Anwendungsorientierte Textlinguistik*


Am Beispiel von Textsorten, Isotopien, Tempora und Referenzformen

 

 

Eva-Maria Willkop, Mainz

 

 

In diesem Artikel wird anhand einiger ausgewählter Bereiche der Textlinguistik demonstriert, wie sich im Fremdsprachenunterricht eine Textdidaktik konzipieren ließe, die textlinguistische Prinzipien dort fruchtbar macht, wo sie für die Lernenden einen Mehrwert haben, indem sie den Aufbau einer differenzierten Textkompetenz unterstützen. Dabei wird v.a. auf die Bedeutung textanalytischer und vergleichender Ansätze eingegangen.

 

 

1. Plädoyer für den systematischen Aufbau einer Textkompetenz

Ausgangspunkt der in diesem Artikel vorgestellten Überlegungen ist Notwendigkeit, zumindest Lernende, die die deutsche Sprache im akademischen Umfeld (Sokrates-Programm, Studien- und Forschungsaufenthalte) bzw. Berufsfeld verwenden möchten, zu befähigen, Texte[1] größeren Umfangs nicht nur zu verstehen, sondern auch adäquat selbst zu verfassen. Andere Lernende sollten nach meinem Verständnis von Sprachkompetenz zumindest in der Lage sein, längere authentische Texte zu verstehen und im Rahmen einer umfangreichen Textkenntnis richtig einzuordnen.[2] Das setzt aber voraus, dass die Beschäftigung mit Texten verschiedenen Zuschnitts schon in der Grundstufe selbstverständlich ist, damit wie in jedem anderen Lernbereich auch die Textkompetenz progressiv aufgebaut werden kann.

Während man in der Fertigkeitendidaktik (insbesondere beim Leseverstehen) schon lange eine Kombination von bottom-up- und top-down-Strategien fordert und weitgehend auch in den Lehrmaterialien umgesetzt hat, gilt das für grammatische und semantische Phänomene offensichtlich nur sehr eingeschränkt, denn die Textlinguistik mit den drei Grobunterteilungen in Textgrammatik, Textsemantik und Textsortenlinguistik spielt im Unterschied zu Phrasen- und Satzgrammatik oder zur Wortsemantik im Unterricht bzw. in didaktischen Grammatiken und Lehrwerken immer noch eine sehr untergeordnete Rolle; selbst in der Mittel- und Oberstufe findet man oft nur die satzübergreifende Konnektorenbehandlung. Portmann-Tselikas (2000: 840) zeichnet deshalb m. E. ein zu optimistisches Bild, wenn er schreibt: „Die didaktischen Konzepte der Textarbeit sind lerner- , kommunikations- und prozessbezogener geworden, als sie je waren, gleichzeitig sind sie konkreter und relevanter geworden in Bezug auf die Analyse von Texten, ihren Strukturen und ihren sprachlichen Eigenheiten.“ Dies kann ich an den DaF-Lehrmaterialien nur in Ausnahmefällen nachvollziehen. Texte werden nach wie vor nicht als vielschichtige, komplexe Ziel-Objekte des Sprachunterrichts betrachtet, was sich auch z.T. bis in die Oberstufe hinein an der selten textorientierten Fehlergewichtung zeigt.

Gemeinhin unterscheidet man die folgenden textlinguistischen Bereiche:

·       Kohäsion (» Textsyntax) mit Phänomenen wie Referenz (Anaphora etc., Funktionale Satzperspektive, Thematische Progression), Konnexion, Tempus und Ellipse

·       Kohärenz (» Textsemantik) mit Isotopien (lexikalisch-semantische Netze), Makrostrukturen (textthematische globale Textbedeutung) und Schemata (psycholinguistische Verarbeitungsstrukturen)

·       Textsorten (Typologie von Texten, Beschreibung von Textmustern): deskriptive und kontrastive Aspekte von Textsorten, fach- und allgemeinsprachliche Textsorten etc.

 

Für Portmann-Tselikas stellt die Textlinguistik „Wissen zur Verfügung, auf das informierte Textarbeit angewiesen ist“ (2000: 840). Wenn man jedoch an den (DaF-)Unterricht denkt, wie er sich in Unterrichtsmaterialien niederschlägt, dann wird man nur wenige der aufgeführten Phänomene wie Artikel, Konnektoren und Textsorten wiederfinden, und wenn, dann werden diese ausgesprochen selten zentral und umfassend behandelt.

In den DaF-Materialien ist die Behandlung textlinguistischer Phänomene zudem in der Regel einzelsprachlich orientiert, kontrastive Aufgabenstellungen werden in den meist für einen internationalen Markt konzipierten Lehrmaterialien allenfalls angeregt, nicht aber wirklich didaktisiert. Sowohl in sprachlich homogenen wie in heterogenen Gruppen sollten die Lernenden, aber auch die Lehrkräfte eine größere Sensibilität für sprach- und kulturspezifische Unterschiede auf Textebene erwerben.[3] Das macht es m.E. erforderlich, den Lehrkräften Hilfestellungen oder zumindest Anregungen für die Umsetzung der Textlinguistik in zielsprachliche wie in kontrastive Aufgaben zu geben, damit sie die (Sprach-)Aufmerksamkeit ihrer Lernenden auf diesen sehr wichtigen Sprachbereich lenken können.

Oft ist es ein langer Weg, der zur eigenen L2-Textproduktionskompetenz führt, insbesondere wenn auch in der Muttersprache diese Kompetenz nicht unbedingt vorauszusetzen ist. Dies ist v.a. in vielen Untersuchungen zum Schreiben im universitären Bereich herausgestellt worden (vgl. stellvertretend Portmann-Tselikas 2001) und erfordert eine eigene Textdidaktik, denn in solchen Fällen ist es noch weniger als sonst mit „normalen“ Fehlerkorrekturen und unspezifischen Schreibaufgaben getan.

Das Wort Textdidaktik wird hier bewusst verwendet, denn eine Schreibdidaktik ist schon zu stark auf den eigentlichen Produktionsprozess hin ausgerichtet und könnte den Umstand vernachlässigen, dass der eigentlich wichtigste Schritt das Verstehen oder – weniger kognitiv – das Erfassen davon ist, was einen Text ausmacht, was ihn zu einem guten Textexemplar macht und als verwertbares Muster ausweist. Solange kein Verständnis von Texten aufgebaut ist (Notizen zum Leseverstehen belegen zum Beispiel, das dies oft ein Problem ist), dann lässt sich auch kein verlässliches Schema von bestimmten Textsorten als Muster entwickeln, an dem sich die Schreibenden orientieren können. Hier setzt meines Erachtens eine zunächst analytische Textdidaktik an, die mit Makrostrukturen, Referenzverbindungen etc. gute Werkzeuge hat, verschiedene Ebenen eines konkreten Einzeltextes, aber auch der Texthaftigkeit an sich aufzuschließen.

Ein so geschärfter Blick für die Vielschichtigkeit der Textualität eröffnet neue Perspektiven, schafft aber auch Barrieren oder Frustrationen, wenn sich die Lernenden überfordert fühlen. Entsprechend den Vorschlägen der Schreibdidaktik sollten deshalb auch bei einer analytischen Textdidaktik zunächst Komponentenaufgaben – und zwar insbesondere Analyseaufgaben – im Rahmen eines prozessorientierten Ansatzes eine Isolierung der komplexen und interagierenden Prozesse ermöglichen. Wenn sich die Lernenden mit Textphänomenen vertraut gemacht und Teilprozesse einzeln trainiert haben, ist eine langsame Zusammenführung in komplexen Aufgaben möglich (z.B. zu Referenz und Isotopien, die im Normalfall zusammenspielen, oder zu Referenz und Thema/Rhema-Progression).

