
14 |
42 |
31 |
eine
natürliche Umwelt |
15 |
40 |
33 |
Bildung
und Qualifizierung |
15 |
40 |
29 |
sinnvolle
Freizeitgestaltung |
9 |
50 |
25 |
ein
gesundes Leben |
14 |
38 |
36 |
Leben
mit Kindern |
11 |
32 |
46 |
demokrat.
Entwicklung der Gesellschaft |
6 |
40 |
36 |
allgemeine
zwischenmenschl. Beziehungen |
6 |
40 |
36 |
einen
Arbeitsplatz (im Alter v. 18-59J.) |
7 |
20 |
68 |
soziale
Gerechtigkeit |
6 |
20 |
68 |
günstige
Lohn-einkommens-Preisgestaltung |
5 |
20 |
63 |
soziale
Sicherheit |
4 |
20 |
68 |
(Source: Berliner Zeitung, 28/29 February 2004: 7)
2. Fehler des Wiedervereinigungsprozesses und ihre Auswirkungen auf die Situation in den neuen Ländern
Eine solche Stimmungslage muss ihre Gründe haben. Die wirtschaftliche Situation ist bereits angesprochen worden – statt blühender Landschaften erfreut sich Ostdeutschland einer weitgehenden De-Industrialisierung. Es ist ein gewaltiger Transfer von jugendlichen und gut ausgebildeten Arbeitskräften von Ost nach West zu beobachten. Von den in der Langzeitstudie Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Ostdeutsche sehen für sich in der Heimat keine Zukunft (Berliner Zeitung 2004) erfassten jungen Leuten sind bereits ein Viertel in die alten Bundesländer abgewandert und haben sich den drei Millionen Ostdeutschen angeschlossen, die dort hingingen, um Arbeit zu finden. Nur noch zwei Prozent der Befragten sehen zuversichtlich in die Zukunft.
Der parlamentarischen Demokratie stehen die Ostdeutschen durchaus kritisch gegenüber. Viele fühlen sich vom Rechtsstaat nicht beschützt und nicht gerecht behandelt. Die Unzufriedenheit der Ostdeutschen bezieht sich dabei jedoch nicht etwa auf die demokratischen Ideale und Normen, sondern auf deren Umsetzung in der realen Politik ihres Landes. Warum die Ostdeutschen weniger zufrieden sind mit ihrem politischen System als die Westdeutschen, hat viele unterschiedliche Ursachen. Es hat etwas mit in der DDR erfahrenen und vor allem bei den Älteren weiterwirkenden sozialisatorischen Prägungen zu tun, mit einer zum Teil schwierigen materiellen Situation, mit einem Gefühl von Nichtanerkennung (u.a. auch der eigenen Geschichte) oder sogar Missachtung – das setzt sich um in Abwehr derjenigen Ordnung, innerhalb derer Missachtung erfahren oder Anerkennung versagt wird. Die ebenfalls offenkundigen sozialen Ungleichheiten zwischen Ost und West lassen den Ostdeutschen die neue Gesellschaftsordnung nicht immer und unbedingt als effizient oder leistungsfähig erscheinen.
Dennoch ist die tatsächliche Lage viel besser als die Stimmung. Eine ausgewogene Bilanz der Wiedervereinigung verlangt mehr Sachlichkeit und Nüchternheit als in den Befindlichkeiten der Ostdeutschen und Westdeutschen zum Ausdruck kommt. Fragt man Ostdeutsche heute, ob sich ihre soziale Situation seit der Wende verschlechtert hat, so widersprechen dem drei Viertel der Ostdeutschen. Es besteht kein Zweifel daran, das es einem Großteil der Bevölkerung besser geht als zuvor. Noch nicht einmal fünfzehn Prozent der ostdeutschen Bevölkerung sagen, dass ihre persönliche wirtschaftliche Lage schlecht sei.
Die Ostdeutschen sind in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit angekommen, sie akzeptieren sie mehrheitlich und wollen die alten Verhältnisse nicht zurück. Angekommen sind sie jedoch als eine Art Immigranten, wie der Redakteur der ZEIT Toralf Staud feststellt. Das besondere daran ist nur, dass die Ostdeutschen ausgewandert sind, ohne sich fortbewegt zu haben und deshalb den durch die Umstände bedingten unausweichlichen Identitätsverlust als besonders schmerzhaft empfinden.
Die meisten Irritationen zwischen Ost- und
Westdeutschen lassen sich als Konflikt erklären zwischen der Erwartung einer
Mehrheitsgesellschaft einerseits, die Hinzukommenden mögen sich doch bitte
geräuschlos anpassen, und der Forderung der Zuwanderer andererseits, zumindest
etwas von ihrer Identität bewahren zu dürfen – eine typische Auseinandersetzung
also zwischen einem Aufnahmeland (das Assimilation verlangt) und Immigranten
(die höchstens zur Integration bereit sind).(Staud 2003: 267)
Die Empfängergesellschaft war 1990 in ihrem Überlegenheitsgefühl nicht bereit, Erfahrungen der Hinzukommenden in den Vereinigungsprozess einfließen zu lassen. Die Entwertung ihres Humankapitals und die Einbuße sozialer Kompetenzen ließen die Ostdeutschen nach kurzer Zeit die Einheit als eine Art Kulturschock erleben, von dem sie sich erst erholen mussten.
Wenn man beim Vergleich mit Immigranten bleibt, wagt Staud die folgende interessante Prognose hinsichtlich der Identifikation der Ostdeutschen mit Ostdeutschland, die auch als eine Antwort auf die „Was bleibt-Frage“ gesehen werden kann.
Wenig wahrscheinlich ist dagegen, dass der
Osten kontinuierlich weiter verblassen, gleichsam verschwinden wird.
Stattdessen findet sich bei Immigranten regelmäßig ein „backlash“: Die erste
Generation sei oft „separatistisch“, die zweite relativ assimiliert, die dritte
Generation aber „reaffirmativ“ mit einem erneuerten Interesse an den fast vergessenen
Werten und Verhaltensweisen. (Staud 2003: 276)
So prognostiziert er auch auf drei verschiedenen Gebieten langfristige Unterschiede:
Soziale Gewohnheiten: Es gibt doppelt so viele allein erziehende Mütter (25,7 Prozent in den neuen Bundesländern gegenüber 13,5 Prozent in den alten Bundesländern). Deutlich mehr Frauen wollen in den neuen Ländern einer Erwerbsarbeit nachgehen. Die neuen Länder sind weitgehend atheistisch geprägt (statt Konfirmation oder Kommunion findet man z.B. vorrangig das Fest der Jugendweihe).
