Vom sprachlichen und sozialen (Wohl-) Gefühl. Ergebnisse einer Befragung der Studierenden des Faches „Deutschlehrerausbildung“ der Hacettepe Universität Ankara

 

Bengül Çetintaş und Silke Ghobeyshi, Ankara

 

In diesem Artikel geht es um das Selbstbild unserer Studierenden, die an der Hacettepe Universität in Ankara das Fach „Deutschlehrerausbildung“ studieren. Dem Artikel liegt eine empirische Erhebung zu Grunde. Die Probanden sind mehrheitlich Rückkehrer aus deutschsprachigen Ländern und so spiegeln sich in ihren Antworten vielfach Erfahrungen einer zweifach unterbrochenen Sprachentwicklung wider. Besonderes Augenmerk wird auf die Selbsteinschätzung ihrer sprachlichen Fertigkeiten sowie auf die Bewertung ihrer Zweisprachigkeit gelegt.   

This article is concerned with the ways in which students at the German Language Teaching Division of Hacettepe University assess themselves. It is based on an empirical study using questionnaires. The subjects are mostly Turkish students who had previously lived in German-speaking countries, which means that their responses reflect in many cases the fact that their language development was interrupted twice. The main focus of the present study is on the ways in which these students assess their language competency and their bilingualism.

 

1. Einleitung

Seit der Einrichtung von „Erziehungswissenschaftlichen Fakultäten“ im Jahr 1982 gibt es in der Türkei das grundständige Fach „Deutschlehrerausbildung“ (Alman Dili Eğitimi Anabilim Dalı), das man inzwischen an 14 entsprechenden Abteilungen studieren kann. Die Zulassung zum Studium erfolgt nach Erwerb des Sekundarschulabschlusses durch die erfolgreiche Teilnahme an der zentralen Universitätsaufnahmeprüfung (ÖSS). Um überhaupt einen Platz an einer Universität zu „gewinnen“, wie man auf Türkisch sagt, müssen sich die vergleichsweise sehr jungen Studienbewerber in einem knallharten Konkurrenzkampf behaupten, denn aufgrund eines Missverhältnisses von jährlich etwa 1,8 Millionen Bewerbern und 550.000 landesweit zur Verfügung stehenden Studienplätzen ist das System der Studienplatzvergabe hochgradig selektierend: über Studienort, Universität und Studienfach entscheidet hauptsächlich die erreichte Punktzahl bei der dreistündigen, zentralen Universitätsaufnahmeprüfung (http://www.osym.gov.tr).

Der große Zulauf auf die Universitäten ist mit einer Arbeitslosenrate von (offiziell) 10% und dem Fehlen eines dualen Ausbildungssystems zu erklären, womit einhergeht, dass nur Hochschulabsolventen eine angesehene und lukrative Arbeitsstelle finden. Türkische Eltern sind bereit, sich für die Ausbildung ihrer Kinder hoch zu verschulden, und tatsächlich übersteigen die privaten Ausgaben für Bildung die staatlichen Ausgaben (http://www.180dk.org.tr/giris.htm). Teure, private Nachhilfeschulen, die auf die zentrale Universitätsaufnahmeprüfung vorbereiten, sind seit Jahren der am stärksten wachsende Wirtschaftssektor.

Die Hacettepe Universität in Ankara ist eine der renommiertesten Universitäten des Landes, die Deutschlehrerausbildung gehört jedoch zu den Fächern, die eine vergleichsweise  geringe Punktzahl bei der ÖSS erfordern. Das Image der Studierenden des vierjährigen Studienfaches ist dementsprechend geprägt von der Vorstellung, dass sie außer Deutsch „nichts können“ und – aufgrund ihrer Prüfungsergebnisse – keine andere, bessere Studienmöglichkeit hatten.

Im folgenden Beitrag geht es um das Selbstbild dieser Studierenden: In unserer Umfrage wurden verschiedene Aspekte ihrer Biografien und ihrer Selbstwahrnehmung erfragt. Das Ziel der Umfrage war ursprünglich die Optimierung der sprachlichen wie fachlichen Förderung vor Ort, im Zuge der Ergebnisauswertung wuchs jedoch unser Wunsch, einen Beitrag zur Diskussion um die Anerkennung von Mehrsprachigkeit zu leisten.