In Lehrwerken wie in Übungsgrammatiken neueren Zuschnitts wird eine solche Aufgabenprogression mit textgrammatischen Phänomenen zum Teil versucht (vgl. Willkop, im Druck), aber dennoch gehen v.a. die Grammatiken selten über die erste Stufe, nämlich phänomenisolierende Übungen hinaus, um vorgeblich bewusst die Lernenden von Funktionsfragen zu entlasten und eine scheinbar eindeutige Beurteilbarkeit („das ist falsch...“) zu ermöglichen. Thurmair, die an sich ein großes Interesse an einer Textgrammatik für Deutsch als Fremdsprache konstatiert, muss feststellen, dass „die Einbeziehung textgrammatischer Erkenntnisse in systemgrammatisch oder funktional konzipierte Grammatiken kaum erfolgt“ (vgl. Thurmair, im Druck, Kap. 4).

Auch im konkreten Unterricht sind textlinguistische Aufgaben meiner Erfahrung nach selten, insbesondere wenn man den universitären Rahmen verlässt. Woran liegt das? Ich sehe hierfür verschiedene Ursachen:

·       Unsicherheit der Lehrenden: Die meisten Lernenden haben selbst in ihrer Ausbildung keine oder nur unzureichende textlinguistische Kenntnisse erwerben können. Ihre Scheu vor dem Thema ist daher verständlich, hier könnte allenfalls eine Fortbildung Abhilfe schaffen.

·       Angst vor Überforderung der Lernenden: Viele textlinguistische Themen lassen sich nicht „unter der Hand“ behandeln, sondern erfordern eine gesonderte und intensive Auseinandersetzung. Die Lehrkräfte vermeiden diese Mühe mit dem Verweis auf die ohnehin meist knapp bemessene Unterrichtszeit, in der sie sich auf die sprachlichen Kernbereiche konzentrieren müssen. Dies ist als Argument durchaus verständlich, aber wieso gehört der Text – immerhin die normale Erscheinungsform von Sprache, nicht das Wort oder der Satz – nicht zum Kernbereich?

·       Weitergelten des traditionellen (bottom-up) Unterrichts: Auch wenn die Sprachdidaktik schon lange eine veränderte Vermittlungsweise z.B. von Lese- und Hörstrategien (weg vom reinen Detailverstehen), aber auch von Grammatik (weg von ausschließlich deduktiver Herangehensweise hin zu hypothesengeleitetem Erschließen) fordert, so hat sich doch oft in den Klassenräumen nicht viel geändert. Wenn überhaupt mit „neuen“ – meist bereits ein bis zwei Jahrzehnte alten – Ansätzen gearbeitet wird, so wird doch sicherheitshalber nach dem kursorischen Lesen noch mal „richtig“, also Wort für Wort gelesen, um auch ja kein unbekanntes Wort auszulassen. Ebenso wird eine vielleicht sogar sehr schöne und einfache Grammatikerklärung, die von den Lernenden induktiv gefunden wurde, „gefestigt“ (und damit korrigiert) durch den Nachschlag einer „korrekten“ Regel. So ist es nicht verwunderlich, dass der Text, der sich über Textualitätskriterien wie Kohärenz definiert und damit gewissermaßen unkontrollierbar ist, nämlich nicht richtig oder falsch, sondern allenfalls gut oder schlecht „getextet“ ist, als schwieriges Unterrichtsthema gilt.

 

Dieser Beitrag möchte dennoch versuchen, ein wenig mit dem Vorurteil, Textlinguistik sei zu schwer oder überflüssig, aufzuräumen. In Willkop (2001) habe ich die zentralen Bereiche der Textlinguistik ausführlicher als hier möglich dargestellt und jeweils angegeben, inwieweit an eine Umsetzung im Fremdsprachenunterricht (Deutsch als Fremdsprache) gedacht werden könnte. Im Folgenden soll dies am Beispiel von Textsortencharakteristika, Isotopieketten, Tempusgebrauch und Referenz näher ausgeführt werden, wobei ich absichtlich die „normale“ Reihenfolge ändere.

 

2. Musterbildung im Kontext und im Kontrast: Textsorten

Ich möchte top down mit der umfangreichsten und gleichzeitig abstraktesten textlinguistischen Einheit, den Textsorten, beginnen.[4] Thurmair (i. D.: Kap 3.4.) definiert Textsorten als „Klassen von Texten (...), die als konven­tionell geltende Muster bestimmten (komplexen) sprachlichen Handlungen zuzuordnen sind. (…); jede Textsorte lässt sich also als Kombination von Merkmalen verschiedener Art beschreiben und von anderen Text­sorten abgrenzen.“ Das klingt zunächst sehr strukturorientiert, aber in der Textlinguistik herrscht Einigkeit darüber, dass Textsorten historisch gewachsene, gesellschaftlich verankerte und veränderbare Einheiten darstellen, die Teil des Alltagswissens sind, und dass zu einer Textsortenkompetenz sowohl das Wissen um typische Strukturmerkmale als auch um die Funktionen und Zielsetzungen gehört (vgl. Simmler: 1997; Thurmair: im Druck).[5]

Nun gehören bestimmte Textsorten zum Zertifikatskanon, und daher ist es in den heutigen Lehrwerken schon ab der Grundstufe üblich, Textsorten implizit (z.B. in Tangram) oder explizit (wie in Moment Mal) zu behandeln. In der Mittelstufe bauen neuere Lehrwerke, insbesondere EM (im Haupt- und besonders im Abschlusskurs), systematisch eine differenzierte Textsortenkompetenz auf. Dennoch kann die Beschäftigung mit Textsorten nur zum Teil als textlinguistisch basiert eingestuft werden, denn meist werden strukturelle Charakteristika (wie beim Privatbrief Datum, Anrede in der Überschrift, Anredeform im Text und Briefschluss) in den Vordergrund gestellt, funktionale Aspekte aber kaum erwähnt, schon gar nicht kulturspezifische Vergleiche[6] angestellt. Dabei könnten schon in der Grundstufe einfache Textsorten wie z.B. Lebensläufe (vgl. Mißler/Servi/Wolff 1995) interessante Aufschlüsse über gesellschaftliche Unterschiede geben.

M.E. völlig zu Recht moniert Hufeisen (1997: 216), dass Texte zwar als Ausgangspunkt für Grammatik oder Leseverstehen genommen werden:

Die Texte selbst – als Vertreter eines kulturspezifischen Textsortenmusters – werden jedoch praktisch nie Gegenstand der Analyse (…). Vereinzelt findet man Texte in DaF-Lehrwerken, die als Muster zur eigenen Textproduktion dienen, wie z.B. Briefe, Lebensläufe oder Bewerbungen. In der Regel werden sie jedoch nicht in Bezug auf ihre Systematizität und Kulturspezifik hin erklärt und den Lernenden deutlich gemacht. Dies wäre aber m.E. eine notwendige Bedingung für eine bewusst und kompetente fremdsprachliche Textproduktion.

 

Hufeisen (1997: 217) sieht in der Analyse eigenkultureller Texte sogar den ersten Schritt der Textarbeit. Das erscheint mir aber nur in heterogenen Gruppen möglich zu sein und empfiehlt sich nicht unbedingt als Einstieg. Wichtiger scheint mir, dass bei eigen- und fremdkulturellen Textsorten die Frage der Intertextualität, also von Vergleichstexten bzw. Vergleichstextsorten von großer Bedeutung ist. So sind Einzeltextsorten immer von parallelen Textsorten abzugrenzen oder oftmals auch komplementär vernetzt zu interpretieren. Die Aufteilung von bestimmten Funktionen auf bestimmte Textsorten in einem „Textsortenbündel“ kann dabei von Kultur zu Kultur variieren. Einige der neueren Lehrwerke tragen diesem Umstand endlich Rechnung, z.B. Moment Mal, das die Textsorte Lebenslauf zusammen mit ihren Komplementärtexten Anschreiben und Bewerbungsgespräch behandelt (ähnlich Auf neuen Wegen).

Was in den Lehrwerken gemeinhin fehlt, ist der explizite kontrastive Vergleich von Einzel- oder Komplementärtextsorten. Es kann jedoch erhellend sein, im DaF-Sprachkurs ein indianisches Märchen, das so gar nicht dem „bei uns“ (Europa, Vorderasien etc.) üblichen Aufbau entspricht, anzusehen und herauszufinden, warum das für bestimmte Kulturen kein Märchen ist: Im Kontrast treten bestimmte Charakteristika der mutter- oder der fremdsprachlichen Textsorte klarer heraus, so dass sich die Analyse für linguistische Laien eher vereinfacht, nicht verkompliziert.

