Senioren lernen Deutsch: 13 Grundgedanken

 

Annette Berndt

 

In den hochindustrialisierten Ländern weltweit erlebt die Lebensphase des Alters eine Neubewertung. Eine Folge dessen sind vielfältige Bildungsangebote, die auch Fremdsprachen einschließen. Der ältere Mensch als Fremdsprachenlerner zeichnet sich durch eine eigene Lerndisposition aus, da sich im Laufe des Lebens die wesentlichen Voraussetzungen wie Informationsverarbeitung, Sensorik, Psychomotorik, usw. ändern. Dies führt zur Schaffung eines neuen Schwerpunkts innerhalb der Fremdsprachendidaktik: die Fremdsprachengeragogik.

 

1. Europa: The greying society

Der aktuelle Altersdurchschnitt in den Industrieländern weltweit und demografische Vorausberechnungen beweisen: Menschen erreichen ein immer höheres Lebensalter und die Anzahl älterer Menschen wird kontinuierlich größer im Vergleich zur Gesamtbevölkerung; die Vision der „greying society“ scheint sich zu erfüllen. Die Skizze zum Bevölkerungsaufbau in Europa verändert sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts von der Pyramide zum sog. „Pilz“ (Klose 1993:33). Soziodemografische Prognosen gehen für das dritte Jahrzehnt dieses Jahrtausends davon aus, dass über 30% aller Menschen in Europa über 60 Jahre alt sein werden (Wingen/Cornelius 1994:8). Zudem steigt das Bildungsniveau älterer Menschen stetig an, da die künftigen Generationen älterer Menschen im Laufe ihres Lebens ungleich mehr Bildungschancen gehabt haben werden als die älteren Menschen früher und heute. Vergleicht man die Anzahl von Menschen zwischen 60 und 65 Jahren, die die Hochschulreife oder einen Hochschulabschluss vorweisen, so werden im Jahre 2020 doppelt so viele Senioren dieser Altersgruppe diese Bildungsgrade nachweisen können im Vergleich zum Jahr 2000 (Wingen/Cornelius 1994:11). Ein höheres Bildungsniveau ist einer der Indikatoren für Weiterbildung auch im Alter; insofern kann man davon ausgehen, dass in den kommenden Jahrzehnten immer mehr ältere Menschen Bildungsangebote wahrnehmen werden.

Inzwischen haben sich in den Wissenschaften Teildisziplinen entwickelt, die sich speziell mit dem Alter beschäftigen: Die Gerontologie als Wissenschaft vom Alter und Altern (Lehr 1991), die Geragogik als Pädagogik für ältere Menschen, und die Fremdsprachengeragogik als Fremdsprachendidaktik für eben diese Zielgruppe (Berndt 1997 und Berndt, in Vorbereitung).

Das Alter und der ältere Mensch rücken so zunehmend ins gesellschaftliche Bewusstsein; es wird viel diskutiert und publiziert darüber, wie Menschen auch im Alter am gesellschaftlichen Geschehen teilhaben können und welche Bildungsangebote für sie die richtigen sind. In vielen Ländern Europas wurden Seniorenuniversitäten gegründet, die Volkshochschulen in vielen Ländern (open universities, universités du troisième âge, università popolari) haben seit einiger Zeit spezielle Fremdsprachenkurse für ältere Menschen eingerichtet. Die Deutschlehrer in der Erwachsenenbildung sind sich der Besonderheit von Seniorenkursen durchaus bewusst (Berndt 1997). Im folgenden Artikel werden die Spezifika des Fremdsprachenlernens im Seniorenalter dargestellt und die entsprechenden Folgerungen für eine altersgemäße Didaktik und Methodik gezogen.

2. Der Altersfaktor

Dass Kinder anders lernen als Erwachsene, dass sie schneller sind und auch viel mehr aufnehmen können, das weiß jeder Erwachsene auch aus der eigenen Erfahrung. Die Erkenntnisse zum „Alterfaktor“ seitens der Fremdsprachenforschung stellen die vielfältigen Auswirkungen das Alters auf Prozess und Ergebnis des Sprachenlernens dar (Singleton 1989, Singleton/Zsolt 1995), allerdings nur bis ins Erwachsenenalter. Das Seniorenalter wurde in der bisherigen Forschung kaum beachtet.

