Literaturvermittlung auf dem Wege
von gestern nach morgen – eine auslandsgermanistische Perspektive
Literaturvermittlung in
der Auslandsgermanistik ist traditionell die Domäne der Literaturwissenschaft,
die allerdings eine Antwort darauf schuldig bleibt, was jemanden zu einem guten
Literaturvermittler macht und worin die besondere Qualität von Lernprozessen
besteht, die Studierende im Laufe der Semester anhand von deutschsprachiger
Literatur machen. Angesichts der Tatsache, dass Literatur als Bildungsgut und
ihr Stellenwert im Curriculum heutzutage nicht mehr so selbstverständlich
akzeptiert ist wie vor Jahrzehnten, sollte sich die Auslandsgermanistik solchen
und ähnlichen Fragen bereitwilliger stellen und offen diskutieren, wie in
künftigen Jahren das studentische Interesse an Literatur wach gehalten bzw. neu
entfacht werden kann.
Ein wichtiger Schritt in
diese Richtung wäre ein Ernster-Nehmen literaturdidaktischer Fragestellungen
und insbesondere der Erforschung von Aspekten der vernachlässigten Lehr- und
Lernpraxis. Es wird dafür plädiert, sich in der Literaturvermittlung künftig
nicht ausschließlich an wissenschaftlichen Kategorien zu orientieren, sondern
diese auch als eine Form ästhetischer Praxis zu begreifen.
Vorbemerkung
Bei dem folgenden Beitrag handelt es sich um die Überarbeitung eines Vortrages, den ich zum gleichen Thema auf der FaDaF-Tagung 2002 an der Ludwig Maximilians Universität München gehalten habe (dieser erscheint voraussichtlich im Mai 2003 in einem Sammelband der Materialien Deutsch als Fremdsprache). Der Abdruck in dieser Zeitschrift erfolgt in der Absicht, mit DaF-Kolleginnen und Kollegen eine ausführlichere Diskussion über eine „zeitgemäße(re) Literaturvermittlung“ zu beginnen. Ausgangspunkt für die Argumentation in diesem Beitrag ist die Situation an vielen irischen und britischen Hochschulen. Sie soll in einem geplanten Folgeartikel für diese Zeitschrift (voraussichtlich in GFL 2/2003) durch weiter führende Überlegungen anhand von konkreten Beispielen aus meiner Lehrpraxis ergänzt werden.
Ich danke an dieser Stelle der National University of Ireland, University College Cork, für finanzielle Unterstützung aus dem Arts Faculty Fund.
1. Versuch einer szenischen Annäherung ans Thema
In einem anderen, aber doch themenverwandten Zusammenhang habe ich letzthin mit einigem Vergnügen ein Mini-Drama geschrieben[1], das sich ein wenig überspitzt mit Aspekten der Auslandsgermanistik auseinander setzt. Es spielt in einer etwas abgetakelten Vorstadt-Kneipe. Bei den beiden Protagonisten handelt es sich um zwei Germanisten, Helmut und Marcel, die als Hoffnungsträger des Fachs dargestellt werden, ansonsten sind noch drei Göttinnen aus der sphärischen Güteabteilung vertreten – sie tragen schwarz-rot-goldene Stirnbänder – und ein Barmann, von dem das Publikum wenig, eigentlich nur einen Hut sieht: à la Goethe in der römischen Campagna. Ein kleiner Ausschnitt, an dem dann weitere Überlegungen entfaltet werden, soll hier genügen. Die beiden Germanisten sind bereits ein wenig angesäuselt und wir blenden an dem Punkt in den Text ein, als Helmut seinem Kollegen Marcel „eine gigantische Frage“ stellt:
HELMUT:
(längere Pause)
Aber,
Marcel, jetzt mal Hand aufs Herz: Was ist ... für dich ... Germanistik?
MARCEL:
Willst du mich jetzt verarschen?
HELMUT:
Nee. Ich mein’ das wirklich ernst.
MARCEL:
(heftig) Literatur, was denn sonst?
HELMUT:
Hä?
MARCEL:
Na, Goethe, Schiller ... äh ... Thomas Mann natürlich und Benn,
Grillparzer und Stifter. Vielleicht auch noch Fontane, Hauptmann ... und auch
Brecht, obwohl ich den gar nicht leiden kann. Frisch? Nichts für mich!
(Göttinnen
tuscheln)
HELMUT:
Lauter alte Männer. Tote!
MARCEL:
Und wenn schon, es geht schließlich nicht ums Alter, es geht um bleibende
Werte, mein Lieber! Um Quaaliiiitäääät!!
HELMUT:
Sag’ mal, wie misst man die eigentlich?
MARCEL:
Tu doch nicht so naiv, das weiß doch jeder Student im zweiten Semester, dass es
da handfeste, objektive Verfahren gibt!
(fragende
Blicke der Göttinnen)
HELMUT
(sehr ernsthaft): Ich glaub, wir lügen uns alle in die Tasche, Marcel.
MARCEL:
Hä? Was ...
HELMUT:
Überleg’ doch mal: die Gameboy-Generation ... Literatur für Klicker und
Flicker? ... Na? ... Na? Klickt’s?
MARCEL
(konfus): Nee.
HELMUT:
Die wollen nicht immer das Gleiche ... öfter mal was Neues. Action. Film sehen,
surfen, cyberchatten und so.
MARCEL:
Wir sind doch kein Kino!
HELMUT:
Was denn?
MARCEL:
Wir sind Forscher. Wir forschen und damit basta. ... Literaturtheorie, was mich
angeht. Alles Andere ... Sprachunterricht, Übersetzen, womöglich noch Aufsätze
... lauter Beiwerk, Randerscheinung ... dünne Luft, verstehst du?
HELMUT:
Verstehe.
2. Thesen und begleitende Kommentare zur Diskussion
Der Dialog weiter oben soll Aufhänger sein für vier Thesen. Diese werden jeweils erläutert bzw. teils auch assoziativ erweitert.
These 1. In der Wahrnehmung vieler Fachkolleginnen
und -kollegen wurde/wird Auslandsgermanistik unmittelbar mit
Literaturwissenschaft assoziiert. Dass damit eine (nur leichte?)
Geringschätzung anderer fachrelevanter, nämlich sprach-, kultur- und
medienbezogener Wissenschaften einhergeht, ist ein Problem. Noch
problematischer allerdings ist die Tatsache, dass das Potenzial
literaturbezogener Disziplinen (muttersprachliche Literaturdidaktik,
Literaturdidaktik DaF, Fremdsprachenpädagogik, Drama-/Theaterpädagogik etc.)
kaum in den Wahrnehmungshorizont gerät und recht selten genutzt wird.
(Kulturspezifische) Fachsozialisation
Professionelle Literaturvermittler haben verschiedene Fachsozialisationen hinter sich und dementsprechend divergierende Vorstellungen von „guter“, weil interessanter, effizienter, anspruchsvoller etc. Literaturvermittlung. Diese Tatsache wirft z.B. folgende Fragen auf, die in der Fachdiskussion kaum gestellt werden und meines Erachtens weiterer Reflexion bedürfen:
·
Welche Voraussetzungen bringen
Literaturvermittler genau mit?