Kleintextsorten wie z.B. Annoncen oder Beipackzettel sind vergleichsweise oft von der Textsortenlinguistik untersucht worden. Ich möchte am Beispiel der Todesanzeige[7] exemplarisch zeigen, wie die Arbeit mit Kontrasttexten eine textlinguistische Vereinfachung darstellt. Dabei kommt es mir nicht auf eine linguistische Textsortenanalyse an (vgl. dazu z.B. Eckkramer 1996), sondern auf einen impressionistischen Vergleich, wie er im Unterricht ablaufen könnte.

Normalerweise würde man in einem Lehrwerk ein Einzelexemplar einer Textsorte finden wie z.B. hier. Man würde als Textsortencharakteristika das visuelle Symbol Kreuz, den initialen Sinnspruch, die sehr persönlichen, an den/die Verstorbene/n gerichteten Worte des Abschieds und die Angaben zur Beerdigung herausarbeiten. Als Interpretation könnte man vielleicht vermuten, dass die Deutschen christlich sind, ihre Trauer offen zeigen und andere daran teilhaben lassen. Viel mehr ließe sich aber nicht ableiten, zumal es sich nur um einen einzigen Text handelt. Als Lehrkraft kann man natürlich versuchen, ähnliche Texte in den Unterricht mitzubringen, um wie hier[8] einen Kontext für die Bildung eines Musters zu schaffen. Im Überblick scheinen sich einige Beobachtungen nicht zu bestätigen (man wird doch nicht immer eingeladen, keineswegs werden immer nur Vornamen verwendet). Als dominantes Charakteristikum bleibt nur die Darstellung persönlicher Gefühle übrig (z.B. die persönliche Betroffenheit, sogar bei einer eher formellen Anzeige eines Verlags oder eines Regisseurs für einen Autor/eine Schauspielerin).

Deutsche und britische Todesanzeigen in überregionalen Tageszeitungen unterscheiden sich so wenig, dass eine vergleichende Analyse für linguistische Laien keinen großen Mehrwert verspricht. Daher ist es interessanter und ergiebiger, das Herausarbeiten realer oder vermeintlicher Gemeinsamkeiten über Kontrasttexte aus anderen Sprachen zu versuchen. Wenn man z. B. spanische Einzelanzeigen oder Zeitungsseiten[9] mit den Deutschen vergleicht, bekommt plötzlich der Aspekt der Religiosität einen anderen Charakter: Bei den Deutschen werden keine Formeln wie „Er ruhe in Frieden“ verwendet und auch keine Gebete für die unsterbliche Seele (mehr) eingefordert.[10] Die deutschen Texte erscheinen individueller und weniger ritualisiert als die Spanischen, auch im gesamten Sprachduktus. Bei ungefähr gleichen strukturellen Charakteristika finden sich also recht deutliche Unterschiede in der Textkonzeption und -funktion. Trotzdem wirken die spanischen Texte (auf Deutsche zumindest) wesentlich akzeptabler als die französischen Texte (einzeln, im Kontext)[11], bei denen der Sprachduktus eher abweisend und verschlossen wirkt, ebenso wie die langen Aufzählungen vor der Nennung des Namens des/der Toten oder der Umstand, dass die Todesanzeigen direkt nach der Kleinanzeigentextsorte für Verlobungen platziert ist: Ohne die sozialen Hintergründe zu kennen, kann hier der Vergleich leicht ins Stereotyp abgleiten, aber genau das Erkennen dieser Gefahr kann hilfreich sein, um für die Kulturgebundenheit von Textsorten zu sensibilisieren und zu einer weiteren, nachforschenden Beschäftigung mit dem Thema anzuregen. Nehmen wir daher als letztes Beispiel einen etwas weiter weg liegenden Kulturkreis hinzu und vergleichen wir die deutschen mit kenianischen Anzeigen (einzeln und im Kontext)[12]: Wenn man zunächst die Zeitungsseite überfliegt, könnte man meinen, es handle sich um eine Seite mit Heiratsannoncen: In jeder Anzeige wird ein großes und z.T. sogar fröhliches Bild des/der Verstorbenen abgedruckt. Insgesamt sind die Gemeinsamkeiten zur deutschen Textsorte eher gering: Nur die Beerdingung und die Sinnsprüche gleichen sich, aber die deutschen Texte markieren die Textsorte nicht extra durch eine Überschrift (die einzige Anzeige ohne Einladung zur Beerdigung trägt auch einen anderen Titel). Auch findet sich eine lange Auflistung der Hinterbliebenen, gegen die sich die Listen in den französischen Anzeigen kurz ausnehmen. Und während dort der Verwandtschaftsgrad angegeben werden konnte, so ist es in Kenia offensichtlich zudem wichtig, die soziale Stellung und weite Verzweigung der Familie zu dokumentieren.[13]

Auch aus dem, was deutsche Todesanzeigen nicht ausdrücken, lassen sich also Rückschlüsse auf die gesellschaftlichen Verhältnisse ziehen. Dabei war die bei isolierter Analyse getroffene Feststellung, dass die Deutschen ihre Betroffenheit sehr öffentlich zeigen, sicher nicht falsch; der Vergleich mit anderen Kulturen erweitert jedoch den Blick. Und jetzt – mit viel mehr Informationen im Hintergrund – kann vielleicht auch ein Vergleich britischer und deutscher Anzeigen zu aussagekräftigen Ergebnissen führen.

Um die gesellschaftliche Funktion von Textsorten in einem komplexeren Zusammenhang zu sehen, könnte man Komplementärtexte, in diesem Fall je nach Kultur vorhandene und mehr oder weniger ritualisierte Textsorten wie Kondolenzbriefe, Grabreden oder Wehklagen, oder auch parallele Kleintextsorten wie Geburtsanzeigen oder Heiratsannoncen heranziehen, wobei hier ein schönes Kontrastbeispiel die indischen Anzeigen wären mit Kastenunterschieden, Trennung nach ledig und verwitwet, Angabe der Vermögensverhältnissen und v.a. Suche durch die Familie oder Vermittler, nicht die Zielperson selbst.

Bei umfangreicheren Textsorten, auch im wissenschaftlichen Bereich, machen sich kulturelle Einflüsse ebenfalls bemerkbar.[14] Es ist für den Bereich der akademischen Textproduktion vielfach beschrieben worden, dass ausländische Studierende ihre z.T. fachspezifischen Texte nach anderen kulturellen Mustern verfassen und dass dadurch durchaus Probleme im Studium erwachsen können (vgl. Portmann-Tselikas 2001). Ob es sinnvoll oder notwendig ist, dass die Studierenden ihren Wissenschaftsstil dem deutschen völlig anpassen oder dass umgekehrt deutsche Dozenten/innen sich mit anderen Wissenschaftsstilen auseinandersetzen und diese berücksichtigen sollten, das kann hier nicht diskutiert werden, der Wechsel der Perspektive zeigt aber, dass sowohl im Unterricht als auch in der Hochschuldidaktik für Deutsche textlinguistische Elemente dringend integriert werden müssten.

Die Arbeit mit Kontrasttexten – aus verschiedenen Sprachen und Kulturen, soweit verfügbar – kann auch hier wegen der hohen Strukturiertheit akademischer Textsorten unabhängig von den sprachlichen Vorkenntnissen eingesetzt werden, um den Lernenden (oder Dozenten/innen) den Zugang zu Textsortenanalysen zu erleichtern und von der linguistischen Fracht zu entlasten. So zeigt z.B. ein Vergleich von Inhaltsverzeichnissen anschaulich, dass deutsche Seminar- oder Ma(gi)sterarbeiten im Durchschnitt einen weitaus umfangreicheren Hauptteil mit mehr Untergliederungen aufweisen als es in vielen anderen Ländern üblich ist, wo eine Arbeit symmetrisch(er) aufgebaut sein muss und die Teile gleiche Gewichtung erhalten. Ein scannender Vergleich vom Aufbau eines Kapitel oder einer Seite zeigt, welche Sprachen „digressiver“ sind als andere, welcher Umgang mit der Sekundärliteratur gemacht wurde (direkte Zitate, Quellenangaben) und wie stark die bisherige Forschung Berücksichtung gefunden hat (Umfang der Bibliographie).