 

2. Durchführung der Untersuchung

Das Austeilen der Fragebögen mit insgesamt 52 Fragen erfolgte unmittelbar vor den letzten schriftlichen Prüfungen im Sommersemester 2004. Erfasst wurden insgesamt 153 Studierende (n = 153), verteilt auf alle vier Studienjahre des „Lisans“-Studiengangs (= B.A.).

Mit der Auswertung der Angaben begannen wir im August 2004, unterstützt durch das Software-Programm GrafStat. Das Programm ist sehr anwenderfreundlich, nachteilig ist lediglich, dass nur einfache Korrelationen ermittelt werden können.

Der Fragebogen wurde in türkischer Sprache verfasst, die Antworten wurden bei der Eingabe in GrafStat von uns übersetzt. Alle offen gestellten Fragen wurden aus Gründen der besseren Auswertbarkeit nachträglich in Antwortgruppen/Clustern kategorisiert, besonders aussagekräftige oder abweichende Antworten werden an entsprechender Stelle zitiert und kommentiert. 

 

3. Die Ergebnisse

3.1 Biografische Angaben

Wie in Lehrerberufen häufig, studieren auch an unserer Abteilung überwiegend junge Frauen: 106 (= 69,3%) weibliche und 47 (= 30,7%) männliche Studierende wurden erfasst. Annähernd 60% der Probanden sind zwischen 21 und 25 Jahre alt, 14 % sogar über 25 Jahre alt. Für türkische Verhältnisse ist dies ein relativ fortgeschrittenes Alter, denn das Universitätseintrittsalter liegt bei einer „typischen“, 11-jährigen Schullaufbahn und dem Bestehen der darauf folgenden Universitätsaufnahmeprüfung bei 17 bis 18. Für die „Überalterung“ kommen verschiedene Gründe in Frage, allem voran Probleme bei der Anerkennung von im Ausland erbrachten Schulleistungen. Bei einem Schulwechsel aus einem nicht dem türkischen Curriculum folgenden Bildungssystem kann nach Bestimmungen des Erziehungsministeriums eine Zurückstufung folgen. Zum anderen könnte hier ein Indiz für (mehrfach) mangelhafte Leistungen im Schul- und/oder Universitätssystem und daraus folgenden Wiederholungen vorliegen. Die letzte, ebenso wenig schmeichelhafte Erklärung ist eine mehrmalige Teilnahme an der Universitätsaufnahmeprüfung, an der man beliebig oft teilnehmen kann – bis die Punktzahl irgendwann ausreicht.

3.2 Angaben zu Aufenthalt und Schulbesuch in einem deutschsprachigen Land

52,9% der Studierenden sind in Deutschland geboren, weitere 7,2% in der Schweiz oder Österreich. Immerhin 103 (=67,3%) hielten sich über 10 Jahre in einem deutschsprachigen Land auf, 47 (30,7%) über 15 Jahre und neun Studierende (= 5,9%) sogar 20 Jahre. Lediglich 20 der 153 Studierenden (=13,1%) waren noch nie in einem deutschsprachigen Land.

Dementsprechend haben 83% der Studierenden im Ausland eine Schule besucht, davon 36,7% zwischen fünf und sieben Jahren und 24,2% mehr als 10 Jahre.

Interessante Rückschlüsse lässt die Frage nach dem besuchten Schultyp zu: 72,5% haben die Grundschule mehrheitlich in Deutschland bzw. Österreich/Schweiz absolviert, aber nur 46,4% haben die Sekundarstufe mehrheitlich in einem deutschsprachigen Land besucht. Von denjenigen Studierenden, die aus Deutschland zurückgekehrt sind, haben 40,3% eine Hauptschule besucht, 29,9% eine Realschule, 16,4% eine Gesamtschule und 11,9% ein Gymnasium (keine Angabe/andere Schulform: 1,5%). Auffallend ist hier der hohe Anteil an ehemaligen Hauptschülern. Von den neun Studierenden, die die Sekundarschule in Österreich oder der Schweiz besucht haben, war jeweils eine/r auf einer Gesamtschule bzw. einem Gymnasium, zwei auf einer Hauptschule (Volksschule) und vier auf einer Realschule.