·
Wie und wie gut sind sie auf
ihre Tätigkeit vorbereitet worden?
·
Durch welche
(berufsbegleitenden) Maßnahmen wurde und wird gewährleistet, dass sie diese
motiviert und kompetent ausführen?
·
Wurden sie in einem
deutschsprachigen Land ausgebildet, in dem Land, in dem sie jeweils tätig sind
oder anderswo?
·
Mit welcher (formalen)
Qualifikation war ihre Ausbildung verbunden? Bezog sich diese lediglich auf den
Bereich Forschung oder auch auf den Bereich Lehre?
Aus Forschungen zum Lehrerverhalten ist bekannt, dass die in der jeweiligen Fachsozialisation gemachten Erfahrungen oft nachhaltig weiter wirken. Der im Studium am eigenen Leibe erfahrene Literaturunterricht wird – meist unbewusst – zum Orientierungsmodell für die eigene Lehrpraxis. Diese Tatsache ist wohl am ehesten Literaturvermittlern bewusst, die selber eine Lehrerausbildung absolviert haben, in der besonderer Wert gelegt wurde auf eine Bewusstmachung von Faktoren, die (das eigene) Lehrerverhalten steuern:[2]
Although it may seem that
history is destined to repeat itself and that we do, in fact, teach as we have
been taught, we believe that conscious knowledge of our own histories may help
us to overcome the tendency to imitate, unwittingly, the behaviour of others.
(Bailey et al. 1996, 16)
Eine solche Bewusstmachung ist Voraussetzung dafür, dass alternative Verhaltensmöglichkeiten und neue Vermittlungsformen explizit thematisiert, erprobt und trainiert werden können.
Es ist davon auszugehen, dass Lehrende, die ihre Fachsozialisation beispielsweise in Deutschland durchlaufen haben, mit „deutschen Erwartungen“ (wie immer diese sich äußern mögen) an die Literaturvermittlung heran gehen. Diese Annahme führt weiter zu folgenden Fragen:
·
Inwieweit sollten bzw. können
sie sich überhaupt lösen von der Vorprägung durch das deutsche Hochschulsystem,
inwieweit wollen/können/müssen sie sich einlassen auf die institutionellen
Realitäten im Ausland?
· Bleiben sie innerlich dem deutschen System verhaftet, finden sie für sich einen (erstrebenswerten?) Mittelweg zwischen den Systemen oder erfolgt im Laufe der Jahre gar eine komplette Assimilation des anderen Systems?[3]
Dass es mehr oder weniger starke Differenzen zwischen Hochschulsystemen gibt, ist hinreichend bekannt, weniger aber, dass damit auch kulturspezifische Unterschiede in Bezug auf die Literaturvermittlung impliziert sein können. Studierende, die einen Deutschlandaufenthalt hinter sich haben, werden sich dessen oft bewußt bzw. entwickeln diesbezüglich ein Gespür. Emer O’Sullivan hat eine solche studentische Erfahrung literarisch verarbeitet in der kulturkontrastiv angelegten Kurzgeschichte Deirdre in der Mensa. Hier ein Ausschnitt aus dem Gedankenstrom der Protagonistin, einer irischen Studentin, die an einer Berliner Universität studiert:
Sie hatte ihn vor zwei
Stunden im Canetti-Seminar kennengelernt. Er saß neben ihr und sah, wie sie
‚Die Blendung’ las. Er fragte sie, was sie davon hielte. ‚Ein tolles Buch’,
hatte sie geantwortet, ‚mir hat es Spaß gemacht beim Lesen.’ – ‚Was für ein
Ansatz ist denn das?’ war sein Einstieg in eine ziemlich einseitige Diskussion
über Literaturwissenschaft. Sie hatte am Anfang versucht zu erklären, daß
‚Literary criticism’, wie sie es in Irland betrieben, etwas ganz anderes war:
‚Irgendwie hat es mehr mit dem Genießen zu tun, mit der eigenen Kreativität
beim Schreiben darüber.’ Aber ihre Erklärung schien sinnlos. Die verschiedenen
Literaturtheorien waren zuerst dran ... (O’Sullivan 1984: 108)
Wie gehen Lehrende, deren Fachsozialisation (1. und/oder 2. Staatsexamen, Magister, Promotion, Habilitation etc.) in hohe wissenschaftliche Ansprüche mündete, damit um, dass Studierende kaum in der Lage sind, einen in deutscher Wissenschaftssprache verfassten literaturwissenschaftlichen Text zu „knacken“? Verzweifeln sie? Lassen sie dies ein Problem der Studierenden sein oder etwa von Kolleginnen und Kolleginnen, an die „alles Sprachliche“ delegiert wird? Oder bauen sie den Studierenden Brücken? Wenn ja: Aus welchen und wievielen Bausteinen bestehen diese und wie sind diese aufeinander geschichtet?
Stiefkind Lehr-/Lernpraxis
Auffällig ist jedenfalls, wie wenig konkrete, d.h. didaktisch-methodisch tiefer reflektierte Praxismodelle es für die Vermittlung deutscher Literatur an ausländischen Universitäten gibt.[4] Während es für den Sprachunterricht auf Fortgeschrittenen-Niveau zahlreiche Lehrwerke und -materialien gibt, in denen Autorinnen und Autoren ohne Unfehlbarkeitsanspruch ihre Praxisvorstellungen offen legen, indem sie Lehr-/Lernziele formulieren und didaktische Überlegungen zu Progression, Entwicklung von Fertigkeiten etc. anstellen, scheint etwas Vergleichbares für den Bereich Literatur an ausländischen Universitäten nicht zu existieren. Bisher habe ich jedenfalls vergeblich Ausschau gehalten nach einer Sammlung von literarischen Texten für das erste bis dritte bzw. vierte Studienjahr, denen eine formale, inhaltliche oder anderweitig begründete Progressionsüberlegung zugrunde liegt und in der offen gelegt wird, durch welche konkreten methodischen Schritte man sich über welchen Zeitraum das Erreichen welcher konkreten Lehr-/Lernziele erhofft.