Kultureller Kosmos: Die Art zu kommunizieren ist unterschiedlich, es werden andere Witze erzählt, andere Lieder gesungen, andere Bücher gelesen, andere Musik gehört, andere Lebensmittel verzehrt.
Ökonomische Schwierigkeiten: Darüber wurde schon und wird noch berichtet werden. Diesen Unterschied können die Ostdeutschen nur überwinden, indem sie aus der impliziten Immigration eine explizite machen und in die alten Bundesländer gehen.
Wie sieht es also aus im Osten Deutschlands? Was denken und fühlen die Menschen? Wie schätzen sie ihr Leben damals und heute ein? Gibt es überhaupt noch den typischen Ostdeutschen? Diese Fragen implizieren viele Facetten, hinter ihnen verbergen sich viele verschiedene Schicksale, Entwicklungswege, Zukunftsvisionen, so dass es schwer wird, eine gültige Gesamtaussage über den Ostdeutschen damals und heute zu treffen. Zwischen dem Dauerarbeitslosen in Mecklenburg-Vorpommern und der ebenfalls aus dieser Region stammenden möglichen zukünftigen Bundeskanzlerin, der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel, finden wir unterschiedliche Biographien.
Hier wird versucht, sowohl Fakten über das Leben in den neuen Bundesländern als auch Stimmungsbilder zu geben. Fakten sprechen ihre eigene Sprache und sind relativ objektiv. Bei Stimmungsbildern hängt es sehr stark davon ab, ob sie mit jungen Leuten sprechen oder mit Menschen, die die Wende in der Mitte ihres Arbeitslebens erfahren haben – und damit Brüchen, Arbeitslosigkeit, Diskriminierung, etc. ausgesetzt waren; ob sie mit Menschen sprechen, die stärker Kontakte mit Menschen aus den alten Bundesländern haben – sei es beruflich, persönlich oder geographisch bedingt. Menschen in Großstädten und dabei besonders in Berlin treffen im Alltag und im Beruf viel häufiger mit Altbundesbürgern zusammen.
Hier sollte auch nicht nur auf die Spezies Ostler bezogen werden. Im Osten wohnen und arbeiten mittlerweile auch Westler. Im täglichen Arbeitsleben kommuniziere ich ständig mit Menschen aus Ost und West, ich treffe sie in meiner Freizeit im Theater, im Urlaub, bei Freunden, bzw. sie sind selbst Freunde geworden, auf Konferenzen und Workshops. Und meistens weiß ich nach kurzer Zeit, woher sie kommen. Warum das so ist, ist auch ein Erklärungsversuch für unterschiedliche Sozialisation, für Missverständnis, für Abgrenzung und dafür, dass die Begriffe Ossi und Wessi zumindest mit meiner Generation nicht aus der Diskussion verschwinden werden. Beide Begriffe implizieren bei der Nennung der eigenen oder anderen Zugehörigkeitsgruppe, ob bewusst oder unbewusst, immer eine Wertung. Das ist schade, aber auch nicht zu ändern. Eine nüchterne Bestandsaufnahme hat dieses Phänomen zu berücksichtigen, kann ihm aber auch einen relativierenden und damit zeitlich begrenzbaren Platz zuweisen.
Die Generation der heute Dreißigjährigen, also die Kinder der Generation, die stellvertretend für den immer wieder diskutierten Ostler steht, hat trotz ungesicherter Verhältnisse und fehlender Zuversicht wesentlich weniger Schwierigkeiten, ihren Platz in der deutschen Gesellschaft zu finden und zu definieren. Wenn ich Vertretern dieser Generation – zumindest im akademischen Bereich – begegne, gelingt mir immer öfter eine „Positionsbestimmung“ nach Ost und West nicht mehr sofort.
Warum? Sind junge Ostdeutsche zu jungen Westdeutschen mutiert? Oder ist es nicht vielmehr auch so, dass junge Westdeutsche weniger Schwierigkeiten als ihre Eltern mit der Einsicht in die geschichtliche Tatsache haben, dass das heutige Deutschland ein anderes ist als das des Wirtschaftswunders oder die von den Ideen der 68er geprägte Republik. Wahrscheinlich ist es ein Gemenge aus beiden. Außerdem haben junge Ostdeutsche bessere Startchancen als ihre Eltern, zeigen eine hohe Motivation, hängen alten Wertvorstellungen von Gleichheit, etc. weniger an und gehen auch aufgrund fehlender Zurücksetzungen oder Negativerfahrungen wesentlich unvoreingenommener in Begegnungen mit jungen Menschen aus den alten Bundesländern.
Umfragen haben ergeben, dass sich junge Leute sowohl als Ostdeutsche als auch Deutsche sehen. Das ist in meiner Generation, also der Generation, die annähernd die Hälfte ihres Lebens oder mehr in der DDR gelebt hat, anders. Hier definiert sich eine wesentlich höhere Zahl allein als Ostdeutsche. Diese Generation soll in meinen Ausführungen auch intensiver betrachtet werden, ist sie doch die am tiefgreifendsten von den Transformationsprozessen beeinflusste Gruppe. Die 1989 25- bis 40jährigen hatten ihren schulischen Werdegang abgeschlossen, Berufserfahrungen gewonnen, zum großen Teil Familien gegründet und sich auf ein Leben in der DDR eingerichtet. Die Wende kam für alle unerwartet, zum großen Teil gewollt oder begrüßt, und mit damals nicht absehbaren Folgen wie Verlust des Berufs oder Arbeitslosigkeit. Von vier Ostdeutschen arbeitet nur noch einer in seinem damaligen Beruf – soviel zu der immer wieder erwähnten angeblichen Unflexibilität der Ostdeutschen. Andere Ostdeutsche ergriffen die ihnen mit der Wende gebotene Chance, wechselten den Beruf oder ließen ihre beruflichen Erfahrungen in eine neue Beschäftigung einfließen.