Eine noch relativ junge Sparte der Entwicklungspsychologie, die sog. Psychologie der Lebensspanne (aus dem Englischen „life-span psychology“), versucht Antworten zu finden auf die zahlreichen Veränderungen, die der Mensch im Laufe seines gesamten Lebens erfährt (siehe Baltes 1990). Dieser Prozess-bezogene Ansatz ist auch sinnvoll, wenn es um das Thema „Lernen im Alter“ geht, denn Altern geschieht sehr individuell und nicht alle von der Forschung konstatierten Veränderungen treffen auf den Einzelnen zu. Der Pädagoge, der mit älteren Menschen arbeitet (i.e. der Geragoge), sollte aber über Entwicklungslinien bescheid wissen, um Phänomene bei Bedarf richtig beurteilen zu können, ohne „den älteren Menschen“ in ein vorgefertigtes Raster einzuzwängen. Im folgenden möchte ich einige Grunderkenntnisse der Psychologie der Lebensspanne darstellen, die jeder/m Fremdsprachenlehrenden bekannt sein sollten, der Seniorenkurse unterrichtet, oder aber auch einzelne ältere Menschen in seinen Kursen hat.

3. Gewinne und Verluste – Neulinge und Experten

Zunächst muss man „Altern“ von den einseitigen Assoziationen eines kontinuierlichen Abbaus befreien und als einen lebenslangen Prozess sehen, der in seiner Entwicklung zu jeder Zeit Bereiche des Abbaus und Zuwachses zeigt. Dieser Mechanismus von Abbau und Zuwachs ist je nach den Erfahrungen und dem Umfeld eines Menschen recht unterschiedlich: So zeigt sich der pensionierte Schreiner sehr geschickt in handwerklichem Tun und die ältere Lehrerin wird kaum Probleme vorfinden, wenn sie noch einmal eine Fremdsprache lernen will. Das Leben ist also auch ein Prozess der individuellen Spezialisierung, der einzelne Mensch entwickelt sich zum Experten in bestimmten Bereichen; dort liegt der Grund, warum uns Menschen immer unterschiedlicher voneinander erscheinen, je älter sie werden (interindividuelle Varianz). Wenn die ältere Lehrerin nun ihren eigenen Tisch bauen und der pensionierte Schreiner sich endlich einen lange gehegten Traum erfüllen und Deutsch lernen möchte – was dann? Nach den Grundsätzen der Psychologie der Lebensspanne ist dies ohne weiteres möglich, denn jeder Mensch besitzt bis ins hohe Alter ein bestimmtes Maß an Veränderbarkeit (Plastizität) in dem Sinne, dass er durch Anweisung und Übung Dinge erlernen kann. Dass man in Bereichen, die man seit langer Zeit beherrscht schneller und effektiver ist als in unbekannten, braucht nicht extra erwähnt werden. So wird die Lehrerin als Expertin in Sachen Lernen auch in höherem Alter relativ wenige Probleme beim Erlernen der deutschen Sprache haben und der pensionierte Schreiner mit Leichtigkeit Möbel bauen. Die Lehrerin muss aber die Funktion und den Gebrauch von Werkzeugen erlernen und üben, wenn sie einen Tisch bauen möchte und der in Sachen Fremdsprachen unerfahrene Tischler muss, bevor er richtig mit dem Deutschlernen beginnen kann, das Lernen lernen, denn Sprache ist ein komplexes System, das einen analytischen Zugriff fordert. So viel zum Unterschied zwischen Experten und Neulingen in unterschiedlichen Lernbereichen und was ein Neuling leisten muss, um zum Experten zu werden.

4. Informationsverarbeitung und Gedächtnis

Allerdings kann man bei dem Wechselspiel von Gewinnen und Verlusten im Laufe des Lebens eine sich ändernde Bilanzierung feststellen, betrachtet man die Ergebnisse von Längsschnittstudien, die die Entwicklung einer großen Menge von Individuen über Jahrzehnte hinweg beobachten (z.B. Bonner Gerontologische Längsschnittstudie, Thomae 1993). So verschiebt sich mit zunehmendem Lebensalter die Dominanz von Gewinnen hin zur Dominanz von Verlusten. Diese sind besonders im Bereich der Informationsverarbeitung zu erkennen. Die Intelligenzforschung unterscheidet mit fluider (Mechanik) und kristallisierter Intelligenz (Pragmatik) modellhaft zwei Grundarten der kognitiven Leistungsfähigkeit (siehe Baltes 1995). Ab ca. dem 25. Lebensjahr nimmt die Leistungsfähigkeit der fluiden Komponente kontinuierlich ab; hierzu gehören alle Operationen, die große Ansprüche an Gedächtnis und kognitive Verarbeitung stellen. Die kristallisierte Intelligenz, zu der Sprache, Welt- und Erfahrungswissen gehören, kann bis ins hohe Alter anwachsen. Auch stellt man fest, dass die kognitive Leistungsfähigkeit älterer Menschen besonders dann schwächer ist, wenn man die Leistungsgrenzen testet (Testing-the-Limits); sehr komplexe Aufgaben und Aufgaben, die unter Zeitdruck gelöst werden müssen, werden mit dem Alternsprozess zu einer immer schwierigeren Hürde (Lehr 1991:113ff.). Da Sprachenlernen große Ansprüche an die Informationsverarbeitung stellt, kann man aufgrund dieser Erkenntnisse davon ausgehen, dass ältere Menschen andere Lernkonzepte benötigen als jüngere, um erfolgreich eine Sprache lernen zu können.