Einige der Hauptprobleme, die ausländische Studierende bei der Erstellung eigener Arbeiten haben, können so quasi induktiv durch Musterbildung an eine Lösung herangeführt werden; sogar ohne die Sprache der Kontrasttexte zu kennen, kann man durch erkennbare textsortenspezifische Signale tentative Vergleiche anstellen, die dann für die Zielsprache vertieft werden können. Auch im Rahmen einer interkulturellen Hochschuldidaktik könnte die Arbeit mit Kontrasttexten Hochschullehrern/innen vor Augen führen, mit welch unterschiedlichen Wissenschaftsstilen und -traditionen sie konfrontiert werden.

Natürlich können und sollen eher laienlinguistische Vergleiche im Unterricht nicht mehr erreichen, als eine Musterausbildung zu initiieren oder auch nur eine prinzipielle Sprachaufmerksamkeit zu wecken. Mit dieser „Technik“ kann nicht herausgearbeitet werden, dass z.B. die „Digressionen“ oder Exkurse im Deutschen textfunktional sind (Clyne 1987, 1991) oder welche wesentlichen Unterschiede es bei den Makrostrukturierungsprinzipien etwa zwischen dem Deutschen und dem Englischen gibt (vgl. z.B. Baumann 1999: 276). Auch über die textthematische Entfaltung und andere textkonstituierende Verfahren wie z.B. typische Formulierungsmuster ist nichts gesagt. Dennoch kann der Einstieg über eine textlinguistische Analyse einfacher, aber hoch strukturierter Klein- und Großtextsorten durch kulturkontrastives Arbeiten durchaus zu einer komplexen und spannenden Einheit ausgebaut werden, je nach Sprachniveau und Interesse. Und die Bereitschaft der Lernenden und der Lehrkräfte, sich eingehender mit Texten zu beschäftigen, steigt in dem Maße an, als durch solche Unterrichtsphasen der Nutzen dieser Anstrengung erfahrbar gemacht worden ist.

 

3. Semantische Netze als Orientierungshilfen:  Isotopien

Ein bisher im FU noch fast völlig unentdecktes textlinguistisches Phänomen ist die Isotopie. Das liegt sicher auch daran, dass erst in den letzten Jahren wieder begonnen wurde, mehr und systematischer Wortschatzarbeit zu betreiben, aber neben eher kategorisierenden oder gruppierenden Verfahren der lexikalischen Semantik und Wortbildungssemantik haben sich kontextuelle Erschließungsverfahren nur sehr zögerlich durchgesetzt. Auch geht es bei diesen Techniken in erster Linie um das konkrete Wortverständnis im Text, nicht um das Verstehen größerer textueller Zusammenhänge über die Vernetzung von Einzellexemen.

Zunächst eine kurze Beschreibung des Konzepts: Nach Greimas (1971), der den Begriff der Isotopie für die Linguistik geprägt hat, versteht man darunter ein semantisches Netz zwischen Lexemen im Text. Gemeint ist – zumindest in der Weiterentwicklung des Ansatzes (vgl. Heinemann 2000) – also nicht die im FU für Wortschatzarbeit herangezogene Wortfamilie oder das lexikalische Feld, sondern ein reines Textphänomen. Isotopien entstehen dadurch, dass bestimmte semantische Merkmale sich wiederholen („Merkmalsdominanz durch Semrekurrenz“) und dadurch einen roten Faden knüpfen. Das kann sowohl die wörtliche, denotative Bedeutung als auch die eher subjektive konnotative Bedeutung betreffen. Je mehr Isotopie-Ebenen sich in einem Text finden, desto komplexer ist der Text durch die Überlappungen der Ebenen: Oft findet sich dann ein Wort auf zwei oder gar mehr Ebenen wieder, wenn es sich um einen metaphorischen Text handelt. Linguistisch gesehen kann man mit Kallmeyer et al. (1986) drei Typen von Isotopie-Ebenen unterscheiden:

a)      Monosemierungsebene: Diese Isotopie besteht in der Regel zwischen zwei Lexemen und löst meist eine lokale Polysemie auf (wie z.B. Schloss – Spiegelsal / verrostet). Diese Ebene kommt im Unterricht häufiger zum Einsatz, um das kontextuelle Erschließen zu erleichtern.

b)     Spezifizierungsebene: Spezifizierungsebenen kennzeichnen die inhaltlichen Stränge eines Textes. Diese Ebene ist im Fremdsprachenunterricht bisher noch kaum vertreten, außer es geht um die Erschließung unbekannten Wortschatzes. Da sich die Schlüsselwortmethode (verstanden als gezielte Suche nach textbedeutungskonstituierenden Lexemen) hier nicht weiter entwickelt hat  und im Moment eher als Wortfeldarbeit verstanden wird, gibt es bisher noch keine auf Spezifizierungsebenen basierenden Versuche, das Finden des Textthemas, eine Interpretation einer bestimmten Person oder Situation etc. zu erleichtern.

c)      Komplexe Isotopie: Bei diesem Typ befinden sich Einzellexeme gleichzeitig auf verschiedenen Isotopieebenen, die sich durchaus auch semantisch ausschließen können. (vgl. Kallmeyer et al. 1986).

 

In diesem textlinguistischen Bereich lässt sich eine bewusstmachende Didaktisierung nur schwer vermeiden. Einen möglichen Ansatz hat das Lehrwerk Sprachbrücke gezeigt, das – noch in der Grundstufe – Goethes Gedicht „Über allen Gipfeln ist Ruh’“ mit einem übersetzten japanischen Haiku vergleicht (das sich als Übersetzung einer Übersetzung des Goethe-Gedichts erweist): Hier können – ohne linguistische Termini – die jeweiligen Konnotationen, Stimmungen und Emotionen an bestimmten Wörtern festgemacht und verglichen werden. Im Anfängerbereich kann man allerdings nur eingeschränkt mit dem Isotopiekonzept arbeiten: Als Textsorten würden sich neben Werbe- oder Bekanntschaftsanzeigen („Bär sucht Bienenstock“) allenfalls Zeitungstitel oder Witze, also im wesentlich nur kurze und metaphorische Texte gut eignen. Aber im Fortgeschrittenenbereich könnte im Unterricht Wirtschaftsdeutsch (vgl. Wiegand 1987) ebenso wie im normalsprachlichen Unterricht zumindest die rezeptive Textkompetenz durch Isotopieanalysen ausgebaut werden. Denn nicht nur bei literarischen, metaphorischen oder stark subjektiven Einzeltexten eignet sich ein isotopischer Analyseansatz: In bestimmten Sach- und Fachtextsorten sind Isotopien der wichtigste Kohärenzfaktor (vgl. Langer 1995); gerade Zeitungskommentare – eine nicht gerade seltene Textsorte – können mit diesen „roten Fäden“ spielen. Im Fremdsprachenunterricht sollte dieses Analyseverfahren in erster Linie bei literarischen Texten oder Kommentaren und ähnlichen wertenden Textsorten genutzt werden, um die Einstellung und die Haltung des/der Autor/in besser zu verstehen. Damit erweitert sich das Textverständnis um eine wesentliche Ebene, die über das reine inhaltliche Verstehen hinausgeht, aber auch nicht mit einer Stilanalyse identisch ist.

An Auszügen aus Texten verschiedener Autoren (z.B. Frisch und Schwanitz) haben wir in Auf neuen Wegen zu zeigen versucht, dass sich gewisse Textpassagen, die ohne einen textsemantischen Zugang dem Verständnis z.T. nur schwer zugänglich wären, mit Hilfe einfacher Aufgaben im Sinne einer Isotopieanalyse relativ leicht aufgeschlossen werden können, so dass sich die zentralen Aussagen ohne weiteres ableiten lassen.
Isotopien ermöglichen in der Textproduktion auch einen spielerischen Erwerb von Sprachgefühl. Daher haben wir in Auf neuen Wegen versucht, an verschiedener Stelle diesen textsemantischen Ansatz nach einer Analysephase von Muster(teil)texten auch in Produktionsaufgaben auszuprobieren, da ein spielerisches Übertreiben bei Textsorten wie Werbeanzeige und Liebesroman für die Lernenden nicht nur die Motivation, sondern auch die Anschaulichkeit erhöht.