Hinsichtlich der Arbeitsmarktsituation nach der Wende spricht die folgende Tatsache eine deutliche Sprache. Der Volkswirtschaft einer Bevölkerung von der Größe der Niederlande wurde eine Tabula-rasa-Privatisierung verordnet, in deren Ergebnis sich nach kurzer Zeit dreiundneunzig Prozent des vorhandenen Produktionsvermögens in nicht-ostdeutscher Hand befand.
1990 hielt ein so erfahrener Fachmann wie der
Unternehmensberater Roland Berger die Aussicht für real, dass aus dem östlichen
Deutschland nach einer zehnjährigen Aufholperiode das „Japan des europäischen
Binnenmarktes“ werden könne – eine für große Teile der westdeutschen Wirtschaft
keineswegs verlockende Perspektive. Für ihre Verhinderung ist die Vernichtung
von 80 % der keineswegs ineffizienten Industrieforschungskapazität der DDR ein
deutliches Zeichen.... Statt zum Japan des europäischen Binnenmarktes ist die
deutsche Ost-Zone zu einer Art Mezzogiorno auf dem Territorium der drittgrößten
Industriemacht der Welt geworden. Da man versäumt hat, dem Faß einen
tragfähigen Boden einzusetzen, erscheint sie manchen heute wie ein Faß ohne
Boden. (Dieckmann, F. 2003: 161)
Die Treuhandprivatisierung
hat dazu geführt, dass zwei Drittel des ostdeutschen Industriepotentials und 88
% des Industrieforschungspotentials verlorengegangen sind, kaum noch Großbetriebe
vorhanden sind und der Anteil der zukunftsträchtigen Branchen sehr gering ist.
Damit wurde der neoliberale Rückzug des Staates aus der Wirtschaft ins Extrem
getrieben, und im Extrem führt er offenbar nicht zur Belebung, sondern zur
Zerstörung der Wirtschaft. (Richter 1998: 66)
Hier wären auch bestimmte Berufsbilder zu erwähnen, die von den Umbrüchen besonders hart getroffen wurden, und bei denen unter Umständen dann auch verständlicherweise größere Ressentiments denen gegenüber bestehen, von denen man sich ungerecht beurteilt oder behandelt fühlt – den Westdeutschen. Dazu zählen durch den Wegfall der sozialistischen Produktionsgemeinschaften auf dem Land ein Großteil der bäuerlichen Bevölkerungsschicht, Arbeiter und Angestellte ganzer wegrationalisierter Kombinate, die wissenschaftliche Intelligenz der komplett aufgelösten Akademie der Wissenschaften der DDR, ein Großteil des Lehr- und Forschungspersonals an Universitäten und Hochschulen, die in der DDR sozial abgesicherten Vertreter der „Kunst- und Kulturschaffenden“, aber auch Vertreter von Berufsbildern, die es in der alten Bundesrepublik so nicht gab und deshalb auch nicht anerkannt wurden – wie z.B. Horterzieherinnen, die heute wieder dringend gebraucht werden. Deshalb wird zur Zeit ein solcher Studiengang an der Fachhochschule für Sozialwissenschaft in Berlin eingerichtet. Die Abschaffung ganzer Eliten und die damit einhergehende Aufhebung von Identität erleichterte die Eingliederung der Betroffenen in ein anderes Wirtschaftssytem – aber zu welchem Preis.
Lassen wir den Sinn oder Unsinn solcher gesellschaftlicher
Verwerfungen, die Notwendigkeit oder Ungerechtigkeit des Verkaufs von Betrieben
für eine symbolische DM, die Schließung oder Abwicklung von Fabriken
dahingestellt sein, die Auswirkungen für die Menschen waren tragisch und
tiefgreifend, prägend für ihr Verständnis vom Leben in der Bundesrepublik.
Obwohl zum Teil auch selbst verantwortlich für den Zusammenbruch von Industriezweigen
– keiner wollte mehr ein Ostauto fahren, Ostkleidung tragen, Ostschokolade
essen oder Ostkaffee trinken – , traf es viele unvorbereitet, dass „wir sind
ein Volk“ auch bedeutete „Arbeitsplätze gibt es hier nicht mehr“.
Spreewaldgurken, Spee Waschmittel und Rotkäppchen Sekt haben ihre Renaissance
erst fünf Jahre nach der Einheit und dem Abklingen des Westkaufrausches erlebt.
Laut Umfragen kaufen über siebzig Prozent der Ostdeutschen heute bewusst Ostprodukte,
wenn sie vor der Wahl stehen.
Die Attraktion ostdeutscher Universitäten und kleinerer, sehr betreuungsintensiver Hochschulen begann für westdeutsche Studenten erst Ende der neunziger Jahre zu greifen. Vorher sprach man unter westdeutschen Studenten vom „ in den Busch gehen“ – was bei der renommierten Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ ja durchaus nicht der Wahrheit entbehrt. Eine Vielzahl der ostdeutschen Studenten war bereits nach nur einigen Jahren und dem Vergleich mit westdeutschen Studienangeboten zurückgekehrt.
3. Unterschiedliche Wahrnehmungen der Deutschen voneinander
Die Liste der Veröffentlichungen, die sich mit der unterschiedlichen Wahrnehmung der Deutschen untereinander befassen, wird immer länger. So beschreibt Bialas in Vom unfreien Schweben zum freien Fall. Ostdeutsche Intellektuelle im gesellschaftlichen Umbruch nicht nur die widersprüchliche Situation ostdeutscher Eliten, sondern auch die ganz gewöhnlichen Bilder vom anderen.