Ungesunde Haltungen und künstliche Gräben
Der zu beobachtende Mangel an Konkretheit in Bezug auf literaturbezogene Lehr- und Lernprozesse hat meines Erachtens mit einer bestimmten Haltung zu tun, die über viele Jahrzehnte kultiviert wurde und sich darin zeigt, dass der Fachgegenstand Literatur oft in eine Nebelwolke gehüllt, zu etwas überlegen Hohem mystifiziert wird. Oft geht eine solche Haltung einher mit einer Arroganz gegenüber Kolleginnen und Kollegen, die sich „nur“ mit Sprachunterricht beschäftigen. Problematisch dabei ist, dass manche Institutionen den künstlichen Graben zwischen Sprach- und Literaturvermittlung noch weiter ausbauen, indem oft vergleichbar qualifizierte Sprachvermittler andere Verträge bekommen, die in der Regel auch niedrigere Bezahlung bedeuten, und mit Forschungsaufgaben nicht betraut werden. Dies führt abteilungsintern nicht notwendigerweise zu offenen Konfikten, schürt aber unter der Oberfläche eine Unzufriedenheit, die letztendlich dem Eigeninteresse der Auslandsgermanistik entgegen läuft. Ziel muss es doch sein, in allen Fachkomponenten gleichermaßen möglichst hohe Standards anzustreben. Im Fach Kunst beispielsweise wird doch auch nicht das Lehrpersonal, das sich in Forschung und Lehre mit Malerei auseinandersetzt, in solcher Weise von Kolleginnen und Kollegen, die im Bereich Skulptur oder Medien tätig sind, hierarchisch abgesetzt.
Diffuse Kategorie Intellektualität
In Fachdiskussionen, die sich auf Literaturvermittlung beziehen, werden meiner Erfahrung nach immer wieder die hohen intellektuellen Leistungen heraus gestellt, die mit dem Studium der Literatur verbunden sind. Wie konkret diese aber im Laufe der Studienjahre sichtbar werden und inwiefern sie sich qualitativ unterscheiden von bzw. gar höher rangieren als intellektuelle Leistungen, die auf sprach-, landeskunde- oder medienbezogene Gegenstände gerichtet sind, wird anhand von Beispielen nicht überzeugend deutlich gemacht. Diesbezüglich Vergleichbarkeit herzustellen wäre auch deshalb schwierig, weil nach wie vor an vielen Universitäten Literaturseminare in der Muttersprache durchgeführt werden, in der auch die Standard-Prüfungsleistung (Literaturaufsatz) erbracht wird. Ein in der Muttersprache verfasster Literaturaufsatz wirkt auf Leser zweifellos im Ausdruck flexibler und anspruchsvoller als ein in der Fremdsprache verfasster Aufsatz, der oft grammatikalische, lexikalische u.a. Schwächen aufweist. Es wäre aber interessant zu erkunden, in welcher Weise sich die mit den jeweiligen Lernerleistungen einher gehenden kognitiven Operationen unterscheiden. Intellektualität scheint mir ein Begriff zu sein, der meist undifferenziert verwendet und manchmal gar absichtsvoll in Nebel gehüllt wird. Ihn insbesondere für literaturbezogene Lehr-/Lernprozesse zu pachten scheint mir allerdings problematisch, zumal er selbst von Literaturkennern nicht immer positiv besetzt ist, wie der folgende Ausschnitt aus Michael Scharangs Preisrede zur Verleihung des Theaterpreises 2002 an Elfriede Jelinek zeigt. Der Redner stellt die Preisträgerin als Vertreterin der ästhetischen Moderne in eine Linie mit Goethe, Nestroy, Musil und Brecht, deren besondere Leistungen er so charakterisiert:
Von ihren systematischen
Expeditionen über die Grenzen der Kunst hinaus brachten sie jene Schätze mit,
die es ihnen ermöglichten, nicht intellektuelle, sondern das Gegenteil:
intelligente Literatur zu schreiben. (Scharang 2002, 1)
Literaturvermittlung in der Muttersprache wird in der Regel mit dem höheren intellektuellen Niveau begründet, auf dem eine Begegnung mit deutscher Literatur stattfinden kann, doch scheint das Für und Wider einer Literaturvermittlung als Fortsetzung des muttersprachlichen Unterrichts in der Fachdiskussion recht ungeklärt zu sein. Tatsache ist aber wohl, dass die Schere zwischen der (mehr oder weniger) beschränkten Fremdsprachkompetenz von Studierenden einerseits und hohen literaturwissenschaftlichen Ansprüchen von Lehrenden andererseits oft ein Frustrationspotenzial birgt, das beiden Seiten zu schaffen macht. Tim Mehigan, der sich kritisch mit Entwicklungen in der US-amerikanischen und australischen Germanistik auseinander setzt, beleuchtet u.a. dieses Problem ein wenig näher. Er stellt mit Bezug auf amerikanische Studierende, die bei Studieneintritt lediglich eine geringe Sprachkompetenz mitbringen, fest, dass
jeder Ehrgeiz, sie mit
den hehren Zielen der Literaturwissenschaft vertraut zu machen, an ihren
unmittelbaren Bedürfnissen vorbei (geht). Die Arbeit mit vordergründig
literaturwissenschaftlichem Anspruch kann also in jedem Fall nur jener kleinen
Anzahl von Studenten gerecht werden, die erst in einem höheren Stadium des
Fremdsprachenerwerbs anspruchsvoller Literatur und damit auch der
Literaturwissenschaft begegnet. Dann scheint der sich auf diese Tätigkeit stützende
‚pure’ germanistische Aufwand freilich weder in einem statistischen Verhältnis
zu den auf dieser höheren Sprachebene noch verbleibenden Studenten zu stehen,
noch mit dem Werdegang der meisten Fachkräfte der Fremdsprachenabteilungen
verträglich zu sein, die erst aufgrund ihrer zum Teil mehrere Jahre währenden
Selbstprofilierung in der – immer noch primär literaturwissenschaftlich
orientierten – internationalen Germanistik zu ihren Arbeitsstellen gekommen
sind. (Mehigan 1996: 144)
Seine Feststellungen führen zurück auf den oben aufgeworfenen Aspekt der Fachsozialisation und der mit ihr verbundenen Erwartungen.
Weiterhin interessant wäre eine Analyse der Berufungspraxis an Universitäten und damit verbunden eine Analyse von Stellenausschreibungen, um einerseits die Bandbreite auslandsgermanistischer Spezialisierungen im Bereich Literatur genauer zu erfassen, und andererseits die in institutionellen Akzentsetzungen deutlich werdende Fachideologie klarer bestimmen zu können.[5] Ich vermute, dass es in der Auslandsgermanistik kaum Stellenausschreibungen gibt, in denen eine Spezialisierung auf Literaturdidaktik, einer Disziplin, die auf die Theorie und Praxis des Lehrens und Lernens von Literatur gerichtet ist, explizit verlangt wird.
These 2. Auslandsgermanistische Curricula haben in der Vergangenheit meist literarische Werke bevorzugt, die zum „risikolosen traditionellen Kanon“ gehören. Obwohl sich hier Veränderungen abzeichnen, scheint es nach wie vor Berührungsprobleme mit „frischer Literatur“ zu geben.
Studierende sind in der Regel primär am heutigen Leben in den deutschsprachigen Ländern interessiert. Sie möchten erfahren, wie die Menschen dort ihr gesellschaftliches Leben organisieren und welche kulturellen Leistungen bzw. Besonderheiten mit diesen Ländern assoziiert werden. Und sie möchten in der Regel die deutsche Sprache so gut lernen, dass sie mit den Menschen in diesen Ländern kommunizieren können.