Auch wenn sich also das Konzept der Isotopie nicht für jede Lernergruppe eignet, so ist es doch nicht einsichtig, warum es so völlig ausgeschlossen wird, zumal man ja von Lernenden bei der eigenen Textproduktion im Bereich „Kreatives Schreiben“ eine diesbezügliche Kompetenz durchaus erwartet.

 

4. Textsignale durch Tempora: Perfekt und Präteritum

Eine detaillierte Beschreibung der Weinrichschen Tempustheorie mit Analysebeispielen haben wir an anderer Stelle (Thurmair/Willkop i.D.) vorgenommen, und ich habe in Willkop 2003 zu zeigen versucht, dass sich auch andere Textsorten als nur literarische Texte bzw. Sach- und Fachtexte insofern systematisch im Tempusgebrauch unterscheiden, als die Tempora diese Textsorten mit charakterisieren und dort jeweils spezielle Funktionen ausüben.

Hier nur ein kurzer Überblick zu Perfekt und Präteritum: Weinrich (1964; 1993/2003) differenziert die Tempora nach Perspektive und Register. Die Perspektive würde eher mit dem allgemeinen Tempusverständnis einhergehen und soll hier ausgelassen werden. Ich konzentriere mich auf das Register: Nach Weinrich signalisieren die Tempora dem/der Leser/in (oder auch den Zuhörenden), welche Rezeptionshaltung er/sie einnehmen sollte. Perfekt als besprechendes Tempus steht für eine gespannte, Präteritum als erzählendes Tempus für eine entspannte Haltung. Von Bedeutung ist auch, dass das Präteritum nicht als Vergangenheitstempus, sondern als Leittempus der erzählten Welt (parallel zum Präsens in der besprochenen Welt) angesehen wird – ein Sachverhalt wird also durch das Erzählen ent-rückt (in der Vorstellung und in der Einstellung), nicht notwendigerweise durch eine zeitliche Distanz. Das Perfekt hingegen drückt in der besprochenen Welt tatsächlich eine aktuelle oder zukünftige Vergangenheit aus, die aber immer für die Gesprächssituation relevant angezeigt wird. Daher sind Perfekt und Präteritum auch nicht bedeutungsgleich oder ohne Bedeutungswandel austauschbar (vgl. näher Willkop 2003).

Die Weinrichsche Tempustheorie ist vergleichsweise leicht zu didaktisieren, wenn man mit gängigen linguistischen Zeit-Ansätzen vergleicht.[15] Auch hier verweise ich auf Thurmair/Willkop (im Druck), wo wir unter anderem Vorschläge für kognitive, prototypische, auditive und visuelle Didaktisierungsmöglichkeiten vorgestellt haben. Im Idealfall sollte eine Beschreibung der Tempora

beim Präteritum „Informationen enthalten zu: Kanal (v.a. monologisch-schriftlich), Verbtyp (Defaulttempus bei Modal- und Auxiliarverben), typische Textsorten (Märchen, Romane, Berichte), Haltung (entspannt-distanziert). Beim Perfekt sind zu nennen: Kanal (v.a. dialogisch-mündlich), typische Textsorten (mündliche Erzählung, Gespräche, Privatbriefe), Haltung (gespannt-aufmerksam).“ (Willkop, im Druck)

 

Dass sich diese linguistische Unterscheidung von Präteritum und Perfekt (mit Ausnahme der nicht funktionalen Verwendungen des Präteritums bei den Funktionsverben und z.T. verba diciendi) didaktisch reduzieren lässt auf einfache Erklärungen wie Perfekt für dialogische Texte (nicht: mündliche), Präteritum für monologische (nicht: schriftliche), hat schon in den 80er Jahren das Lehrwerk Sprachbrücke veranschaulicht. Dennoch verzichten die meisten Grammatiken und Lehrwerke bis heute auf eine vergleichbare Bedeutungsdifferenzierung. In Übungsgrammatiken ist die Darstellung meist zu vereinfacht, wenn man das Präteritum einfach der geschriebenen Sprache zuweist und für offizielle Schreiben ausweist, das Perfekt hingegen dem mündlichen Sprachgebrauch zurechnet. Ignoriert wird meist die signalgrammatische Funktion, nach der das Perfekt der Leserin oder dem Hörer eine gespannte, aufmerksame Rezeptionshaltung nahe gelegt; bei Präteritum hingegen wird eine entspannte, distanzierte Rezeptionshaltung eingefordert (z.B. im Höflichkeitskontext).[16]

In vielen neuen Grundstufenlehrwerken ist es nicht grundlegend anders. Bei Berliner Platz werden überhaupt keine Verwendungsregeln thematisiert und in Pluspunkt Deutsch, das ebenfalls eher für Kurse mit einer flachen Progression gedacht ist, wird in Band 1b immerhin gesagt, dass man über die Vergangenheit im Perfekt spricht und haben und sein mit Präteritum Ausnahmen darstellen. Das lässt vermuten, dass das Schreiben dann auf das Präteritum bezogen werden soll. Das alleine wäre schon fehlerträchtig, aber im selben Kapitel soll zudem in einem schriftlichen Text der Tagesablauf einer Person in die Vergangenheit transportiert werden – im Perfekt. In Dimensionen wird ein vergleichbarer Text in L5 immerhin im Präteritum formuliert, also die Textsortenspezifik berücksichtigt. Dennoch findet sich bei der Einführung der beiden Tempora (L3) kein expliziter Hinweis auf ihre Verwendung und keine implizit veranschaulichende (induktive) Aufgabenstellung, auch wenn im Grammatikanhang mit Verweis auf diese Lektion durchaus funktionale Unterschiede beschrieben werden.

Seit Sprachbrücke hat sich also leider in der Grundstufe nicht viel weiter entwickelt. Im Fortgeschrittenenbereich sieht es bei den neueren Lehrwerken, seltener in den Übungsgrammatiken, schon besser aus: In Unterwegs, Em (ebenso wie in der Begleitgrammatik) und in Auf neuen Wegen wird in unterschiedlichem Umfang auf die Tempusregeln eingegangen und auch auf einen Transfer geachtet.

Die Tempusfunktionen sollen nicht aus linguistischer Neugier analysiert werden, nicht das Wissen über Sprache als Struktur steht im Vordergrund, sondern das Verstehen der Tempusfunktion ermöglicht es umgekehrt, Textteile leichter zu identifizieren (Hintergrundinformation im Präteritum, Zusammenfassung im Perfekt oder Präsens etc.) und damit das Textverstehen und später die eigene Textproduktion zu erleichtern.

In der Textdidaktik insbesondere im Fortgeschrittenenbereich muss auch hier der erste Schritt die Analyse am konkreten Text sein. Gute Textsorten für eine Sensibilisierung der Unterschiede zwischen den beiden Tempora durch Analyseaufgaben sind solche, bei denen zwischen eher deskriptiven und eher narrativen, eher monologischen und eher dialogischen Passagen abgewechselt wird. Dazu gehören z.B. Reportagen, Kommentare und auch viele Kurznachrichtentexte, aber auch literarische Texte mit klaren Tempuswechseln. Eine solche textorientierte Arbeit an authentischen Texten findet sich bislang kaum in den Lehrmaterialien (vgl. aber Auf neuen Wegen). Ziel der Beschäftigung mit den Tempora kann für die Lernenden nicht eine linguistische Beschreibung sein, aber Erkenntnisse wie „Aha, hier ist ein Absatz, da ist eine andere Perspektive / da spricht plötzlich der Autor mit uns …“ sind realistisch. Erst in einem nächsten Schritt ist eine Abstraktion der „Regeln“ möglich, die sich aber auch für einzelne Lernende beschränken kann auf den prototypischen Verwendungskern (Präteritum = monologisch, Perfekt = dialogisch) oder auf Merkverse wie Steht im Text ein Verb im Perfekt, dann sei deine Aufmerksamkeit geweckt und Steht das Verb im Präteritum, dann geh mit dem Inhalt gelassen um.