Von der Prämisse einer nachhaltigen und wenig wandelbaren Mauer in den Köpfen und Herzen ausgehend, untersucht die Pilotstudie Die Charaktermauer. Zur Psychoanalyse des Gesellschaftscharakters in Ost- und Westdeutschland beispielhaft an ost- und westdeutschen Grundschullehrern, wo in der psychischen Tiefenstruktur noch lange eine Trennlinie verlaufen wird. Ensel analysiert Wahrnehmungsmuster ost- und westdeutscher Studenten vom jeweils anderen in Warum wir uns nicht leiden mögen. Klein untersucht in Ihr könnt uns einfach nicht verstehen! Warum Ost- und Westdeutsche aneinander vorbeireden Ost-West-Differenzen in verschiedensten Formen der Kommunikation und kommt dabei zu erstaunlichen Resultaten. Nachdem Rita Kuczynski in Die Rache der Ostdeutschen zwanzig Berliner befragt hatte, warum sie bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus 2001 ihre Stimme der PDS gaben, interviewt sie Berliner in ihrem neuen Buch Im Westen was Neues? Ostdeutsche auf dem Weg in die Normalität, die bei der Bundestagswahl 2002 anders gewählt haben. Ein interessantes Phänomen dabei ist, dass sich in beiden Gruppen sowohl Verlierer als auch Gewinner der Einheit und Menschen unterschiedlicher Altersgruppen befinden.
Der Kolumnist der ZEIT und Autor Christoph Dieckmann beschreibt ironisch, wie wenig sich Ostdeutsche in den Medien objektiv vertreten wissen bzw. dargestellt sehen:
Aber worin einer scheitert, welche Lebenszeit
ihm brach, das entzieht sich der Gattungsanalyse, das ist gänzlich individuell.
Darüber schweigt der Osten. Er weiß es ja. Sich selbst ist er bekannt.
Mitteilung ins andere Deutschland unterbleibt, denn die nationalen Medien, die
Deutungshoheit hat der Westen. Manchmal schickt der Westen einen Auslandskorrespondenten
herüber, zur vertiefenden Verallgemeinerung des Bekannten: Arbeitslosigkeit,
Stasi, Ausländerhaß. Mehr und mehr wird mein Osten ein mir westlich
vermitteltes Summarium altbundesdeutscher Medien. Hin und wieder rufen
Westredaktionen an und fragen besten Willens: Welcher ostdeutsche Autor könnte
uns dies oder jenes ostdeutsche Thema näher bringen? Mir fallen die paar Etablierten
ein, die ich aus Westmedien kenne. Und ich weiß längst, dass die Imagekultur
Bärbel Bohley nicht zu ökologischen Fragen vernehmen möchte, Sahra Wagenknecht
ungern zum Jubiläum kirchlicher Mahnwachen, und dass immer Friedrich
Schorlemmer und Richard Schröder in die Talkshows müssen. (Dieckmann, C., 2003:
166f)
Hier sollte auch darauf hingewiesen werden, dass es Ostdeutsche mehr und mehr befremdet, wenn sie von Westdeutschen und in den Medien als amorphe Masse mit Stasivergangenheit und Mallorca-Ballermann-Mentalität eingeschätzt werden, wie eine Leserantwort im Spiegel auf ein Titelbild (siehe Spiegeltitelbild im Anhang [öffnet in neuem Browser Fenster]) stellvertretend für viele suggeriert:
Herr Peter Steinbach aus Müllheim in Baden-Württemberg schreibt:
Was soll die Verhohnepipelung des berühmten
Delacroix Bildes „Die Freiheit führt das Volk“? Das Fräulein auf dem Titel ist
kein flammendes Symbol, sondern ein Model mit volksnahen Beinen und plattem
Busen. Was auf dem Hammer-Zirkel-Lappen fehlt, sind die Stichworte Bautzen,
Menschenhandel, Bananen und Mallorca. (Der
Spiegel 29/1995)
Wobei wir bei unserem jetzigen Innenminister Otto Schily angelangt wären, dem so manche Ostdeutsche heute noch nachtragen, dass er zur Kommentierung des Wahlergebnisses 1990, bei dem die CDU für viele überraschenderweise gewann, wortlos eine Banane aus der Tasche zog und diese in die Kamera hielt. Er agierte damit stellvertretend für die Generation der Achtundsechziger, für die der Osten nicht länger als Projektionsfläche herhalten konnte. Der Publizist Albrecht von Lucke sieht in der erwähnten Banane einen
[…] Ausdruck jener Abfälligkeit, die nicht wenige
saturierte Ex-Radikale den schnäppchenjagenden Brüdern und Schwestern aus dem
Osten entgegenbrachten. Hätten sie uns doch bloß verschont! Und während ein
ganzes Land im Trabistau steckte [….], gab Hans-Joachim Maaz mit seiner These
vom „Gefühlsstau“ der Ostdeutschen allen westlichen Projektionswilligen eine
wunderbare Steilvorlage: so sind sie eben, die Ossis, ein Volk von
Rückgratgeschädigten und emotional verkümmerten Töpfchenexistenzen. Nach 40
Jahren Sozialismus, so brachte es ein bekannter Westhistoriker kurze Zeit
später auf den Punkt, seien die Menschen ganz einfach „verzwergt und verhunzt“.
Hatte es der aufgeklärt-individualistische Wessi nicht schon immer geahnt?
Tatsächlich kam im kaum verhehlten westlich-linken
Haß auf die Ossis ein Stück unterdrückter Wut darüber zum Ausdruck, dass man
die Projektionsfläche der eigenen Hoffnungen und Ressentiments verloren hatte.
Nach dem Ende aller sozialistischen Illusionen taugte der Osten jetzt plötzlich
nur noch dazu, sich selbst auf die Seite der Sieger zu schlagen, sich
aufgeklärter, moderner, zeitgemäßer: kurzum westlicher zu fühlen. (v. Lucke
2003: 214)
Als weiteres Beispiel für die von Ostdeutschen als arrogant empfundene Berichterstattung über sie steht der Artikel von Kathrin Spoerr „Ostdeutsche“, der mit den Worten „Nun wissen wir es: die Ostdeutschen sind die Dummköpfe Deutschlands[...]“ (Die Welt 2003: 8) beginnt. Man fragt sich, ob die Autorin mit dieser verletzenden Darstellung nicht auch unbewusst Verdrängungsmechanismen bedient, wie sie in dem Artikel „Psychoanalytiker: Ossis und Wessis sind sich unheimlich. Ost- und Westdeutsche spüren, dass sie anders und doch gleich sind“ (Tagesspiegel 2003) beschrieben werden.
Gegenseitige Zuweisungen von Charaktereigenschaften und Ortsbeschreibungen scheinen mir im Falle der Westdeutschen insofern noch gefährlicher, weil im Gegensatz zu den drei Prozent Ostdeutschen, die noch nie westlichen Boden betreten haben, vierundzwanzig Prozent aller Westdeutschen das Land zwischen Rügen und Plauen nur vom Hörensagen – durch die Medien – kennen.