Auch das Gedächtnis (Fleischmann 1989) – an dieser Stelle sei bemerkt, dass viele der sog. Intelligenztests Gedächtnistests sind – ist besonders dort von Altersdefiziten betroffen, wo aufwendige Verarbeitungsprozesse notwendig sind wie beispielsweise beim Arbeitsgedächtnis. Allgemein kann man sagen, dass die Kapazität des Gedächtnisses vermindert ist in dem Sinne, dass weniger Informationen gleichzeitig verfügbar sind. Das Behalten (Enkodieren) neuer Informationen und der Abruf (Dekodieren) von Gedächtnisinhalten ist erschwert. Die Defizite bezüglich des Gedächtnisses reflektieren sich besonders auch in einem verminderten Arbeitstempo. Dass die Lehrerinnen und Lehrer von Fremdsprachenkursen für ältere Menschen häufig von einem „Weniger und Langsamer“ sprechen, was das Lernpensum und den Unterrichtsablauf angeht, wird insofern klar.

 5. Hören und Sehen

Eine intakte Sensorik (Schieber/Baldwin 1996) ist neben der Funktionstüchtigkeit der Informationsverarbeitung die Grundvoraussetzung für erfolgreiches Lernen. Gerade aber das Hörvermögen verändert sich im Laufe des Lebens. Audiometrische Tests kommen zu folgenden Ergebnissen: Ein Mensch im Alter von 60 Jahren hat ungefähr noch 80%, ein Mensch im Alter von 70 ungefähr noch 70% der Hörfähigkeit, die er mit 20 Jahren besaß. Dies hat zur Folge, dass akustische Informationen, die unter einer bestimmten Lautschwelle liegen, also zu leise sind, nicht wahrgenommen werden können; dabei sind besonders die Töne höherer Lautfrequenzen betroffen. Auch lässt die Diskriminierungsfähigkeit nach. Älteren Menschen fällt es deshalb schwer unter hallenden Bedingungen oder bei Hintergrundgeräuschen akustischen Informationen zu folgen, die relevanten Geräusche also von den unwichtigen zu unterscheiden. Audiokassetten, die den im Handel üblichen Lehrwerken für Fremdsprachen beigegeben werden, sind für ältere Lerner daher kaum verständlich, da diese häufig mit gewollten Unklarheiten und Hintergrundgeräuschen arbeiten, um das sog. Kontexthören zu fördern. Auch sind das Tempo und die Menge der dargebotenen Informationen meist zu groß. Schon bei der Auswahl der Räumlichkeiten für Sprachkurse mit älteren Menschen sollte auf eine optimale Akustik geachtet werden.

Die Folgen der so gut wie unvermeidbaren Altersweitsichtigkeit mit dem Verlust des scharfen Sehens im Nahbereich sind durch Sehhilfen problemlos zu überwinden. Allerdings wird das menschliche Auge mit zunehmendem Alter immer unempfindlicher für Helligkeit, was auch zu einer geringeren Kontrastwahrnehmung führt. Ein Anschrieb in roter oder blauer Kreide auf dem dunklen Hintergrund der Tafel kann von älteren Lernern daher nur kaum gelesen werden. Dass gedruckte Lernmaterialien und Hörkassetten für ältere Menschen speziell konzipiert sein müssen, wird somit klar.

6. Das Prinzip OSEKO: Optimierung durch Selektion und Kompensation.

Aus den vorhergehenden Abschnitten kann man mit Baltes (1997:194) folgern: „Die Biologie ist keine Freundin des Alters“. Allerdings stehen dem Menschen Möglichkeiten zur Verfügung, die Effekte des Alterns zwar nicht vollständig aufzuhalten, aber dennoch zu modifizieren. Die Psychologie der Lebensspanne operiert in diesem Zusammenhang mit dem Konzept „Optimierung durch Selektion und Kompensation“ (Baltes/Baltes 1989), durch das eine Minimierung von Verlusten und Maximierung von Gewinnen möglich wird. Man geht davon aus, dass die Auswahl bestimmter Tätigkeitsbereiche (Selektion) und die Verlagerung bestimmter Kompetenzen und deren Erwerb (Kompensation) zu weiterhin erfolgreichem Handeln und auch Lernen im Alter führen. Das Ergebnis selektiver und kompensatorischer Mechanismen ist letztendlich eine Optimierung in bestimmten Teilbereichen.