Wenn die Lernenden interessante Tempuswechsel entdeckt und ihre Bedeutung für das konkrete Textverständnis besprochen haben, sollten sie ihr neues Gespür für textuelle Signale auch ausprobieren. Da der Wechsel der beiden Vergangenheitstempora in literarischen Texten ebenso wie in Zeitungstexten oder mündlichen Erzählungen[17] viel mit Spannung und Spannungsbögen zu tun hat, bietet sich z.B. eine Dramatisierung an, um für Anschaulichkeit zu sorgen. So ist – neben anderen Möglichkeiten wie dem Märchen- oder Geschichtenerzählen – unter anderem das Zeitungstheater ein einfacher Weg, über geschriebene Texte als Entlastung auch zu gesprochenen zu kommen und gleichzeitig Intonation oder sogar Körpersprache als parallele verstärkende Mittel einzusetzen, welche die Tempusfunktionen unterstreichen. Dabei können sich die Lernenden an produktionslinguistischen Merkversen orientieren, z.B. Wende das Verb im Perfekt an, dann machst du alle aufmerksam und Nimm beim Erzählen Präteritum, dann entspannt sich bald dein Publikum.

Dieser spielerische Zugang schafft ein (Sprach-)Gefühl für die Unterschiede der Tempora und hilft typische Fehler zu vermeiden. Ein gutes Beispiel für unterrichtsbedingte Fehler sind offizielle Briefe, hier zwei bereinigte Minimalbeispiele aus Emailanfragen:

1)     Guten Tag, ich füllte die Formulare aus und schickte sie ab. Heißt es, dass ich für die Seminare, die ich wählte schon angemeldet bin? Danke im Voraus[...]“

2)     Vor zehn Monaten registrierte ich an der Abteilung für Germanistik der Al Azhar, wo ich als Sprachlehrer berufstätig bin, ein Thema zur Erlangung des Magistergrades.“

 

Sobald schriftlich Vergangenes beschrieben werden soll, tendieren die Lernenden automatisch zum Präteritum, denn sie haben gelernt, Perfekt sei mündlich und allenfalls in – eher umgangssprachlichen – Privatbriefen auch schriftlich erlaubt. Also vermeiden Lernende in einem formellen Schreiben das Perfekt dort, wo es nicht nur erlaubt, sondern sogar unbedingt angebracht wäre, z.B. in einer Bewerbung (Perfekt des Aktualitätsbezugs) oder in einem Beschwerdebrief (fokussierend). Sie wissen nicht, dass immer, wenn der Rezipient involviert werden soll, signalgrammatisch das Perfekt geboten ist: „Ich habe Ihre Anzeige ... gelesen“, „das Bauteil ist nicht mit geliefert worden“, „Gestern hat sich in Sendling ein tragischer Unfall ereignet...“). Insbesondere für die Mittelstufe und Oberstufe sind textuelle Funktionen der beiden Tempora, die mit einer bestimmten Wirkungsabsicht eingesetzt werden, relevant und sollten Bestandteil einer aktiven Textkompetenz werden.

Das Tempussystem ist ein gutes Beispiel dafür, dass auch dort, wo augenscheinlich keine oder nur marginale Unterschiede zwischen Einzelsprachen bestehen, eine textlinguistische Herangehensweise einen Mehrwert erbringen kann. Es gibt natürlich Unterschiede zwischen den deutschen Tempora Perfekt und Präteritum und ihren englischen Entsprechungen (z.B. scheint die Entspannung der höflichen Distanz wie im Deutschen „Wer war der Nächste?“ im Englischen seltener und in anderen Kontexten – nicht im Servicebereich – vorzukommen.) Trotzdem überwiegen die Ähnlichkeiten. Ein interessanter Fall ist der Tempuswechsel zwischen Tempora aus zwei Registern in einem dominant besprechenden oder erzählenden Text. Ein im Deutschen oft untersuchtes Phänomen ist dabei die Verwendung des Perfekts in narrativ konzipierten Zeitungstexten: Es kommt v.a. am Textanfang, in selteneren Fällen auch am Text (oder Textteil-)schluss vor, und hat die Funktion, das Textthema zusammenzufassen, das Thema zu nennen etc. Es signalisiert, dass hier die wichtige Information zu finden ist, die dann in der Narration aufgefächert wird.

Zydatiß (1995: 308) z.B. beschreibt den textfunktionalen Unterschied zwischen den englischen Tempora present perfect und simple past ähnlich und entdeckt beim present perfect unter anderem die Bedeutung „hot news“, d.h. die „Einführung einer ‚Neuigkeit’ mit Hilfe der indefiniten Zeitreferenz, der dann der Übergang zu Formen der past tense folgt“ (1995: 310). Zydatiß bezeichnet das als eine „sehr häufige Variante“ der Kurznachrichten, ohne eine ungefähre Verteilung anzugeben. Nach meinen Beobachtungen kann jedoch im Deutschen diese bereits oben beschriebene Variante als der Prototyp gelten, in den englischen Zeitungstexten ist das nicht der Fall. Hier einige recht willkürlich ausgewählte Initialsätze aus englischsprachigen Tageszeitungen:

(3) WILDCAT strikes started by postal workers in London spread further across the Country yesterday as a huge backlog of letters built up at dozens of mail centres. (The Times, 30. 10. 03, S. 13)

(4) Confirming months of bleak economic news, the European Union’s executive arm reduced its growth forecast for 2003 on Wednesday …“ (Herald Tribune, 20. 10. 03, S. 11)

(5) Senior judges yesterday rejected appeals by ten suspected international terrorists against their indefinite detention. (The Times, 30. 10. 03, S. 16)

(6) A paranoid schizophrenic stabbed a man to death days after discharging himself from a psychiatric unit, a court was told yesterday. (The Times, 30. 10. 03, S. 16)

(7) Their faces caked in coal dust, 11 miners scrambled to safety from their underground tomb in southern Russia yesterday after … (The Times, 30. 10. 03, S. 3)

(8) Stocks were up slightly Wednesday as companies reported generally positive earnings news… (Herald Tribune, 20. 10. 03, S. 11)

(9) A quarterly measure of sales at U.S. companies rose to its highest level in almost four years …“ (Herald Tribune, 20. 10. 03, S. 11)

 

In allen diesen texteinleitenden Sätzen würde in der deutschen Übersetzung tendenziell das Perfekt verwendet, in den ersten drei Beispielen mit Sicherheit. Hier könnte ein kontrastiver Vergleich, z.B. von Tageszeitungen desselben Tages, zeigen, dass allenfalls eine partielle Äquivalenz der Tempora in den beiden Sprachen besteht und dass deutsche Erzählungen – schriftlich oder mündlich – am besten mit einem Perfekt-Aufhänger konzipiert werden.

 

5. Unglückliche Verkettungen: Referenzformen

Bestimmte Bereiche der Kohäsion eignen sich nur eingeschränkt für den Unterricht bzw. nur für ein sehr hohes Sprachniveau, so z.B. eine ausgefeiltere Anwendung der Thema-Rhema-Theorie (Funktionale Satzperspektive) oder die Behandlung von Ellipsenregeln im Unterricht. Andere Bereiche hingegen findet man mittlerweile in fast allen neueren Lehrwerken und Grammatiken. Das gilt insbesondere für die Referenzformen und hier wiederum in erster Linie für die Artikelsetzung und für den Gebrauch anaphorischer Konnektoren (vgl. z.B. Matussek 2003). Dennoch wären auch hier noch weitere Didaktisierungen und eine regelmäßigere Behandlung im FU wünschenswert. Einen wichtigen Schritt geht Dimensionen – ein Grundstufenlehrwerk mit eher anspruchvollen Aufgabenstellungen und steiler Progression. Hier werden schon sehr früh (L5) Referenzformen als Textelemente eingeführt und dabei ist es eine der Aufgaben, den Text in die Muttersprache zu übersetzen und dort die Referenzen zu markieren: Solche kontrastiven Vergleiche führen den Lernenden aus referenzarmen Sprachen anschaulich vor Augen, dass das Deutsche vergleichsweise reich an Referenzformen ist; sie zeigen Lernenden aus referenzverschiedenen Sprachen die Unterschiede auf.