Dass im Hinblick auf die kulturellen Leistungen im Sprachfach Deutsch der Hauptakzent auf der Literatur liegt, ist gut nachvollziehbar, denn sie liefert Modelle für höchste Ansprüche an die deutsche Sprache, ist Sprachkunst. Aber warum Studierende seit Generationen relativ wenig „frische Literatur“ vermittelt bekommen, darauf gibt es meines Erachtens bislang keine überzeugenden Antworten.[6] Zur Frage des literarischen Kanons wurden von Karl Esselborn Überlegungen angestellt, die ich für einleuchtend halte, besonders in der Betonung einer Curriculum-Planung, die beim Heutigen ansetzt und dann zum Vergangenen führt, um das Heutige tiefer zu verstehen:
Vor allem aber ist zu
berücksichtigen, daß ein realistischer Zugang zur fremden Kultur und Literatur
nur aus der Perspektive der Leser und von der Gegenwart aus, d.h. von den
aktuellen politisch-sozialen und kulturellen Verhältnissen und von der
gegenwärtigen Literaturszene in Deutschland her zu gewinnen ist – so wie die
Sprachvermittlung und die Landeskunde selbstverständlich vom gegenwärtigen
Zustand der Sprache bzw. von der aktuellen Gesellschaftstruktur, Ökonomie, Politik
usw. ausgehen und erst später auch den historischen Hintergrund mit
einbeziehen. (Esselborn 2001: 6)
Mir scheint, dass an ausländischen Universitäten nach wie vor die „frische Literatur“ im Schatten vorheriger Epochen steht. Studierende sind aber meiner Erfahrung nach dankbar für „Frischkost“[7]. Diese zu liefern ist für Lehrende, das sei zugegeben, nicht so einfach, da oft keine bzw. kaum Sekundärliteratur zum Text, der im Kurs bearbeitet wird, zur Verfügung steht. Aber bekanntlich kann auch die Kehrseite Probleme verursachen: Ein Zuviel an Lehrer-Vorwissen führt oft zu einem einseitig lehrerzentrierten Unterricht und kann manchmal die „genuine Begegnung“ zwischen Lerner und Text eher behindern als fördern.
Zu der hier implizierten und sicher umstrittenen Frage nach dem Stellenwert eines (verbindlichen) literarischen Kanons für die Auslandsgermanistik soll hier nicht weiter Stellung genommen werden. Hingewiesen sei aber auf neuere allgemeine Überlegungen zu diesem Thema in der Zeitschrift Literaturen (Horisch 2002; Winkler 2002).
These 3. Heutige Studierende, deren Sozialisation
stark von den neuen (Internet-)Medien geprägt wurde, nehmen
anders wahr als frühere Generationen. Literaturvermittler müssen dieser
Tatsache stärker ins Auge blicken und Formen des Umgangs mit Literatur
entwickeln, die neu ansprechen.
Dass sich im Verhalten heutiger Leser etwas verändert hat, registriert z.B. mit einigem Bedauern der derzeit erfolgreiche amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen. In seinem kulturkritischen Essay „Vielleicht auch träumen“ reflektiert er vor allem über die Schwierigkeiten, mit denen sich Schriftsteller in unserer heutigen Mediengesellschaft konfrontiert sehen. An einer Stelle betont er die
Unvereinbarkeit der
langsamen Arbeit des Lesens mit der hektischen Hypermotorik des modernen
Lebens. Plötzlich kam es mir vor, als würden sich meine einst lesenden Freunde
nicht einmal mehr dafür entschuldigen, dass sie es nicht mehr taten. Eine junge
Bekannte, die Englisch als Hauptfach gewählt hatte, antwortete auf die Frage,
was sie gerade lese: ‚Du meinst lineares Lesen? Wie wenn man ein Buch von
Anfang bis Ende liest?’ (Franzen 2002: 9f.)
Veränderungen im Leseverhalten sind direkt verknüpft mit dem Aspekt einer veränderten Wahrnehmung, den Hans-Thies Lehmann in seiner Darstellung Postdramatisches Theater besonders thematisiert. Seine Feststellungen sollten uns, die wir beruflich mit dem Bereich Literatur (und Theater) verbunden sind, nachdenklich(er) machen, denn zu verdrängen, dass die Literatur mehr ins Abseits gerät und damit die mit ihr verbundenen Wissenschaften, wäre die falsche Variante; wichtig scheint mir hingegen der mit diesem Betrag intendierte Beginn einer DaF-Fachdebatte über die hier angedeuteten Veränderungen und ihre unaufhaltsamen bzw. aufhaltsamen Konsequenzen:
Mit dem Ende der
»Gutenberg Galaxis« stehen Schrifttext und Buch wieder in Frage, die
Wahrnehmungweise verschiebt sich: simultanes und multiperspektivisches
Wahrnehmen ersetzen das linear-sukzessive. Eine oberflächlichere, zugleich umfassendere
Wahrnehmung tritt an die Stelle der zentrierten, tieferen, deren Urbild die
literarische Textlektüre war. Das langsame Lesen droht ebenso wie das
umständliche und schwerfällige Theater, angesichts der einträglicheren
Zirkulation bewegter Bilder seinen Status einzubüßen. Ästhetisch in produktiver
Repulsion und Attraktion aufeinander verwiesen, geraten Literatur und
Theater in den Status minoritärer Praxis. ... Das krampfhaft zu leugnen, wird
immer lächerlicher, es zu reflektieren immer dringender. (Lehmann 2001: 11,
meine Hervorhebung, MLS)
Was mir in Anbetracht einer solchen Situation, wesentlich scheint, ist eine stärkere Betonung von „nicht-linear-sukzessiven“ Zugängen zur Literatur, gerade auch um den ästhetischen Qualitäten von Literatur gerechter zu werden. Literaturvermittlung darf sich nicht auf Vorlesungen und Seminare beschränken, in denen Texte analysiert werden und vor allem eine „Abstraktionskompetenz“ gefördert wird. Das Sprechen und/oder Schreiben über Literatur auf einer Meta-Ebene bedarf der Ergänzung durch Umgangsweisen, die mehr als nur die linguistische und logische Intelligenz anzapfen und beispielsweise auch raumbezogene, körperbezogene, interpersonale und intrapersonale Intelligenzen mit einschließen. Ich denke hier an Howard Gardners (1993) „Multiple-Intelligences“-Theorie, auf die ich mich an anderer Stelle (Schewe 2002), in Zusammenhang mit dramapädagogischen Zugangsweisen zur Literaturvermittlung, bereits bezogen habe und die daher hier nicht weiter entfaltet wird.