Das Prinzip OSEKO bietet sich auch als leitendes Konzept an, wenn es um Fremdsprachenunterricht geht. So wurden beispielsweise Unterrichtsmethoden und Lernmaterialien immer schon auf die je nach Alter unterschiedlichen Lerndisposition abgestimmt, indem man bestimmten Vermittlungsarten den Vorzug gab. Es existieren eher ganzheitliche und imitative Konzepte für Kinder und eher kognitiv ausgerichtete für Erwachsene. Im folgenden Teil will ich nun einige Prinzipien darstellen, die von Fremdsprachenlehrern bei der Arbeit mit älteren Menschen beachtet werden sollten.

7. Kursgestaltung: „Die späte Freiheit“

Ältere Lerner besuchen Fremdsprachenkurse normalerweise nicht aus Gründen der beruflichen Weiterbildung. Ihre Motivationen zum Kursbesuch sind vielfältig (Berndt 2001): Insbesondere die zahlenmäßig stark vertretenen Frauen möchten ein Bildungserlebnis nachholen, das ihnen durch familiäre und auch berufliche Verpflichtungen erst in den späteren Lebensjahren möglich ist. Das plötzliche Aussteigen aus dem Beruf, die Tatsache, dass die Kinder das Haus verlassen haben (empty-nest-syndrom) entlassen ältere Menschen in die „späte Freiheit“, die allerdings auch gestaltet werden will. Über die Kursbesuche wird eine Kontinuität im Tagesablauf gesucht, soziale Kontakte werden geknüpft in einem geistig anregenden und anspruchsvollen Rahmen. Nicht selten dient das Lernen im Kurs älteren Menschen als Realisationsforum der eigenen Leistungsfähigkeit.

Aufgrund der unterschiedlichen Motivationen und Voraussetzungen der Lerner sind diese Kurse also sehr inhomogen. Wie müssen sie also gestaltet sein, um den unterschiedlichen Ansprüchen der Lerner gerecht zu werden?

Zunächst möchte ich auf einen großen Vorteil von Fremdsprachenkursen mit älteren Menschen hinweisen, der darin besteht, dass alle Lerner freiwillig in den Kurs kommen und auf kein Zertifikat hinarbeiten. Die „späte Freiheit“ der Lerner ist die Grundvoraussetzung für die pädagogische Freiheit im Kurs. Allerdings handelt es sich hier nicht um freizeitgestalterische Willkür, wie oft angenommen wird, denn der Wille älterer Lerner geistig fit zu bleiben und die Sprache auch in realen Situationen wie auf Reisen anwenden zu wollen, stellt den Lehrer älterer Menschen ( i.e. den Fremdsprachengeragogen) vor hohe Vermittlungsansprüche. Die Tatsache, dass ein relativ freier zeitlicher Rahmen vorhanden ist – Lernziel X muss nicht bis zum Zeitpunkt Y erreicht sein – ist die Basis für einen lernerzentrierten Unterricht; in dem Sinne, dass die Voraussetzungen, Erfahrungen und Erwartungen der einzelnen Lerner im Zentrum des Unterrichtes stehen. „Lernerzentrierung“, eines der Schlagwörter der momentanen fremdsprachendidaktischen Forschung, wird meiner Meinung nach erst dann richtig möglich, wenn die Lerner aus dem institutionalen Zwang befreit sind, unter vorgegebenen Bedingungen (Lehrbuch, Methode) in einem zeitlich festgelegten Rahmen auf ein von außen vorbestimmtes Ziel hin zu lernen. Beim Fremdsprachenlernen im Alter entfallen die zuvor genannten institutionellen Zwänge, wodurch mehr Raum für einen lernerzentrierten Unterricht vorhanden ist.

8. Lernerzentrierung

Um Unterricht auf den Lerner und seine Bedürfnisse zentrieren zu können, muss sich der Lerner selbst seiner Bedürfnisse bewusst sein und ihm muss die Möglichkeit gegeben werden, diese zu äußern. Der Unterricht selbst sollte also Foren bieten, in denen nachgedacht wird über das Warum, Wofür und Wie des Lernens. In diesen Reflexionsphasen, die über eine Diskussion mit Mitschrift oder auch über kurze Fragebögen realisiert werden, können sich der einzelne und auch die Lerngruppe im ganzen bewusst machen, welche Ansprüche und Ziele sie mit dem Kursbesuch verfolgen. Über diesen individuellen Lernplan legen Lehrer und Lerner Schwerpunkte des gemeinsamen Lernens fest, die die Orientierung über ein Lehrwerk hinaus bereichern. Besonders thematische Vorlieben können so durch Zusatzmaterialien befriedigt werden, denn die im Handel üblichen Lehrwerke für Erwachsene sind, mit einigen Einschränkungen, auch für das Fremdsprachenlernen im Alter geeignet.