Unter anderem führte 1999 auch Ignoranz zum Eklat der Weimarer Ausstellung „Aufstieg und Fall der Moderne“, auf der durch lieblose Hängung der DDR-Malerei wie Sperrmüll und ihre Parallelisierung mit der Malerei der Nazizeit die Kunstszene der DDR diffamiert wurde. Die Berliner Zeitung schreibt:
Schon die Orte folgen einer Regie der
Denunziation. Im Schloß wird die gute Vorkriegskunst, in einer garstigen
Mehrzweckhalle die Kunst der beiden Diktaturen gezeigt. Die Ausstellungsmacher
mögen sich gegen Kritik noch so sträuben; im Grunde genommen können sie sich,
wenn sie den Vorwurf des Ressentiments abwehren wollen, bestenfalls auf
Ahnungslosigkeit herausreden. Davon geben sie allerdings schöne Zeugnisse; den
Leipziger Maler Wolfgang Mattheuer nennen sie zum Beispiel Walter Mattheuer.
Vielleicht ist es am Ende vor allem diese Art von hochmütiger westlicher
Kenntnislosigkeit, die dem Streit um die DDR-Kunst zugrunde liegt und darüber
hinaus dem eskalierenden Unmut in Weimar und andernorts. (Westkunst gegen Ostkunst
1999)
Wer als etwas dümmlich und bedeutungslos von den Machern in den Medien abgetan wird, dem konnte man dann auch die im letzten Jahr in Mode gekommenen unsäglichen Ostalgie-Shows vorsetzen, die versuchten, nach dem Erfolg des Kinofilms Good-bye Lenin das zu wiederholen, wovon sie meinten, es hätte diesen ausgemacht. Dabei übersahen sie jedoch, dass der Film es unterließ, den Geschmack der Ostdeutschen zu verletzen, und dass der Erfolg gerade darin besteht, dass er etwas nachholt, was seit 1990 nicht geleistet wurde: ein Abschied in Würde von der DDR. Hier wird sie mit Anstand und zu Recht verabschiedet.
Thomas Brussig beschreibt im Tagesspiegel die besondere „Gemengelage“, aus der die Shows entstanden.
Die Ostalgie unterscheidet sich nur in einem
wesentlichen Punkt von der üblichen Nostalgie: Das Objekt der Verklärung ist in
seiner Deutung schwer umkämpft. Die DDR steht unter besonderem Druck; die
Verklärung muss sich über ein herrschendes Geschichtsbild vom „Stasi-Terror“,
„SED-Staat“, „totalitären Regime“ usw. hinwegsetzen. Dieses Geschichtsbild
steht in einer toten Ecke des Erfahrungsraumes vieler Ostler. Die DDR ist in
den Köpfen vieler Menschen etwas anderes als das, was ihnen von den Historikern
– auch im Fernsehen – präsentiert wird. Hier setzen die Nostalgie-Shows an: Sie
wollen, wie es so schön heißt, die Leute da abholen, wo sie stehen. Natürlich
sind sie auch Ausdruck eines schlechten West-Gewissens und einer vermurksten
deutschen Einheit: Wenn kaum ein Ostler Chefredakteur oder Intendant ist, wird
mit anderen Mitteln Proporz geschaffen. Dabei soll unbedingt vermieden werden,
was doch jeder sieht: dass ARD und ZDF das Westfernsehen sind. ARD und ZDF
wären viel lieber das, was sie heißen: deutscher Rundfunk, deutsches Fernsehen.
(Brussig 2003)
Dann aber müsste mit den Erfahrungen und den Erinnerungen der Ostdeutschen wesentlich differenzierter und weit weniger stereotypisiert verfahren werden. Bei einem solchen Prozess sollten viel mehr Stimmen der wirklich Betroffenen, nämlich der Ostdeutschen, zu Wort kommen. Das wiederum setzte eine stärkere Bereitschaft zur öffentlichen Meinungsäußerung voraus und kein desillusioniertes oder schmollendes Zurückziehen in Nischen ob der vermurxten deutschen Einheit.
Junge Ostdeutsche wie die Autorin Jana Hensel mit ihrem Buch Wir Zonenkinder, die sich selbst als eine der ersten Wessis im Osten sieht und versucht, die DDR zum gesamtdeutschen Pop werden zu lassen, sind dabei auch wenig hilfreich.
Die „Zonenkinder“ sind ein Produkt, das als Konfektionsware Integrationsfunktion erfüllt. Östlich angehauchte Geschichtchen werden in die Formen und Farben des Westens übersetzt. Ihre Leistung besteht eben nicht in der Erinnerungsarbeit. (Camman 2003: 289)
Mehr über das Leben im Osten erfährt man in dem Buch von Claudia Rusch, Meine freie deutsche Jugend, in dem sie ihre Kindheit in einem oppositionellen Elternhaus beschreibt.
Erinnerungsliteratur mit ernst zu nehmenden Vergangenheitsrekonstruktionen stellt jedoch immer noch ein Desiderat dar.
Der Westen, der in den letzten Jahren vom Osten mit
allerlei spaßigem Blendwerk so geschickt in die Irre geführt wurde, könnte aus
solcher Literatur tatsächlich etwas Neues lernen – wenn ihm nach
gefühlig-gefälligen Histörchen endlich der Sinn nach ernsthafter östlicher
Erinnerungskost stünde. Dann würde er auch mehr vom Osten verstehen und
vielleicht auch von dem, was im letzten Jahrhundert wirklich wichtig war. (Camman
2003: 294)
Es wäre für den öffentlichen Diskurs auch hilfreich herauszufinden, warum bei der Spiegelumfrage Das Ostgefühl. Heimweh nach der alten Ordnung (Der Spiegel 1995) Ostdeutsche bestimmte Lebensbereiche in der DDR besser empfunden haben und warum viele sagen, sie hätten in der DDR das Beste aus ihrem Leben gemacht. Es bringt uns nicht voran, solche Aussagen – wie leider üblich – als Demokratieunfähigkeit der tumben, undankbaren und ostalgischen Ossis, über die man sich bestenfalls amüsieren kann, abzutun. Ostalgie kann etwas ganz anderes und nützliches sein als das, was z.B. die erwähnten Ostalgie-Shows bieten.