Neben diesen biografischen Angaben wurde von uns auch die Einschätzung zum Schulsystem der deutschsprachigen Länder erfragt. Zur Auswertung herangezogen wurden lediglich Antworten der Probanden, die auch tatsächlich eine Schule in einem deutschsprachigen Land besucht haben und demnach eine echte Vergleichsbasis hatten. Ermittelt wurden folgende Cluster (Angaben jeweils absolut):

-         Es herrscht Meinungsfreiheit: 5

-         Es gibt keine ÖSS (Universitätsaufnahmeprüfung): 9

-         Betreuung und Förderung sind individueller: 3

-         Man muss nicht auswendig lernen: 22

-         Es wird nach Fähigkeiten beurteilt/gefördert: 9

-         Praxisbezogenes Lernen/Ausstattung: 14

-         Gute Lehrer-Schüler-Beziehung: 14

-         Man wird als Individuum wahrgenommen: 10

-         Es gibt soziale Aktivitäten (Schulausflüge): 5

-         Keine Kleiderordnung: 7

-         Weniger formale Regeln: 2

-         Kleine Klassen/Sozialformen: 5

Auffallend sind hier die zahlreichen Nennungen hinsichtlich der Lernform (Memorieren) und der damit zusammenhängenden Form der Wissensabfrage. Daneben wird besonders die Lehrer-Schüler-Beziehung in den deutschsprachigen Ländern als positiv bewertet.

Auf die darauf folgende, offen gestellte Frage „Was würden Sie am deutschen System ändern wollen“ antworteten über 30% mit „gar nichts“ oder noch expliziter mit „alles ist positiv“. Die Kritik, die mit vier (= 2,6%) Nennungen am häufigsten vorkommt, bezieht sich wiederum auf das Lehrer-Schüler-Verhältnis, bemängelt wird hier der fehlende Respekt gegenüber den Lehrern.

3.3 Angaben zur Remigration, zum Schulwechsel und zur Studienwahl

30,7% der Studierenden sind vor 1995 zurückgekehrt, etwa 40% zwischen 1996 und 1999. Eine echte Rückkehrerwelle, wie sie die Türkei in der Mitte der 1980er Jahre nach bundesdeutschen „Rückkehrhilfen“ erlebt hat, konnte nicht festgestellt werden. 

56,9% der Studierenden bewerten ihre Rückkehr in die Türkei als eher positiv, 30,1 % als eher negativ, 13,1% machten keine Angabe. Auf die offen gestellte Frage, welche positiven Erfahrungen nach der Rückkehr gemacht wurden, werden am meisten (25,5%) menschliche Faktoren wie (Freunde‚ Familie) und (17,6%) soziale Faktoren (Heimat, Vaterlandsliebe) genannt, am wenigsten (unter 5%) äußere Faktoren (Landschaft, Klima, Meer) sowie persönliche bildungsrelevante Faktoren.

Auffallend ist die hohe Zahl derer, die in ihren (offenen) Antworten das ehemalige Fremdsein erwähnen. Antworten wie

- „Ich habe es satt, als Fremder behandelt zu werden“

- „Es ist gut, nicht fremd zu sein“ (8 absolut)

- „Ich habe mich in Deutschland nie wohl gefühlt“

- „Ich bin in der Türkei kontaktfreudiger geworden“

- „Ich habe hier mehr an Wert gewonnen“

- „Niemand betrachtet mich als fremd“

- „Ich werde hier mehr geschätzt“

- „Man kann hier schneller Freunde finden

- „Ich bin endlich kein Ausländer mehr“

sind unserer Einschätzung nach ein deutlicher Hinweis auf Exklusionserfahrungen in den deutschsprachigen Ländern. Ein Unterschied zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz konnte hier nicht festgestellt werden.

In knapp einem Drittel der Antworten wird als positive menschliche Erfahrung nach der Rückkehr das Attribut „sıcak“ (= warm) genannt, welches in unserem Kontext mit warmherzig, freundlich, kontaktfreudig, hilfsbereit übersetzt werden kann und den Erfahrungen der Studierenden zufolge in der Türkei öfter als in den deutschsprachigen Ländern anzutreffen ist.

Zu hinterfragen ist allerdings, ob das Antwortverhalten nicht von einer internalisierten Vaterlandssemantik beeinflusst wurde, denn das Nationalgefühl ist in der Türkei stark ausgeprägt. Aussagen wie

-         „Ich habe die Türkei verteidigt“

-         „Ich liebe die Türkei“

-         „Wir sind alle Türken“

gehen über das am häufigsten genannte Gefühl „zu Hause zu sein“ deutlich hinaus. Letzteres ist indes sehr ernst zu nehmen: nicht mehr als Fremder aufzufallen und nicht mehr allein durch Fremdheit definiert zu werden, stellt für viele eine sehr wichtige Lebenserfahrung dar. 87,6% sind daher auch im Allgemeinen zufrieden, in der Türkei zu leben, lediglich 11,1% sind damit nicht zufrieden (keine Angabe: 1,3%). 