Die Auslandsgermanistik benötigt meines Erachtens mehr produktions- bzw. handlungsorientierte „Literaturveranstaltungen“ (Workshops, Lesungen, Schreibwerkstätten, Inszenierungen etc.), in deren Verlauf möglichst unterschiedliche Lernerintelligenzen gefordert und gefördert werden. Veranstaltungen solcher Art sind im muttersprachlichen Deutschunterricht an deutschen Schulen inzwischen recht gängig und haben im Laufe der letzten Jahre auch an manchen Instituten deutscher Universitäten (z.B. Oldenburg, Hannover) an Attraktivität gewonnen, in der Auslandsgermanistik hingegen ist in dieser Richtung bisher relativ wenig geschehen. Meine Mitwirkung an dem an der Universität Cork angebotenen interdisziplinären Studiengang Drama and Theatre Studies hat dazu geführt, auch in der germanistischen Abteilung Module einzuführen, die einen deutlich praktisch-theaterbezogenen Akzent haben, im zweiten Studienjahr unter dem Titel Deutschsprachiges Theater des 20. und 21. Jahrhunderts – Ein praktischer Zugang, und zusammen mit meiner Kollegin Trina Scott im dritten Studienjahr das Modul Texte lesen und inszenieren.[8] Erste Erfahrungen zeigen, dass die Studierenden, obwohl von ihnen großer Arbeits- und Zeiteinsatz gefordert wird, gerne solche Veranstaltungen besuchen, weil sie neu ansprechen und eine Alternative bieten zu einer überholten Umgangsweise mit Literatur, die Florian Vaßen (2001: 156f.) am Beispiel von dramatischen Texten so charakterisiert:
Auch an Universität und
Schule findet in der Regel immer noch und immer wieder eine Reduktion des
Theaters auf Literatur statt, wird der dramatische Text wie ein Roman
interpretiert unter Ausblendung der theatralen Dimension, eine Tendenz, die man
schon in Aristoteles’ Präferenz des Tragödientextes gegenüber der Aufführung
finden kann. Während bei Film- oder Videoproduktionen niemand auf die Idee
käme, allein das Drehbuch zu untersuchen und den Film oder das Video zu
ignorieren, scheint diese Vorgehensweise beim Drama immer noch
selbstverständlich. Diese starke Literarizität ist offensichtlich Folge der
Gattungstradition, der historischen Genese und Situierung sowie der
theoretischen Fundierung von Drama und Theater.
Hingegen werden in den genannten Modulen Dramen nicht als Lesedramen behandelt, sondern als Impuls für szenische Gestaltungen, die immer wieder auf den Text rückbezogen werden.[9] Im letztgenannten Modul arbeiten Germanistik-Studierende beispielsweise an einer Szenencollage, die auf literarischen Texten verschiedener Genres und Epochen basiert. Zugrunde liegt die Absicht, Sekundarschüler/innen der Region, die zu einer Aufführung eingeladen werden, auf lebendige Weise in die deutsche Literatur einzuführen und auf diese Weise ein Interesse am Studienfach Deutsch zu entfachen.[10] Literatur wird hier auch bewusst eingesetzt, um (Fach-)Gemeinschaft zu stiften, Begegnungen zu schaffen zwischen Studierenden, Hochschullehrern, Schülern und Sekundarlehrern.
Noch recht offen scheint mir in der Fachdiskussion zu sein, inwieweit die neuen Medien in der Literaturvermittlung eine Rolle spielen können (vgl. in diesem Zusammenhang allerdings Fußnote 13 und weitere Überlegungen unter Punkt 3.).
These 4. Die an Universitäten weltweit zunehmende
Qualitätskontrolle verstärkt auf Hochschullehrende den Druck, ihre Arbeitsleistung
zu quantifizieren, sprich möglichst viel zu publizieren.[11] Dieser „Zwang zur Forschung“ birgt die Gefahr, dass Lehrende sich
immer weiter in ihr Spezialgebiet einigeln und alles zu vermeiden trachten,
was sie vom (produktorientierten) Forschen abhält und als zusätzlicher Ballast
empfunden wird. Die Konsequenz solcher Entwicklungen ist, dass weniger Zeit
und Energie für die nicht leicht quantifizierbare (prozessorientierte) Lehre
verbleibt und damit didaktisch-methodische Fragestellungen nachrangig werden.
Um auf solche Entwicklungen sinnvoll zu reagieren und ausgehend von der Annahme, dass Literatur in Zukunft unter immer größeren Legitimationsdruck geraten wird, sollte m.E. in der Auslandsgermanistik verstärkt überlegt werden,
·
wie gerade die literaturbezogene
Lehr- und Lernpraxis als Forschungsgegenstand attraktiver gemacht
werden kann,
·
in welcher Weise der Bildungs-
und Erziehungwert von Literatur (auf der Grundlage empirischer Daten) nach
außen hin vermittelt werden kann,
·
welche Forschungskonzepte und
-methoden sich dazu eignen, konkrete literaturbezogene Lehr- und
Lernprozesse zu dokumentieren und zu evaluieren. Eine solche
Evaluation müsste u.a. abzielen
auf die Kurz- bzw. Langzeitwirkung solcher Lehr-/Lernprozesse und klären
helfen, welche Vermittlungsformen zu welchen Resultaten führen.
Es gibt bislang zu wenig empirisches Wissen darüber, welche Rolle Literaturvorlesungen/ ‑seminare/-unterricht im Prozess der literarischen Sozialisation von Germanistik-Studierenden (und auch Lehrenden!) spielen. Diesbezüglich scheint mir die Forschungsarbeit von Jörg Steitz-Kallenbach (2001) interessant, der sich im Rahmen des muttersprachlichen Literaturunterrichts mit der Fülle von Faktoren auseinandersetzt, die auf einer bewussten, aber auch unbewussten Ebene den Umgang mit Literatur beeinflussen, wobei insbesondere auch der Zusammenhang der literarischen Sozialisation von Lehrenden einerseits und der von ihnen favorisierten Inhalte und Methoden des Literaturunterrichts andererseits in den Blick gerät.
Um sicher zu stellen, dass die Auslandsgermanistik sich nicht an den Bedürfnissen von Studierenden vorbei entwickelt, halte ich im Überlebensinteresse des Faches eine (zumindest temporäre) Akzentverschiebung in der auslandsgermanistischen Forschung für sinnvoll, d.h. eine Verlagerung vom stringent textbezogenen zum lerner- bzw. lernprozess-orientierten Forschen. Das mag bei vielen nicht auf begeisterte Zustimmung stoßen, aber ich möchte anhand des folgenden (austauschbaren) kanonischen Beispiels provokant hinzufügen: Wir wissen bereits immens viel über Bertolt Brechts Schriften, die Landschaft der Sekundärliteratur zu all seinen Werken ist riesig, wir wissen allerdings recht wenig darüber, welche Lernprozesse wirklich gemacht werden, wenn Studierende/Lernende sich in einem Seminar oder einem Kurs mit ausgewählten Texten von Bertolt Brecht beschäftigen und welche Wirkung diese Lernprozesse kurz- oder langfristig haben. Ebenso wenig wissen wir über die Wirkung, die der Umgang mit Literatur auf das (Berufs-)Leben von Dozenten hat.
In Zukunft werden sich die mit der Literatur verbundenen Wissenschaften nicht selbstgefällig weiter von dem Mythos nähren können, dass die Literatur etwas Gutes ist. Sie werden nicht umhin können, konkreter zu belegen, warum und wozu diese gut ist.