Ostalgie beendet eine Enteignung. Sie beharrt
auf persönlicher Geschichte, auf unverkürzter Biografie. Den Doktrinen der
Großhistorie ruft sie ein heiteres Aber zu. Dumm wird Ostalgie, wenn sie Ironie
und Individualität verliert, wenn sie selber doktrinär wird, lügt und tüncht
und Kollektiv-Identität behauptet, wo das einzelmenschliche Gewissen sprechen
musste. Autoritäts-Sehnsucht, Stasi-Vergessenheit, Blauhemd-Partys, das ist
dumme Ostalgie. Genauso dämlich ist es, Schnatterinchen, Täve Schur und den
Palast der Republik mit Hannah Arendt zu bekämpfen. (Dieckmann, C. 2003)
Ostdeutsche
Wer kann es einem Ostdeutschen verdenken, wenn er angesichts der Pisa-Studie und der Suche nach Auswegen aus der Misere auf das Bildungssystem der DDR verweist, das Finnland, wohin Bildungspolitiker zur Zeit in Scharen pilgern, von der DDR in seinen Strukturen – nicht den Inhalten – übernommen hatte. „Das DDR-Schulsystem war besser“, sagt Günther Jauch zur besten Sendezeit in einer populären Talkshow am Sonntag Abend. Zwischen Rostock und dem Erzgebirge gab es verbindlich Dinge zu lernen, es gab einheitliche Lehrpläne, Bücher und zentrale Prüfungen nach der zehnten Klasse – ein Wunschtraum vieler heutiger Bildungspolitiker. Schule war Lebensort mit Ganztagsbetreuung. Es gab Arbeitsgemeinschaften, Begabtenförderung und gut ausgebildete Erzieherinnen. Aber darf es in einer „menschenverachtenden Diktatur“ Nachahmenswertes geben?
Es gibt keinen größeren Fehler in bezug auf die DDR als den, vom Machtzusammenhang direkt auf die Akteure zu schließen. Wer so verfährt, verfängt sich rettungslos in dem Vorurteil, die Menschen seien primär und unmittelbar durch das politische System und den Repressionsapparat geprägt und nicht vielmehr durch die Auseinandersetzung mit beiden. Er verstellt sich den Zugang zu ihnen und begeht den gleichen Fehler wie die Macher der Kunstausstellung in Weimar. So findet z.B. ein von der Deutschen Forschungsgesellschaft finanziertes Ost-West-Projekt an den Universitäten in Konstanz und Saarbrücken unterschiedliche Erziehungsstile heraus, warnt aber gleichzeitig, den ostdeutschen Erziehungsstil als grauenhaften DDR-Stil abzutun, mit dem Hinweis, dass Mütter in Israel und Frankreich sich ebenso verhielten.
Ostdeutsche Mütter setzten dem Nachwuchs klare
Grenzen. Der Studie zufolge ist zudem die Mutter-Kind-Beziehung im Osten
liebevoller und harmonischer als im Westen. Streng und liebevoll seien keine
Gegensätze. Vielmehr verunsichere der westdeutsche Erziehungsstil ohne klare
Grenzen die Kinder und führe häufiger zu Streit. Ostdeutsche Mütter seien sich
hingegen darüber im klaren, was sie vom Kind erwarten und verhielten sich daher
sehr herzlich. (Ostmuttis sind strenger, aber liebevoller 1999)
Das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen ist über Jahre – ob zu Recht oder Unrecht – diffamiert worden. Sie waren und sind immer noch das Objekt von Häme, man macht sich über sie lustig. Der sächsische Akzent steht in allen Kabarettprogrammen für den doofen Ossi – übrigens auch in Berlin und Brandenburg. Wenn man aber heute mit Dresdnern über den wirtschaftlichen Aufschwung ihres Landes, das im Bruttosozialprodukt alte Bundesländer überholt hat, spricht; wenn man die Begeisterung der Leipziger für ihre Olympiabewerbung spürt, wenn man sich Vielfalt und Tiefgang der Kunst- und Kulturszene der beiden sächsischen Metropolen vor Augen führt, dann bekommt man auch ein Bild gewachsenen Selbstbewusstseins und Stolzes aus Sachsen. Aber trotz allem wandern auch hier immer mehr Jugendliche auf ihrer Suche nach Arbeit in den Westen ab, denn Leipzig und Dresden sind sozusagen nur „blühende Inseln“.
Eine Studie des Demoskopie Instituts in Allensbach zur Kindheit in Deutschland findet, dass ostdeutsche Kinder weniger unbeschwert sind als westdeutsche.
41 % der westdeutschen, aber nur 23 % der
ostdeutschen Kinder beschreiben ihre Gemütsverfassung als sehr fröhlich. Nur 11
% der westdeutschen, aber 21 % der ostdeutschen Kinder sagen, dass sie häufiger
oder zumindest gelegentlich bedrückt sind. Die schwierigere, unbefestigtere
Lage in den neuen Bundesländern prägt nicht nur das Leben der Erwachsenen,
sondern teilweise auch die Gemütsverfassung der Kinder. (Das Landleben macht
Kinder froh 2003)
Das alles sind Besorgnis erregende Prozesse, für die die Politik bis heute keine realistischen Lösungswege aufgezeigt hat. Es fragt sich auch, ob die Lösung zwangsläufig darin bestehen muss, den Osten ob fehlender Produktionskapazitäten zur Golfplatz- und Urlaubsregion mit touristischen Highlights wie die Insel Rügen, Weimar, die Wartburg, Potsdam, Erfurt und Dresden mutieren zu lassen.
Wahrscheinlich wäre das auf lange Sicht genauso verderblich wie die zwanzig Prozent der PDS Wähler stellvertretend für die undankbaren, von Demokratie keine Ahnung habenden Ostler im Verständnis der Westdeutschen stehen zu lassen. Aber die achtzig Prozent der Wähler aus den neuen Bundesländern, die nicht die PDS wählen, sind medial weniger interessant. Denn sie verhalten sich wie die Mehrheit aller Bundesbürger. Oder aber vielleicht auch nicht.