Das Lernende aus artikellosen Sprachen besondere Schwierigkeiten haben, die Wahl der Artikel korrekt vorzunehmen, ist hinlänglich bekannt. Weniger Berücksichtigung hat bisher der Umstand gefunden, dass im Bereich der Referenz – insbesondere bei der Gestaltung von Referenzketten – womöglich auch bei sehr nahen Sprachen Unterschiede bestehen. So hat z.B. Hufeisen (2000: 31) zum kanadischen Englisch festgestellt, dass die explizite Wiederaufnahme (ohne Variation) dort sehr viel häufiger als im Deutschen vorkommt. Das erschwert für Lernende aus Kanada das Verstehen längerer deutscher Texte, führt aber auch zu der Produktion von L2-Texten, die laut Hufeisen von Deutschen als naiv beurteilt werden, wie z.B.: „Jede Kultur hat ihre eigene Vorstellung von Humor. Humor ist abhängig von Normen, die man in seinem Leben lernt. Diese Normen unterscheiden sich von einer Kultur zur anderen. Es gibt auch Unterschiede …“ (2000: 31, unter Auslassung aller Kommentare der Autorin). Referenzidentische Pronomina sind laut Hufeisen ebenfalls selten, aber immerhin noch häufiger als implizite Wiederaufnahmen mit konzeptuell ableitbarer Relation.[18]

Generell wird der Abfolge in Referenzketten viel zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet; dies gilt insbesondere für den Fortgeschrittenenbereich (in der Grundstufe gibt es dem Niveau entsprechend mehr): Z. B. wird in EM wird die Referenz als „Wortkette“ thematisiert und an zwei Absätzen eines Textes auch exemplarisch analysiert, aber es gibt keine Aufgaben zu den Abfolgeregeln. Eine Einsetzaufgabe im Arbeitsbuch zur Referenz ignoriert einfach die Wiederaufnahme einer NP im Text durch Renominalisierung. Ebenso wird für die geforderte Ersetzung der NP in Satz: „Während man sich amüsiert beginnt man, Alltägliches und Selbstverständliches aus der eigenen Kultur aus einer gewissen Distanz zu betrachten. Die Distanz entsteht dadurch, dass man die eigene Kultur …“ nicht erklärt, dass und warum man an dieser Stelle für die Distanz wohl nur das Pronomen diese setzen kann, nicht aber wie in den anderen Pronominalisierungsfällen das Personalpronomen sie. Hier wäre allenfalls noch eine NP mit Demonstrativartikel denkbar, denn nur die Demonstrativa haben die Funktion zu rekodieren, zusammenzufassen und zu einem neuen Thema überzuleiten (vgl. z.B. Weinrich 1993/2003).

Kontextisoliert ist es ausgesprochen schwierig, bei Referenzbeziehung im Text die Wahl der jeweiligen Referenzform zu begründen. Im folgenden Beispiel sind im Anschluss an einen Minimalkontext einige Referenzformen (eher) inakzeptabel, andere akzeptabel:

Kontext: Es war wirklich erstaunlich, zu welchen Leistungen sie fähig war.

(1)    Sie

(2) ? Die
(3) * Diese

(4) ? Die (unglaubliche) Frau

(5)    Diese (unglaubliche) Frau

 

hatte doch tatsächlich in einem Monat drei Artikel geschrieben.

 

Im Unterricht bis in die gehobene Mittelstufe hinein gilt die Alternative (1) als der Standardfall für die meisten Kontexte, so auch diesen. Darüber hinaus haben die Lernenden allenfalls gelernt, dass die wie in (2) umgangssprachlich oder „demonstrativ“ ist (z. B. in Berliner Platz 1), ohne Erklärung und Abgrenzung zu dieser.
Dass ein eher unauffälliges Personalpronomen wie hier sie im Vorkontext nicht (vom selben Sprecher) durch ein fokussierendes Element weitergeführt werden kann ohne Ergänzung einer neuen Information, wissen die Lernenden nicht. Daher können sie erstens nicht verstehen, warum das immerhin standardsprachliche Demonstrativpronomen diese in (3) schlechter als das umgangssprachliche die in (2) passt, warum Satz (5) aber richtig ist (Grund: die NP enthält neue Information, einen neuen Fokus). Zweitens wissen sie nicht, warum die Wiederaufnahme mit einer definiten NP wie in (4) eher akzeptabel ist, wenn man das Adjektiv weglässt (Grund: der bestimmte Artikel kann keine neue Information fokussieren; ohne Adjektiv gilt die alte Information weiter.)
[19]

Eine weitere Lücke in den Lehrmaterialien besteht bei der Wahl zwischen bestimmtem und Demonstrativ-Artikel in mündlichen Texten:

(10a) Sag mal, warst du schon in dem neuen Café am Domplatz? – Welches Café?

(10b) Sag mal, warst du schon in diesem neuen Café am Domplatz? – Welches Café?

 

Linguistisch gesehen kann man den Unterschied der beiden Verwendungsweisen so fassen, dass in (10a) der/die erste Sprecher/in beim Gegenüber voraussetzt, dass die Existenz des Cafés bekannt ist (reine Anaphorik), während er/sie im zweiten Fall unsicher ist, ob diese Annahme korrekt ist: dieser ist hier eine „Kontextualisierungsanweisung“: Wenn der gemeinsame Kontext nicht existiert, erhält das Gegenüber das Signal, dass es Einspruch erheben soll gegen die falsche Annahme (vgl. Auer 1981).

Didaktisch gesehen reicht es aus zu wissen, dass immer dann, wenn der Demonstrativartikel nicht auf den textuellen Vorkontext oder die Situation verweist, eine Bestätigung des gemeinsamen Vorwissens erwartet wird. Die Lernenden sollten für ihre eigene Sprachproduktion lernen, diese Funktion gezielt einzusetzen, da ja gerade im Kulturkontakt Unterschiede in den Wissensbeständen erwartbar sind. Dazu ist es jedoch nötig, dass sie die Unterschiede auch wirklich erfasst haben. Mögliche Didaktisierungen könnten das bekannte Frage-Antwort-Schema zunächst rezeptiv (mit Beispielen wie oben), über Zuordnungsaufgaben oder auch ein Kennenlernspiel („Ich weiß was, was du nicht weißt“ zur Gruppe, zur neuen Stadt etc.) kontextualisiert einführen und einüben.

Sehr vieles erfahren die Lernenden also in den gängigen Unterrichtsmaterialien in der Regel nicht, obwohl sie alle erwähnten Referenzformen erlernen: Insbesondere für die eigene Produktion erhalten sie kaum eine Hilfestellung. Die Verwendungsregeln und die textuelle Bedeutung dieser grammatischen Formen lassen sich auch hier nur aus der Ansicht und Analyse von (Muster-) Texten ableiten, nur durch Vergleiche der verschiedenen Formen untereinander verstehen. Da die Lernenden zunächst ja nicht über ein Sprachgefühl verfügen, müssen sie allerdings erst die Formen im Kontext verstehen. Anregungen für eine möglichst vielseitige (kognitive, mnemotechnische, motorische…) Didaktisierung dieser Phänomene finden sich in Thurmair/Wilkop (im Druck).

 

6. Textkompetenz als Ziel – Textdidaktik als Mittel

Wie hoffentlich gezeigt werden konnte, eröffnet die Textlinguistik noch eine ungeahnte Zahl an Möglichkeiten, verschiedene Zugänge zu Sprachverwendung und Sprachwissen auszuprobieren, Einsichten über andere Kulturen zu gewinnen und sich die Welt der Texte zu erobern. Auch wenn vordergründig dieser Umgang mit Texten als zu zeitaufwändig erscheinen mag, so ist doch deutlich, dass bestimmte Kompetenzen nicht anders vermittelt werden können, bestimmte Fertigkeiten zumindest über das „normale“ Unterrichtsgeschehen nicht erworben werden können.