Die kontrastive Darstellung in den folgenden Tabellen, die zu erweitern und zu differenzieren wäre, fasst nochmals einige Punkte zusammen und mag eventuell als Vorlage nützlich sein, um mit Kollegen und Studierenden das Thema Literaturvermittlung weiter zu diskutieren.
gestern morgen
allgemeine gesellschaftliche Bedingungen
mehr
Lesezeit: relativ entspannte Lektüre |
immer
weniger Lesezeit: „rasche Lektüre“ |
Vorherrschaft
des Textes |
Vorherrschaft
des Bildes |
relative
Übersichtlichkeit/ |
Reizfülle/große
Informationsflut; zunehmende Orientierungsprobleme |
allgemein akzeptiert als
hochrangiges Bildungsgut |
zunehmender Akzeptanzverlust?? |
dominant im germanistischen
Curriculum |
In zunehmender Konkurrenz
mit anderen Medien/Fächern/Fachkomponenten |
Selbstbezogenheit (gar
Arroganz?) der Literaturwissenschaft |
Wendung
nach außen: die Begegnung mit Literatur fördern (Gemeinschaftsstiftung) |
Primär
Textrezeption/-analyse |
mehr
Handlungs- bzw. Produktionsorientierung/stärkere Orientierung an
literaturbezogenen Formen ästhetischer Praxis |
Textzentrierte
Forschung |
Mehr
Lerner-/lernprozess-orientierte Forschung |
Linear-sukzessive
Wahrnehmung: intellektuelle Schulung:
„Abstraktionskompetenz“ |
Simultan-mehrperspektivische
Wahrnehmung: Schulung
der Sinne, Anzapfen multipler Intelligenzen |
enge
Orientierung an Literaturwissenschaft/Inlandsgermanistik |
kulturwissenschaftliche
Erweiterung der Germanistik; eigenständig-selbstbewusste
auslandsgermanistische Forschungs-, Lehr- und Lernpraxis; Fokus auf
literaturdidaktische Fragestellungen |
D-Fixierung |
EU: D-A-CH-Orientierung |
Literaturvermittlung in der
Muttersprache |
Stärkere Betonung auf Literatur als Gegenstand des fremdsprachlichen Deutschunterrichts[12] |
3. Literatur zum Leben erwecken: Plädoyer für eine stärkere Orientierung an Formen ästhetischer Praxis
Wenn ich weiter oben eine Lanze breche für produktions- und handlungsorientierte Verfahren im Literaturunterricht (vgl. Paefgen 1999, 125 ff., Waldmann 2000; 2001), gehe ich davon aus, dass sich Kaspar Spinners folgende deutschdidaktischen Überlegungen auch auf die hochschulische Realität übertragen lassen:
In seiner konsequentesten
Ausprägung fordert der produktionsorientierte Ansatz einen Begriff von Schule
ein, der nicht auf Lernen im engeren Sinne eingeschränkt ist. Der Schüler, der
die Beschäftigung mit Texten zum Anlaß nimmt, selbst literarisch zu schreiben
(oder szenisch zu spielen), erwirbt sich nicht nur eine Fähigkeit für spätere
Lebenssituationen, sondern ist kulturell tätig. Er verwirklicht sich
schöpferisch, Schule wird zu einem Ort des literarischen Lebens. In diesem
Sinne ist der produktionsorientierte Ansatz mehr als nur eine Methode des
Literaturunterrichts, er verweist auf eine Konzeption von Bildung, die dem
Heranwachsenden Anregung und Raum für Selbstverwirklichung geben will. (Spinner
1993: 29)
Ich bin mir durchaus der kontroversen Diskussion um produktionsorientierte Verfahren bewusst (z.B. Belgrad/Melenk 1996) und behaupte nicht, dass es sich dabei um den Königsweg der Literaturvermittlung handelt, auf dem jeder „Lehrertyp“[13] erfolgreich schreitet. Behauptet wird vielmehr, dass Germanistik-Abteilungen an ausländischen Universitäten in Bezug auf produktions-/handlungsorientierte Verfahren ein Nachholbedürfnis haben und speziell drama-/theaterpädagogische Verfahren (z.B. Mehigan 1996; Kunz 1989/1997; Scheller 1998; Schewe 1995/2002; Schewe/Wilms 1995) sich anbieten, um einem „Erfahrungsverlust“ konstruktiv zu begegnen. Dazu aus Florian Vaßens (2001: 159) Überlegungen zur alltäglichen Theatralität in der Mediengesellschaft:
Erfahrung von
Wirklichkeit und damit wirkliche Erfahrung im Sinne von verarbeiteten
Erlebnissen verschwinden offensichtlich zusehends, an ihre Stelle tritt eine
Erfahrung des Als-Ob, sozusagen aus zweiter Hand, medial vermittelt und
folglich medial zugeschnitten und zugerichtet.
Um diesem tendenziellen Wirklichkeitsverlust entgegenwirken zu können, betont Vaßen in seiner Darstellung (vgl. 161f.), die ich hier nicht ausführlich genug wiedergeben kann, die Wichtigkeit einer eigenständigen Wirklichkeitserfahrung, wie sie beispielsweise das szenische Spiel ermöglicht.
In Reaktion auf die angedeuteten gesellschaftlichen Entwicklungen geht es bei einem drama-/theaterpädagogischen Zugang zur Literatur u.a. darum, Studentengenerationen, deren Sozialisation in hohem Maße vom Einfluss der Medien (fremd)bestimmt worden ist, Mut zu machen, im Prozess ästhetisch-künstlerischer Gestaltung die eigenen inneren Bilder von dieser Welt aufkommen zu lassen und – in kritischer Gegenüberstellung zu medial-vorgefertigter Bilderware – das Woher und Wohin dieser Bilder zu reflektieren.
Die von Tim Mehigan
(1996) thematisierte Krise der Auslandsgermanistik ist keineswegs ausgestanden.