4. Beitrag der Ostdeutschen zur gesamtgesellschaftlichen Situation
Es ist an der Zeit, im Westen das Trugbild über „die Ostler“ aufzugeben. Erst dann könnte nämlich die dringend notwendige gesamtdeutsche Debatte über die Zukunft eines Deutschlands beginnen, das sich nicht mehr in den Grenzen der alten Bundesrepublik bewegt und sich mit neuen Herausforderungen konfrontiert sieht. Es würde den Bedürfnissen unserer gegenwärtigen Situation wesentlich hilfreicher sein, wenn die Ostdeutschen nicht mehr nur als Hüter einer fiktiven ostdeutschen Identität wahrgenommen würden, sondern als Menschen, die in den letzten fünfzehn Jahren mehr an gesellschaftlichen Veränderungen und Umbrüchen erlebt haben als alle Bundesbürger der alten Bundesländer zusammen in den letzten fünfzig Jahren.
Die Ostdeutschen wären durchaus in der Lage, einiges aus ihren Erfahrungen im Umgang mit Brüchen und neuen Herausforderungen in die Zukunft unseres Landes einzubringen, um die gegenwärtige Krise in Deutschland zu bewältigen. Vielleicht könnten Westler sogar von den Erfahrungen der Ostler lernen – wenn sie denn dazu bereit wären – , nämlich, die Aufgabe jahrzehntelang gehegter Gewohnheiten und sozialer Sicherheiten als Chance für die Zukunft zu begreifen. Wedels ironische Wort sind heute noch Realität:
Noch wiegen sich die meisten Westdeutschen in
Sicherheit, verursacht ihnen die Nähe der Ostdeutschen nur Allergien, nicht
Panik. Eines Tages werden sie fragen: Ja, was hätten wir denn mit ihnen machen
sollen? (Wedel 1996: 202)
Auch von Lucke setzt sich mit dem Beharrungsvermögen der Westdeutschen auseinander.
Und so trifft auf höchst ironische Weise dreizehn Jahre nach der Wende der Titel jenes Buches von Susanne Leinemann zu: Aufgewacht – Mauer weg. Nicht für den Osten, sondern für den Westen musste das geschrieben werden. Denn dass auch der Westen nicht mehr ist, was er einmal war – diese Erkenntnis setzt sich erst ganz allmählich, ja allzu langsam im Bewusstsein des Wessis durch. (v. Lucke 2003: 215)
Doch zurück zu der Frage, ob Ostdeutsche etwas zum gesamtdeutschen Diskurs beitragen können. Ich hatte bereits das Bild des ostdeutschen Immigranten in die Diskussion gebracht. Immigranten sind Fremde im Aufnahmeland. Pollack findet in dem sozialpsychologischen Essay „Der Fremde“ von Alfred Schütz eine Erklärung dafür, was den Ostdeutschen zum Seismographen gesellschaftlicher Umbrüche im Nachwende-Deutschland prädestiniert, auf den man hören sollte.
Einen Vorzug freilich habe der Fremde gegenüber dem
Einheimischen: ein genaues Gefühl für die inneren Brüche, die die fremde
Gesellschaft durchziehen. Längst bevor sich der Einheimische durch die Symptome
sozialer Veränderungsprozesse irritiert fühle, spüre der Fremde das Knistern
des sozialen Wandels und registriere er „mit schmerzlicher Klarsichtigkeit“ das
Heraufkommen einer Krise, die die Gültigkeit des Gewohnten bedroht. (Pollack
2003: 295)
Auch die im Umgang mit einer anderen Kultur (der westdeutschen) gemachten Erfahrungen der Ostdeutschen, die durch einen beträchtlichen Mangel an Sensibilität und Achtung gegenüber ihrer Herkunft und deren Prägungen gekennzeichnet waren, könnten durchaus hilfreich in das gesamtgesellschaftliche Bewusstsein einfließen, wenn es um die Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung der Deutschen in der Welt geht.
Überhaupt diese Manier der Westdeutschen, immer die Besten sein zu wollen und das Beste gerade für gut genug zu halten, dieses Anspruchsdenken, das nur das akzeptiert, was an der Spitze steht – müsste nicht darüber auch einmal gesprochen werden? Und wer könnte darüber besser urteilen als die Ostdeutschen, die diese unsägliche Manier, die die Deutschen übrigens in der ganzen Welt unbeliebt macht, bis zur Unerträglichkeit erfahren haben? (Pollack 2003: 301f)
Nachdem Engler bereits 1999 mit Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land eine beeindruckende Analyse der Verhältnisse abgeliefert hatte, erklärt er mit Prägnanz und Bravour 2002 in Die Ostdeutschen als Avantgarde die Dialektik dieses Titels. Wir lesen auf dem Schutzumschlag:
Seine facettenreiche Studie
illustriert den Sprung der Ostdeutschen von der historischen Etappe an die
Front der globalisierten Weltgesellschaft. Sie lotet die Konsequenzen der damit
einhergehenden „Fortschritte“ und „Rückschritte“ für die Menschen in ganz
Deutschland aus. Vom Osten lernen, neue Formen des gesellschaftlichen und
persönlichen Lebens zu erfinden. Wolfgang Engler legt dar, welche Perspektiven
sich dadurch für uns alle eröffnen können.