Lernerzentrierung bedeutet aber – und allem voran – Interesse am lernenden Subjekt. Ältere Menschen haben einen reichen Erfahrungsschatz (kristallisierte Intelligenz!) und zeigen große Bereitschaft, darüber zu erzählen. Fremdsprachliches Lernen kann die eigene Biografie, die eigenen Erlebnisse zu Fixpunkten der schriftlichen und mündlichen Artikulation machen (biografischer Ansatz). Das Tagebuchschreiben in der fremden Sprache ist beispielsweise eine der Techniken, bei der sich der Lerner über die fremde Sprache mit seinen persönlichen Erlebnissen beschäftigen kann. Das Interesse der Lerner füreinander (auch dies eine Spielart der Lernerzentrierung) kann zu Aktivitäten führen, die in formalen Unterrichtssituationen kaum erlaubt sind: So wird der Geburtstag eines Kursmitgliedes ausgiebig gefeiert – wenn möglich mit fremdsprachlichen Gratulations- und Gesangseinlagen. Auf diese Weise kommt eine entspannte Kursatmosphäre zustande; das ist wichtig, denn die späte Freiheit resultiert bei älteren Lernern schnell darin, dass sie sich die Freiheit nehmen, den Kurs zu verlassen, wenn sie sich nicht wohl fühlen. Das Gespür des Lehrers für den Moment ist eine der Voraussetzungen, um eine lernerzentrierte situative Didaktik zu gestalten.

9. Autonomie

Ältere Lerner haben häufig den Wunsch, selbständig zuhause weiter zu lernen und auch dort überprüfen zu können, ob sie Aufgaben richtig oder falsch gelöst haben. Ein Übungsbuch mit Lösungsteil ist also unablässig für Lerner, die so arbeiten wollen – die Realität des Unterrichtes zeigt allerdings, dass es auch eine große Anzahl von älteren Lernern gibt, die gar keine Zeit haben, Hausaufgaben zu machen und sich einzig im Kurs mit der Fremdsprache beschäftigen. Hier stellt sich die allgemeine Frage, inwieweit ältere Lerner überhaupt in der Lage sind selbständig zu lernen – im Fachjargon der Fremdsprachendidaktik “autonom“ zu lernen? Sieht man Autonomie als dynamisches Modell, so wird Autonomie durch die Erfahrungen eines Subjektes und durch das Dazulernen im Moment des Lernens kreiert. Gehen wir kurz zu unserem Anfangsbeispiel zurück: Der pensionierte Schreiner, der endlich Deutsch lernen möchte. Im Laufe seines Lebens hat er viele Erfahrungen gesammelt, aber kaum welche, die mit dem Erlernen einer Fremdsprache zu tun haben. Er ist mit seinem Lernerfolg ganz auf das Geschick des Lehrers angewiesen: Und wenn er Glück hat, bringt der ihm nicht nur die Fremdsprache, sondern auch das Lernen bei. Das „Lernen lehren“ bedeutet, dass Techniken (z.B. der Zettelkasten für Vokabeln) und Strategien (z.B. das Wörterlernen im Kontext) vermittelt werden, die das Lernen vereinfachen. „Lernen lernen“ bedeutet zum Experten zu werden über die Zugänge zu einem Wissenssystem und die eigenen bevorzugten Lernwege herauszufinden: So wird autonomes Lernen möglich (Bimmel/Rampillon 2000). Unsere pensionierte Lehrerin, möchte man annehmen, wird sich leichter tun. Allerdings steht auch ihr Lernen in der Tradition ihrer Erfahrungen. Ihr Zugriff auf die Fremdsprache orientiert sich an ihren Schulerfahrungen, an den Methoden und Strategien, die sie im Laufe ihres Lebens kennen gelernt hat – und diese müssen nicht immer effektiv sein, so dass unter Umständen ein Umlernen notwendig wird. Anhand dieser Beispiele wird klar, dass Lernen im Alter immer auch Phasen des Nachdenkens über das Lernen beinhalten muss, um dem Lerner die Möglichkeit zu geben, sein Tun zu kontrollieren und eventuell zu ändern.