In Großbritannien beispielsweise ist das Interesse am Fach Deutsch in den
letzten Jahren deutlich gesunken, in Irland häufen sich inzwischen auch Meldungen
von rückläufigen Studentenzahlen. Einfache Patentrezepte, um das Fach Deutsch
attraktiv zu machen, gibt es wohl nicht, aber eines scheint mir wesentlich
zu sein: Die Auslandsgermanistik muss innovationsfreundlicher werden und risikobereiter
neue Lehr-/ Lernmodelle erproben und entwickeln, um auf veränderte Realitäten
sinnvoll zu reagieren; das kann beispielsweise auch bedeuten, die positiven
Seiten der neuen Medien bewusst zu nutzen, indem in einem virtuellen Forum
Literaturseminare verschiedener Universitäten miteinander in Kontakt treten,
um sich über einen spezifischen Text, über ein interkulturelles Thema etc.
zu verständigen oder gar gemeinsam (literarische) Texte zu verfassen.[14]
Vorbehalte
gegenüber den neuen Medien und den Inhalten, die diese transportieren, sind
verständlich; andererseits halte ich eine grundsätzliche Offenheit für die mit
ihnen einher gehenden neuen Möglichkeiten für unabdingbar. Inzwischen gibt es
selbst unter den Antroposophen, die für ihre notorische Medienskepsis bekannt
sind, Stimmen, die vor einer übersteigerten Medienfeindlichkeit warnen,
darunter die von Sebastian Gronbach:
Wir 2002-Menschen sind
für diese Zeit gemacht und in diese Zeit gehört die Technik, derer wir uns
bewusst und freudig bedienen sollten. Selbstverständlich werden die Angriffe
auf unsere Persönlichkeit durch die Technik immer heimtückischer und brutaler,
aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite öffnet neue
Wege, um uns als Menschen weiter zu entwickeln, Grenzen zu überschreiten und
neue Gipfel zu erklimmen. ... Der Technik nicht zu erliegen und sie dennoch zu
nutzen, das ist die wahre Kunst. (2002: 67)
Der Auslandsgermanistik käme ein wenig mehr Experimentierbereitschaft sicherlich zugute. Indem sie beispielsweise eine stärkere Auseinandersetzung mit Bildlichkeit sucht und dabei z.B. die Unterschiedlichkeit aber auch Komplementarität von literarisch und medial erzeugten Bildern erkundet, könnte es im Bereich Literaturvermittlung zu ähnlichen Entwicklungen kommen, wie sie sich im Bereich moderner Kunst, speziell in einer Kunstrichtung unter der Bezeichnung Nonchalance bereits vollziehen:
Die Jetztzeit-Künstler
wollen sich nicht mehr in die ideologisierende Differenz zu den aktuellen
Bildern und Medien stellen. Sie haben das kreative Potential der
Bildergesellschaft erkannt, nehmen die Apparaturen und Hilfsmittel zum Nennwert
und haben überhaupt keine Berührungsängste. ... In der jetzigen Haltung der
Nonchalance verschwimmen die Begriffe, bilden sich interferierende
Grenzbereiche aus – die Bilder werden quasi durch einen Oszillator gejagt, und
die Verschmelzung von U und E, von mediatisiertem Bild und realem Bild schlägt
sich mit Nachdruck in allen Bereichen kultureller Manifestationen nieder. Auch
für dieses Zusammenkommen, frei von Vorurteilen und ästhetischem Dünkel, steht
der Begriff der Nonchalance. (Doswald/Meyer 2002: 16f.)
Überhaupt scheint mir das Ernsternehmen einer künstlerischen Orientierung im Bereich Literaturvermittlung erstrebenswert[15], denn die künstlerisch-kreative Seite der Beschäftigung mit Literatur scheint mir recht unterentwickelt. Es ist wohl diskutierenswert, inwieweit ein auslandsgermanistisches Studium in die auf Abstraktionsfähigkeit angelegte Literaturkritik einüben soll und bis zu welchem Grade es Mut machen sollte zu „subjektiven Zugängen“ zur Literatur, zur Entfaltung der eigenen (Sprach-)Kreativität. Professionelle Schriftsteller, die eine germanistische Ausbildung durchlaufen haben und später in ihrer Karriere auf diese zurück blicken, drücken jedenfalls oft ihr Bedauern darüber aus, dass diese Ausbildung eher kreativitätshemmend war, so z.B. Christa Wolf:
Das Studium der
Germanistik hat mich – so sehe ich es heute – zunächst irritiert und in eine
kritisch-theoretische Richtung gedrängt: ich schrieb Literaturkritiken.
Vielleicht war mir eine gewisse Unmittelbarkeit im Kontakt mit der Realität
abhanden gekommen, auch die Unbekümmertheit, die ja doch auch in dem
wahnwitzigen Entschluss steckt, dem Unmaß an Geschriebenem nun auch ein eigenes
Scherflein noch beizusteuern. Jedenfalls gab es starke Barrieren, die nur durch
starke Erschütterungen durchbrochen werden konnten und einen Zwang zum
Schreiben auslösten. ... Ich habe Kritiken geschrieben – im falschen Sinne. Ein
Kritiker, der Bücher nach einem bestimmten Maßstab beurteilt. Das habe ich dann
mit Entsetzen sein gelassen. [...] Die reine Werkkritik ist oft eine
Fehlentwicklung: die Kritiker nehmen ein Buch her wie ein Objekt – so wie die
Naturwissenschaftler irgendein zu untersuchendes Objekt. Aber gerade dieser
Wissenschaftsbegriff ist auf Literatur ganz sicher nicht anzuwenden. Wenn also
die Kritiker sich nicht entschließen können, die Subjektivität, die in dem Buch
sich ausdrückt, mit in ihre Betrachtungen einzubeziehen, und sich selbst dazu
in irgendein Verhältnis setzen, und zwar offen, dann wird das immer eine
verklemmte Sache sein. (Magenau 2002: 67f.)
Welcher Student wünscht sich nicht eine große Nähe zu seinem Fach, eine „Disziplin auch zum Anfassen“, eine Germanistik, die ihnen eine „ausgewogene Sinneskost“[16] bietet? Da eine solche Formulierung vorschnell mit einem „Verlust von fachlichen Standards“ assoziiert werden könnte, möchte ich auf den Gewinn (an Studienmotivation etc.) verweisen, der in künstlerisch-praktisch orientierten Literaturseminaren/ -workshops erzielt werden kann, indem verschiedene Lernerintelligenzen gefordert und gefördert werden. Der Weg zur Literatur, z.B. zu Schillers Werken, ist nicht notwendigerweise für alle derselbe; diese Einsicht, die einer stärkeren Umsetzung in methodisch-phantasievolles Handeln bedarf, ist in der Literatur selbst zu finden. Im folgenden Auszug aus Gottfried Kellers Der Grüne Heinrich, in dem ich einige themenrelevante Stellen hervorgehoben habe, erinnert sich der Erzähler an seinen Vater und dessen Freunde:
Wenn sie auch Schiller
auf die Höhen seiner philosophischen Arbeiten nicht zu folgen vermochten, so
erbauten sie sich um so mehr an seinen geschichtlichen Werken, und von diesem
Standpunkt aus ergriffen sie auch seine Dichtungen, welche sie auf diese Weise ganz
praktisch nachfühlten und genossen, ohne auf die künstlerische
Rechenschaft, die jener Große sich selber gab, weiter eingehen zu können. Sie
hatten die größte Freude an seinen Gestalten und wußten nichts Ähnliches
aufzufinden, das sie so befriedigt hätte. Seine gleichmäßige Glut und Reinheit
des Gedankens und der Sprache war mehr der Ausdruck für ihr schlichtes,
bescheidenes Treiben als für das Wesen mancher Schillerverehrer der gelehrten
heutigen Welt. Aber einfach und durchaus praktisch, wie sie waren, fanden
sie nicht volles Genügen an der dramatischen Lektüre im Schlafrock; sie
wünschten diese bedeutsamen Begebenheiten leibhaftig und farbig vor sich zu
sehen, und weil von einem stehenden Theater in den damaligen Schweizer
Städten nicht die Rede war, so entschlossen sich sich ... kurz und spielten
selbst Komödie, so gut sie konnten. Die Bühne und die Maschinen waren
freilich schneller und gründlicher hergestellt, als die Rollen erlernt wurden,
und mancher suchte sich über den Umfang seiner Aufgabe selbst zu täuschen,
indem er mit vergrößerter Kraft Nägel einschlug und Latten entzweisägte; doch
ist es nicht zu leugnen, daß ein großer Teil der Gewandtheit im Ausdruck und
des äußern Anstandes, welche fast allen jenen Freunden eigen geblieben ist, auf
Rechnung solcher Übungen gesetzt werden darf. (Gottfried Keller 1986)
Literaturvermittlung in der Auslandsgermanistik ist m.E. in der Vergangenheit vornehmlich als eine Sozialisation zu Literatur verstanden worden, indem kanonische Texte und deren literar-ästhetische Qualitäten im Vordergrund standen. Weniger als eine Sozialisation durch Literatur, die eine Fokussierung auf Lerner, auch unterschiedliche Lernertypen, bedeutet und danach fragt, in welcher Weise Literaturvermittlung im Laufe der Studienjahre (und darüber hinaus) auf die persönliche Entwicklung von Studierenden positiv einwirken kann. Mit Jörg Steitz-Kallenbach bin ich der Ansicht, dass die Literaturvermittlung von morgen sich zwischen diesen beiden Polen produktiv hin und her zu bewegen hätte:
Die Spannung zwischen
diesen Polen begründet das Gewinnbringende eines Literaturunterrichts, der die
Entfaltung literar-ästhetischer Kompetenz als identitätsorientierte
Beziehungsarbeit im interaktionellen Geschehen des Unterrichts begreift.