Der Autor selbst schreibt:
Nur ein paar Jahre später, und der Osten
Deutschlands ist zu einem der größten Experimentierfelder der jüngeren
Geschichte geworden. Und man hat den Eindruck, dass die Ostdeutschen mit der
erneuten avantgardistischen Zumutung ganz gut zurechtkommen – wenn man sie
lässt. (Engler 2002: 87)
Obwohl Engler konstatieren muss, dass die Zahl von 9,7 Millionen Erwerbstätigen im Jahr 1989 auf 6,4 Millionen im Jahr 2000 zurückging oder sogar auf 6 Millionen, wenn man die mehr als Vierhunderttausend Pendler in den Westen abzieht, verbreitet er keine apokalyptische Endzeitstimmung, sondern konstatiert nur nüchtern:
Den Westdeutschen muss unmissverständlich
gesagt werden, dass sie ihre Brüder und Schwestern im Osten während dieses
langen Anpassungsprozesses alimentieren müssen, und zwar in ihrem
wohlverstandenen Eigeninteresse; die Ostdeutschen müssen sich von Trugbildern
verabschieden und in Geduld fassen – das Tal, in dem sie leben, ist nicht im
Durchzug, sondern zum längeren Verweilen bestimmt. (Engler 2002: 127)
5. Ausblick
Aber obwohl die Ostdeutschen ein Tal durchschreiten – langsam und nicht nur als „Jammerossis“ – , möchte ich noch einmal betonen, dass sie, entgegengesetzt vieler Behauptungen, in der Bundesrepublik Deutschland angekommen sind. Von den in der Leipziger Langzeitstudie Befragten, ist die überwiegende Mehrheit froh über die Wende, die meisten davon sogar ohne Einschränkung. Nur 4 Prozent wünschten sich 2003 die früheren politischen Verhältnisse zurück. Die Zustimmung zur deutschen Einheit ist jedoch nicht identisch mit der Zufriedenheit mit dem neuen Gesellschaftssystem. Denn das wird von den Befragten mehrheitlich kritisch betrachtet. (Gute Seiten, schlechte Seiten 2004)
Stellen wir also fest, dass die Ostdeutschen als kritische Demokraten angekommen sind, die notwendige Veränderungen anmahnen. Leider noch viel zu wenig in öffentlichen politischen Debatten, sondern mehr im Privaten. Öffentlich tritt immer noch die PDS als „ostdeutsches Sprachrohr“ auf und lässt damit ein „schiefes“ Bild vom kritischen Ostdeutschen entstehen, obwohl auch sie sich als Partei mittlerweile problemlos ins Parteienspektrum der Bundesrepublik einreihen lässt.
Die Enttäuschung über das Ausbleiben der inneren Einheit wandelt sich – zumindest im Osten – in nüchterne Realität und eine erste Ahnung davon, dass das westdeutsche Erfolgsmodell an seine Grenzen gestoßen sein könnte. Dieser Erkenntnisprozess war schmerzhaft, aber letztendlich befreiend. Der Mehrheit der Westdeutschen steht er noch bevor. Der erfolgsverwöhnten Mentalität der Westdeutschen wird es dann auch wenig nützen, kurzsichtig die Schuld an allem den Ostdeutschen zu geben. Der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler analysiert die Situation folgendermaßen:
Geht es jetzt, wahrscheinlich unabwendbar, um tiefgreifende Veränderungen, sperrt sich diese Erfolgsmentalität gegen solche Eingriffe, da sie offenbar schmerzhaft sind. So verwandelt sich die Selbstsicherheit der Erfolgreichen in eine Bürde, die Umstellung und Innovation verhindert. (Wehler 2000: 201)
Die Ostdeutschen waren, sind und werden gewaltigen Transformationen ausgesetzt. Sie haben die Veränderungen in ihrem Leben mehr oder weniger erfolgreich nutzen können. Sie haben alle – Verlierer wie Gewinner – in diesem Prozess ein riesiges Erfahrungspotential sammeln können, bzw. müssen. Dieses sollte angesichts der gesamtgesellschaftlichen Situation in Deutschland und deren notwendigen Veränderung zum Positiven nicht nur nicht unterschätzt, sondern zum Wohle aller genutzt werden.
Die verständliche Neigung, unangenehme Einsichten
beseite zu schieben, wird jedoch zum sehr realen Risiko, wenn es darum geht,
unerschrocken und experimentierfreudig nach besseren Lösungen zu suchen. Genau
hier kann der besondere ostdeutsche Beitrag zum jetzt bevorstehenden gesamtdeutschen
Reformprozess liegen. [...] Die im Westen verblasste historische Erfahrung,
dass buchstäblich alles auch ganz anders kommen kann, hat sich Ostdeutschen
tief eingebrannt. Und eben darin liegt heute ihr Vorsprung vor jenen, die so
viel Wandel und Umbruch in den letzten Jahrzehnten nicht erlebt haben. Das
ermöglicht eine Haltung der Unverkrampftheit, die experimentelle Veränderung
und mutige Erneuerung überhaupt erst möglich macht. Und genau diese Haltung
brauchen wir jetzt in Deutschland. (Platzeck 2003: 54f.)
Der in New York lebende deutsche Autor Klaus Pohl beschreibt seine Eindrücke über die Menschen aus den neuen Bundesländern, von denen der ehemalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Lothar Späth, einmal gesagt hat „Sie jammern, aber sie kriegen es hin.“ folgendermaßen:
Aber am liebsten habe ich den Osten und die
Menschen dort. So gut wie dort hat es mir lange nicht mehr wo gefallen. Du
kannst beinahe überall anhalten und sagen: Hier bleibe ich für eine Weile.
Überfall triffst du Menschen, die viel zu erzählen haben, die wach sind und
neugierig und die bestimmt etwas Gutes, Neues aus Deutschland machen werden.
(Pohl 1999: 95)
Literatur
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Dieckmann, Friedrich (2003) Was ist deutsch? Eine Nationalerkundung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Engler, Wolfgang (1999) Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land. Berlin: Aufbau
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Ostdeutschen als Avantgarde. Berlin: Aufbau Verlag.
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wir uns nicht leiden mögen... Was Ossis und Wessis voneinander halten.
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Hensel, Jana (2002) Zonenkinder. Reinbek bei Hamburg: rororo.
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Westen was Neues? Ostdeutsche auf dem Weg in die Normalität. Berlin:
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Westkunst gegen Ostkunst (1999). Berliner Zeitung 26/05/99.
Biographische Angaben
Dr Barbara Gügold unterrichtete Deutsch als Fremdsprache
und Anglistik an verschiedenen Universitäten in der DDR und Polen. Ab 1991
unterrichtete sie an dem Institute of European Studies. Seit 1997 ist sie
als Direktorin des Institute for the International Education of Students in
Berlin tätig. Ihre wissenschaftlichen Fachgebiete sind: Methodik des Fremdsprachenunterrichts,
Mediendidaktik, Literatur im Fremdsprachenunterricht, interkulturelle Orientierung
von Lehre und Forschung, Körpersprache und Fremdsprachenunterricht und die
Analyse und Entwicklung von Lehrmaterialien.