10. Prinzip der expliziten Wiederholung

Anfangs wurde auf die Veränderungen in der Informationsverarbeitung im Laufe des Erwachsenenalters hingewiesen. Je älter ein Mensch wird, desto schwieriger werden für ihn Lernvorgänge. Und das Beherrschen einer Fremdsprache bedeutet nicht nur das Verstehen des Sprachsystems (z.B. Regeln der Wortbildung oder syntaktische Gefüge), sondern auch, dass der Lerner beispielsweise eine große Menge an Wortschatz im Gedächtnis auf lange Zeit speichern muss, um sich in der fremden Sprache artikulieren zu können. Gerade aber die Merk- und Abruffunktionen sind im Alter geschwächt. Daher muss ein Mensch, je älter er ist, um so häufiger wiederholen, um sich Lernstoff merken zu können. Jede Unterrichtseinheit sollte daher eigens ausgewiesene Phasen der Wiederholung beinhalten. So kann am Beginn einer Unterrichtsstunde eine kurze Wiederholung der letzten Stunde stehen, aber auch zwischendurch eine explizit gekennzeichnete Phase („Erinnern Sie sich?“) eingeschoben werden, in der der Lehrer auf längst gelernten (?) Stoff zurückgreift. Auch ist darauf zu achten, dass Lerninhalte auf möglichst viele Arten dargeboten und geübt werden; ideal ist die Aufbereitung beispielsweise eines Textes als Hör-, Lese-, Sprech- und Schreibtext. So werden neue Informationen über verschiedene Sinne erarbeitet, was die Merkfähigkeit erhöht. Auch einfache Mnemohilfen (z.B. das Notieren kurzer Lerninhalte auf Zetteln, die der Lerner immer bei sich hat und bei Gelegenheit durchsieht) sollten im Unterricht vermittelt werden. Allerdings dürfen die Mnemohilfen nicht zu aufwendig sein, um nicht zu einer weiteren Komplizierung des Lernprozesses zu führen.  

11. Prinzip der Deutlichkeit

Das große Bedürfnis älterer Lerner nach exakter Strukturierung von Informationen ist nach dem Prinzip OSEKO als kompensatorische Reaktion zu werten. Die Gerontologie spricht vom sog. „Alters-Komplexitäts-Effekt“: Je komplexer Aufgaben sind, um so schwerer sind sie mit zunehmendem Alter bearbeitbar. Da Informationen nicht ohne weiteres als komplexes Ganzes aufgenommen werden können, dient eine detaillierte Strukturierung der Einteilung eines Informationsganzen in leichter verarbeitbare Teilinformationen. Diese Strukturierung gelingt in einem sprachlichen System besonders bezüglich der Grammatik; hierin begründet sich das große Interesse älterer Lerner an grammatischen Systemen, da sie sich über diesen strukturierten Zugang gesicherte Sprachkenntnisse erwarten. Allerdings muss der Lehrer bei der Strukturierung in kleine Informationseinheiten darauf achten, dass niemals der Bezug zum Informationsganzen verloren geht; eine Ansammlung von disparaten Einzelinformationen wäre die Folge. Diese Strukturierungsarbeit stellt eine der wichtigsten Aufgaben des Fremdsprachengeragogen dar, da er das richtige Maß von Lernstoff detailliert und doch im Gesamtzusammenhang vermitteln sollte.

Eine weitere Ebene der Strukturierung bezieht sich auf den Unterrichtsablauf: Ältere Lerner ziehen ritualisierte Abläufe vor. Günstig ist eine Einteilung der Unterrichtseinheiten nach einem bestimmten Schema, bei dem die Lerner in etwa wissen, welche Lerneinheiten aufeinander folgen. Was jüngeren Lernern als mangelnde Abwechslung erscheint, bedeutet für ältere Lerner Sicherheit. Oft möchten sie dann auch mit Lehrbüchern arbeiten, die sie aus ihrer Jugend kennen und die nach dem Grammatik-Übersetzungs-System klar schematisiert sind und somit auch einen vorhersehbaren Unterrichtsaufbau versprechen. Insofern kann man das Bedürfnis nach Strukturierung auch in den Lernerfahrungen der heute älteren Menschen begründet sehen, denn dem sog. kommunikativen Unterricht ist klare Strukturierung ein geringeres Anliegen. 

Ein anderer Punkt, der in diesem Zusammenhang diskutiert werden muss, ist die Fehlerkorrektur. Ältere Lerner möchten exakte Informationen über das Richtig oder Falsch ihrer fremdsprachlichen Äußerungen. Dieses Bedürfnis nach sprachlicher Korrektur begründet sich in einer mit dem Alter immer weiter abnehmenden Unsicherheitstoleranz. Allerdings sinkt mit dem Alter auch die Frustrationsschwelle. Insofern sollte der Lehrer stark auf die Art und Weise der Korrektur achten. Schriftliche Arbeiten und Hausaufgaben sollten stets auf deutliche Art und Weise vom Lehrer selbst oder im Kurs gemeinsam korrigiert werden. Die Korrektur von Sprechfehlern appelliert an das Feingefühl des Lehrers. Aufgrund der meist vorhandenen Altersdifferenz „junger Lehrer – älterer Lerner“ sollte eine Atmosphäre des gemeinsamen, partnerschaftlichen Lernens herrschen. Korrekturmaßnahmen in einer solchen Atmosphäre tragen dann Hilfs- und keinen Kontrollcharakter. Darauf ist zu achten, denn Angst- und Konkurrenzsituationen sind dem Lernen im Alter abträglich. Es sei noch angemerkt, dass sich die älteren Menschen in ihrer Lernerrolle in einer zwiespältigen Situation befinden, denn einerseits sind sie dem Lehrer in Lebens- und Erfahrungswissen überlegen und andererseits verhalten sie sich – oft in Erinnerung an ihre eigene Schulzeit – nach dem Schülermuster. Der Lehrer sollte sich also stets bewusst sein, dass sich hinter der Schülerrolle mit all ihren Konnotationen der zu achtende ältere Mensch verbirgt.