(Steitz-Kallenbach 2001: 257)
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War von 1982 – 1987 DAAD-Lektor/Lecturer am German Department der National University of Ireland, University College Cork, von 1987-1994 Lehrbeauftragter in der Anglistik, Germanistik und (interkulturellen) Pädagogik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Seit 1994 ist er College Lecturer am German Department, University College Cork. Seine Forschungstätigkeit richtet sich primär auf ganzheitliche Zugänge zum Lehren und Lernen von Sprache, Literatur und Kultur. Seine Veröffentlichungen umfassen z.B. Fremdsprache inszenieren (1993); Towards Drama as a Method in the Foreign Language Classroom (1993); Texte lesen und verstehen (1995) und Pädagogische Konzepte für einen ganzheitlichen DaF-Unterricht (2000). Es geht ihm darin um einen Brückenbau zwischen verschiedenen, aber komplementären Disziplinen: Deutsch als Fremdsprache, Sprachlehr-/lernforschung, Pädagogik, Literaturwissenschaft/-didaktik, Drama/Theater und interkulturelle Studien.
[1] Im Laufe meiner germanistischen Ausbildung wurde
ich leider nie zum Schreiben von (literarischen) Texten ermutigt, halte
aber – ganz im Sinne der in diesem Beitrag entfalteten Argumentation – Werkstätten
in kreativem Schreiben für ein sinnvolles Studienelement, um das „Machen
von Literatur“ besser zu verstehen.
[2] Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Schwerpunkt
Deuschlehrerausbildung in GFL 2/2001.
[3] Vgl. in Bezug auf kulturspezifische Hochschullehrersozialisation
z.B. O’Sullivan/Rösler 2000.
[4] Für mich war ein erster Versuch in dieser Richtung
die dramapädagogische Bearbeitung eines Romans (Schewe/Wilms 1995).
[5] In diesem Kontext wäre auch eine Analyse von literaturbezogenen
Examina aufschlussreich, um Lehr-/ Lernziele und die ihnen zugrunde liegenden
Vorstellungen von Literaturvermittlung genauer bestimmen zu können.
[6] Vgl. entsprechende Berührungsängste im Bereich Theater.
Michael Scharang (2002: 2) redet von einem “Theater, in dem lebende Autoren
kaum vorkommen, weil Regisseure damit beschäftigt sind, tote Autoren umzuschreiben”.
[7] Damit meine ich z.B. deutschsprachige Theaterstücke,
die im jeweiligen Jahr oder Vorjahr im Rahmen eines renommierten Theatertreffens,
z.B. alljährlich in Berlin oder Mühlheim an der Ruhr, von einer professionellen
Jury als beste Stücke ausgewählt werden.
[8] Zu diesem Modul wurden wir durch die erstmalig im
Jahre 2002 an der Universität Cork erfolgte Verleihung eines President’s
Teaching Innovation Award ermutigt. Erfreulicherweise ist im Laufe der
letzten zwei Jahre aufgrund verschiedener Initiativen einer sehr engagierten
pädagogischen Abteilung der Bereich Lehre/Hochschuldidaktik deutlich gestärkt,
die Imbalance zwischen Forschung und Lehre korrigiert und ein insgesamt
innovationsfreundlicheres Hochschulklima gefördert worden.
[9] In welcher Form z.B. die studentischen Leistungen
in solchen Veranstaltungen abgeprüft werden, wird in einem Folgeartikel
(voraussichtlich in GFL 2/2003) genauer dargestellt.
[10] Anzumerken ist hier, dass Schüler irischer Sekundarschulen
mit deutscher Literatur kaum in Berührung kommen, da dies im Deutschcurriculum
nicht explizit vorgesehen ist
[11] Das gegenwärtige Klima an Universitäten scheint
in der Oldenburger Universitätszeitung recht gut auf den Punkt gebracht
von Silke Wenk (2002: 6), die ihren Beitrag mit dem Satz beginnt: „Wer schreibt
endlich den DFG-Antrag zur Analyse jener kollektiven Arbeitszwänge, durch
die wir uns zunehmend beherrschen lassen?“
[12] Vgl. dazu insbesondere Ehlers (2001).
[13] So wie in der Sprachlehr-/lernforschung immer wieder
die Rede von unterschiedlichen Lernertypen ist, ist auch von unterschiedlichen
Lehrertypen auszugehen.
[14] Vgl. in diesem Zusammenhang z.B. die auf literarisches
Schreiben bezogenen Aktivitäten des an der Pädagogischen Hochschule Freiburg
eingerichteten Schreibzentrums: www.ph-freiburg.de/schreibzentrum.
[15] Vgl. hierzu auch Schewe (1998): DaF-LehrerInnenausbildung
– nicht nur als Wissenschaft, sondern ebenso als Kunst!
[16] Das Fehlen einer solchen in Familie, Kindergarten
und Schule ist laut Sozialisationsforscher Hurrelmann (2002) Hauptursache
für bedenkliche Verhaltens- und Lernprobleme bei jungen Menschen in fortgeschrittenen
Industriegesellschaften; diese häufen sich scheinbar auch bei „hochintelligenten
Kindern“, potentiellen Studierenden von morgen.