Es sollte nicht vergessen werden, dass textlinguistische Aufgaben gleichzeitig die Sprachkompetenz global auf vielen Ebenen (Satzbau, Wortschatzvariation etc.) fördern. In die internalisierten Textstrukturen können Wortstellungsphänomene integriert werden, die ansonsten äußerst schwierig zu vermitteln sind; Textdidaktik ist damit auch ökonomisch und lernfördernd.

Die didaktischen Umsetzungsmöglichkeiten der Textlinguistik sind vielfältig, allerdings sollte sich der Zugang nicht auf eine rein formale Beschreibung (Distributionsregeln von Artikeln, Herausarbeiten der wesentlichen Strukturmerkmale einer Textsorte etc.) beschränken: Textlinguistik wird nur dann von den Lernenden als sinnvoll erfahren, wenn der Mehrwert textlinguistischer Aufgaben deutlich ist. Aufbauend auf einer funktionalen Analyse und kontrastiven Vergleichen mit kulturkundlichem Erkenntniswert ist die größte Motivation die Verbesserung der eigenen Texte. Wenn z.B. das eigene Bewerbungsschreiben – eine an sich nicht sehr motivierende Textsorte – nicht nur der im Deutschen üblichen Textsortenkonvention genügt, sondern in einem Bewerbungsspiel um eine Stelle auch überzeugender ist als das der „Mitbewerber“ oder wenn die Erzählung des interessantesten interkulturellen Erlebnisses oder die kommentierende Buchbeschreibung die Zuhörer/innen oder Leser/innen zu fesseln vermag, dann liegt das mit Sicherheit auch an einem geschickten Einsatz textueller Mittel: Spannungsbögen (z.B. durch Tempuswechsel), überraschende Wechsel in der Textdynamik (z.B. durch bestimmte Referenzformen), Perspektivierung und Wechsel von Bericht zu Kommentar (z.B. durch Isotopien) – das Beherrschen dieser Mittel ist auch in der Fremdsprache sinnvoll, wenn man eine differenzierte Textkompetenz als Lernziel ernst nimmt.

Textdidaktik sollte daher unbedingt eine zentrale Rolle in der Sprachdidaktik insgesamt erhalten, sei es als expliziter und essenzieller Bestandteil anderer Didaktiken (Lesedidaktik, Schreibdidaktik, Wortschatzdidaktik und Grammatikvermittlung), sei es als eigener ausgewiesener Bereich.

 

Literatur

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Bibliographische Angaben

1985 Magister an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München in den Fächern: Deutsch als Fremdsprache, Französische Literaturwissenschaft, Deutsche und Vergleichende Volkskunde. 1987 Promotion an der LMU in DaF, Psycholinguistik und Französischer Literaturwissenschaft. 1985-1988 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt "Textgrammatik der deutschen Sprache" unter der Leitung von Harald Weinrich. 1988-1993 DAAD-Lektorin am Fremdsprachenzentrum (CELE) der Universidad Autónoma de México (UNAM), Mexiko-Stadt. Seit 1993 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Forschungs-interessen: Sprachdidaktik; Textlinguistik; Grammatik; Multimedia; Psycholinguistik; Semantik.



* Der folgende Artikel basiert auf einem Gastvortrag "Textlinguistik leicht(er) gemacht - Beschreibung und didaktische Umsetzung ausgewählter Phänomene“, den ich 2002 auf der Konferenz „Focus on Grammar“ in London gehalten habe. Der Vortrag wurde für die vorliegende Publikation grundlegend überarbeitet. Einige der im Vortrag angesprochenen Punkte wurden mittlerweile in Thurmair/Willkop (i.D.) veröffentlicht.

[1] Im Folgenden werde ich mich weitgehend auf schriftliche Texte und Textsorten beschränken.

[2] Dies entspricht nicht der momentan beobachtbaren Tendenz im Fremdsprachenunterricht, sich mit dem Senken der Anforderungen auf den verschiedenen Sprachniveaus auch den Luxus längerer Texte nicht mehr leisten zu wollen.

[3] Auf die Bedeutung textlinguistischer Aspekte bei der Textauswahl für den FU (oder bei der Übersetzung) soll hier nicht eingegangen werden, vgl. dazu z.B. Portmann-Tselikas 2000.

[4] Vergleiche zur Beschreibung von Textsorten allgemein Thurmair 2001, zu schriftlichen Textsorten z.B. Heinemann 2001.

[5] Dass Textsorten allerdings auch im Alltagswissen von Muttersprachlern/innen voneinander abweichen bzw. ganz unterschiedlich definiert werden, zeigt Techtmeier 2000: 121f. So gibt es z.B. bei der Textsorte „Bewerbungsschreiben“, die ja im FU eine wesentliche Rolle sowohl in der Grund- als auch in der Mittelstufe spielt, eine Anzahl von (akademisch gebildeten) Versuchspersonen, die darunter nicht ein einziges Schreiben, sondern die Gesamtheit der Bewerbungsunterlagen versteht.

[6] Die grundsätzliche Kulturgebundenheit von Textsorten ist für den FU zunächst wichtiger als mögliche regionale Differenzierungen, historische Weiterentwicklungen oder subkulturelle Varianten: Diese Aspekte werden vermutlich eher auf einem höheren Sprachniveau Bedeutung erlangen.

[7] Ich ignoriere hier bewusst, dass Tod zu den Tabuthemen des Unterrichts gehört, denn der Umgang mit dem Tod ist ein wichtiges und spannendes Kulturthema.

[8] Aus der Süddeutschen Zeitung, München.

[9] Aus ABC, Madrid.

[10] Ein Rechercheprojekt könnte hier ansetzen: Überregionale Zeitungen kommen aus der Stadt - ist die Provinz christlicher, ist Bayern katholischer …?

[11] Aus Le Monde, Paris.

[12] Aus der Daily Nation, Nairobi.

[13] Man kann den Anzeigen noch weitere interessante Details entnehmen, z.B. eine offensichtlich lange gemeinsame Trauerphase mit „well whishers“, auch bei der Angabe der Todesursache die implizite soziale Kritik (eine bekannte gefährliche Überlandstraße) und einiges mehr. Das würde hier jedoch zu weit führen.

[14] Kulturspezifische Wissenschaftsstile scheinen weniger die naturwissenschaftlichen Fächer mit ihrem nicht kulturgebundenen Untersuchungsbereichen zu beziehen als die andern Fächer mit einem stärkeren Gesellschaftsbezug (vgl. z.B. Baumann 1999: 275). Die meisten der hier aufgeführten Untersuchungen beziehen sich daher ausschließlich auf Texte aus geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern, z.B. Eßer 1997 und Kaiser 2002.

[15] Das jüngste Beispiel von Schumacher (2003) - gedacht als Modell für den DaF-Unterricht – veranschaulicht m. E. sehr klar, dass zeitbasierte Ansätze mit den verschiedensten Relationen zwischen Zeitkategorien (hier: Äußerungszeit, Tempuszeit, Situationszeit, Orientierungszeit) weder in der Beschreibung noch in der visuellen Darstellung für Nicht-Linguisten/innen zugänglich sind, ganz unabhängig davon, wie korrekt sie auch sein mögen.

[16] Die Darstellungen variieren stark und sind durchaus auch schon im Grundstufenbereich recht differenziert wie z.B. in Klipp und Klar; vgl. Willkop, im Druck.

[17] Vergleichbares gilt auch für andere Textsorten wie z.B. Newsgroup-Texte, vgl. Willkop 2003.

[18] Zu Referenzketten und zur Funktion von Nicht-Pronominalisierung und Renominalisierung im Deutschen vgl. Thurmair 2003.

[19] Hilfreich zum besseren Verständnis der Referenzketten ist ein signalgrammatischer Ansatz wie z.B. in Weinrich (1993/2003). Zur detaillierten Weiterentwicklung dieses Ansatzes vgl. Thurmair i.D. und insbesondere 2003.