12. Prinzip der Langsamkeit

Eine wichtige Form der Entlastung bei komplexen Verstehenszusammenhängen ist die langsame Darbietung des Stoffes. Da der Unterricht mit älteren Lernen nicht unter Leistungsdruck steht, kann sich das Unterrichtstempo ganz nach den Bedürfnissen der Lerner richten. Wegen der anfangs beschriebenen Problematik beim Hörverstehen wird immer wieder erwähnt, dass der Lehrer nicht nur laut und deutlich, sondern auch sehr langsam sprechen sollte. Gerade das Verstehen der gesprochenen Fremdsprache stellt auch hohe Ansprüche an die Informationsverarbeitung. Je komplexer die Informationen sind, um so stärker werden die Mechanismen gefordert, die zum Hören der gesprochenen und damit flüchtigen Sprache notwendig sind. Man geht davon aus, dass der Verstehensprozess gesprochener Sprache ein Pendeln der Aufmerksamkeit zwischen neuer und bereits im Gedächtnis vorhandener Informationen darstellt (bottom-up/top-down processing). Ein verlangsamtes Sprechtempo gewährt dabei eine gewisse Erleichterung des Verstehensprozesses. Das reduzierte Sprechtempo darf sich allerdings nicht ebenmäßig auf alle Sprechteile beziehen, sondern sollte sich vor allem auf eine Pausierung an den natürlichen Satz- und Sinngrenzen konzentrieren. Auch sollte der Lehrer auf eine deutliche Prosodik (Betonungen, Rhythmus, Satzmelodie) achten, aber dabei auch nicht übertreiben, denn zu langsames und zu deutliches Sprechen („elder-speak“) kann von älteren Menschen als patronisierend empfunden werden. Zudem sollte der Lehrer neuen Wortschatz nicht über das Hörverstehen einführen und beim Sprechen in der Fremdsprache auf lange und komplexe Satzstrukturen verzichten. Der Blickkontakt mit den Hörern gibt dem Lehrer eine sichere Rückmeldung, ob sein Sprechen auch verstanden wird. Lehrbuchautoren sollten darüber nachdenken, wie Hörverstehensmaterialien auf Kassetten für ältere Lerner neu konzipiert werden könnten; Tapeskripts sind bei der Arbeit mit Kassetten in jedem Falle notwendig.

13. Prinzip der Auswahl

Eine fremde Sprache zu sprechen bedeutet, sie bezüglich aller Fertigkeiten zu beherrschen. Ältere Lerner äußern sich aber immer wieder deutlich zu bestimmten Vorlieben und die liegen meist beim Lesen fremdsprachlicher Literatur. Oft ist diese Vorliebe für die geschriebene Sprache aber auch als Reaktion auf Schwierigkeiten beim Hören und Sprechen der fremden Sprache zu werten. Lesen wird von älteren Lernern auch deshalb als einfacher empfunden, da sie sich ohne Zeitdruck und unter Zuhilfenahme von Zusatzmaterialien wie Grammatiken oder Lexika auf Sprache konzentrieren können. Auf der Ebene der Fertigkeiten kann der rezeptiven Fertigkeit des Lesens in der fremden Sprache insofern ein gewisserer Vorzug eingeräumt werden. Eine wichtiger Aspekt des Unterrichtes ist dann die Vermittlung von Lesestrategien in der Fremdsprache (Basiswissen in Ehlers 1998 und Westhoff 1997).

Auch auf der Ebene der Themen, über die die Fremdsprache erlernt wird, sollten die Lerner eine ihnen entsprechende Auswahl treffen können. Auf die Relevanz von biografischen Themen wurde bereits hingewiesen. Französischkurse für ältere Menschen weisen im Durchschnitt einen 80%igen Anteil von Frauen auf. Günstig ist daher die Auswahl von Themen, die die heutige Generation von älteren Frauen interessieren. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass sich die Fremdsprachendidaktik für ältere Menschen nicht nur durch fachimmanente und medienbezogene Veränderungen ständig weiterentwickeln wird, sondern auch durch die sich stetig ändernden Voraussetzungen und Bedürfnisse der in Zukunft älteren Generationen: Die in 20 Jahren älteren Fremdsprachenlerner werden andere Ansprüche an den Unterricht und seine Teilaspekte stellen als die heutige Generation der über 60-jährigen. Die Fremdsprachengeragogik ist insofern ein Fach, das sich auch aus den spezifischen Charakteristika der Kohorten (Gruppe von gleich alten Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt) immer wieder neu definieren muss. Die Relevanz des Nachdenkens über einen speziellen Fremdsprachenunterricht für ältere Menschen ist jedoch unumstritten, denn immer mehr ältere Menschen werden in Zukunft immer häufiger Bildungsangebote wahrnehmen.

 

Literatur

Baltes, Paul B. (1990): Entwicklungspsychologie der Lebensspanne: Theoretische Leitsätze. In: Psychologische Rundschau 41, 1-24.

Baltes, Paul B. (1995) Die zwei Gesichter der Intelligenz im Alter. In: Spektrum der Wissenschaft 10, 52-61.

Baltes, Paul B. (1997) Die unvollendete Architektur der menschlichen Ontogenese: Implikationen für die Zukunft des vierten Lebensalters. In: Psychologische Rundschau 48, 191-210.

Baltes, Paul B.; Baltes, Margret M. (1989): Optimierung durch Selektion und Kompensation. In: Zeitschrift für Pädagogik 35, 85-105.

Baltes, Paul B.; Baltes Margret M. (1994) Problem “Zukunft des Alters und gesellschaftliche Entwicklung“. In: Baltes, Paul B.; Mittelstraß, Jürgen; Staudinger, Ursula (Hrsg.) Alter und Altern: Ein interdisziplinärer Studientext zur Gerontologie. Berlin, 1-35.

Berndt, Annette (1997) Fremdsprachenlernen im höheren Erwachsenenalter. Ansätze zu einer Sprachgeragogik. In: Info DaF 1 (24); 69-77.

Berndt, Annette (2001) Fremdsprachengeragogik. Motivationen älterer Fremdsprachenlerner. In: Info DaF 1 (28).

Berndt, Annette (in Vorbereitung) Sprachenlernen im Alter. Eine empirische Studie zur Fremdsprachengeragogik.

Bimmel, Peter; Rampillon, Ute (2000) Lernerautonomie und Lernstrategien. Fernstudieneinheit 23. Berlin et al.

Ehlers, Swantje (1998) Lesetheorie und Lesepraxis. Tübingen.

Fleischmann, Ulrich M. (1989) Gedächtnis und Alter. Bern et al..

Klose, Hans-Ulrich (1993) Altern der Gesellschaft. Antworten auf den demografischen Wandel. Köln.

Lehr, Ursula (1991) Psychologie des Alterns. Heidelberg et al..

Schieber, Frank; Baldwin, Carryl L. (1996) Vision, Audition and Aging Research. In: Blanchard-Fields, Fredda; Hess, Thomas M. Perspectives on Cognitive Change in Adulthood and Aging. New York, 122-164.

Singleton, David (Hrsg.) (1989) Language Acquisition: The Age Factor. Clevedon.

Singleton, David; Zsolt, Lengyel (Hrsg.) (1995) The Age Factor in Second Language Acquisition. Clevedon.

Thomae, Hans (1993) Die Bonner Gerontologische Längsschnittstudie (BOLSA). In: Zeitschrift für Gerontologie 26, 142-150.

Westhoff, Gerard (1997) Fertigkeit Lesen. Fernstudieneinheit 17. Berlin et al..

Wingen, Max / Cornelius, Ivar (1994) Demografische Veränderungen: Der Weg in eine „greying world“. In: Olbrich, Erhard; Sames, Klaus; Schramm, Axel (Hrsg.) Kompendium der Gerontologie. Interdisziplinäres Handbuch für Forschung, Klinik und Praxis. 2 Bände, Landsberg am Lech. (Loseblattsammlung), III-3.

 

 

Biographische Angaben

Dr. Annette Berndt

1993 Promotion: „Produktiver Einsatz von Hörspielen und auditiver Dichtung im Unterricht Deutsch als Fremdsprache“(München, iudicium, 1994).

1994-1998: DAAD-Lektorat an der Universität ROMA TRE, Roma.

1999-2001 Habilitation zum Thema: „Sprachenlernen im Alter. Eine empirische Studie zur Fremdsprachengeragogik“.

Forschungsschwerpunkte: Fremdsprachenlernen in der lifelong-Perspektive, Fremdsprachen­lernen im Seniorenalter.

Derzeit Gastprofessorin an der GhKassel.