Die für die innerdeutsche Diskussion um Zuwanderung und die europäische Angst vor einem „neuen Türkenansturm“ wohl bedeutendste Aussage ist die Antwort auf die Frage „Wenn die Möglichkeit bestünde, würden Sie (wieder) im Ausland leben wollen?“:

Tabelle 1: Antwort auf die Frage „Wenn die Möglichkeit

bestünde, würden Sie (wieder) im Ausland leben wollen“ in %.

28,1 % der Studierenden antworteten mit Ja, 58,8% mit Nein und 13,1% machten keine Angabe. Von denen, die mit „Nein“ antworteten, verstärkten zwei Studierende ihre Aussage mit der handschriftlichen Bemerkung „asla“ (niemals) und einer mit „kesinlikle“ (auf keinen Fall). Alle drei waren länger als 15 Jahre in einem deutschsprachigen Land.

Sieht man sich diese Angaben im Verhältnis zur Aufenthaltsdauer im Ausland an, so wird das Ergebnis bedenkenswert: 63% (65 absolut) derer, die länger als 10 Jahre in einem deutschsprachigen Land gelebt haben antworteten mit „Nein“, 35,0% (36 absolut) mit „Ja“. Ein (mehr als) zehnjähriger Aufenthalt im Ausland führt demnach eher dazu, auf eine erneute Verlagerung des Lebensmittelpunktes verzichten zu wollen.

Signifikant ist auch der Vergleich zwischen den Studierenden, die in Deutschland gelebt haben, und denen mit einem langjährigen Aufenthalt in der Schweiz oder in Österreich: 71% der „Almancılar“ (= Deutschländer) möchten nicht wieder im Ausland leben, wohingegen sich die Probanden aus den anderen deutschsprachigen Ländern einen erneuten Auslandsaufenthalt mit 69,2 % sehr wohl vorstellen können.

Entgegen allen populären Vorstellungen von eingeschränkten Entfaltungsmöglichkeiten der Mädchen im islamischen Land Türkei sind es gerade die Frauen, die sich in der Türkei besonders wohl fühlen und die noch weniger als die männlichen Kommilitonen ins Ausland zurückkehren möchten. Unter denen, die einen erneuten Auslandaufenthalt ablehnen, sind 74,4 % weiblich und der weibliche Anteil unter denen, die mit ihrem Leben in der Türkei zufrieden sind, beträgt 70%. Die weit verbreitete Auffassung türkischer Eltern, dass „im Westen“ überall Gefahren in Form von im Geschlechterverhältnis weitgehend selbstverantwortlichen Jugendlichen lauern, kann in der Fremde zu einer sehr ausgeprägten sozialen und familiären Kontrolle der Mädchen führen. Nach der Rückkehr in die Türkei lockert sich diese oft wieder: Hier kennt man die Spielregeln und jeder Halbwüchsige weiß um Grenzen und mögliche Sanktionen. Zudem ist Gruppen- und Cliquenbildung in der Türkei weit ausgeprägter als in den deutschsprachigen Ländern und im Schutz des Freundeskreises ist ein lockerer Umgang mit dem anderen Geschlecht gang und gäbe. 

Die häufigste Antwort auf die offen gestellte Frage nach negativen Erfahrungen bei der Reintegration in die Türkei war mit 18,9% „Probleme mit dem Schulsystem“, gefolgt von 8,8 % „Allgemeine Integrationsprobleme“ und 7,8% „Sprachliche Probleme“. Von denjenigen, die „sprachliche Probleme“ angaben, antworteten gleichzeitig 50%, dass sie Türkisch als Muttersprache sprechen, was widersprüchlich ist oder (der überholte Muttersprachenbegriff!) missverstanden wurde. Auf der anderen Seite ist von Migranten in Deutschland oft zu hören, dass sie ihre „Muttersprache“ nicht mehr richtig beherrschten, was mitunter etwas kokett daherkommt und was sie hoffentlich nicht als ihren Beitrag zur Integration ansehen.

Die Anpassung an das türkische Schulsystem bewerten 46,4% als negativ und nur 22% als positiv (keine Angabe: 20,3%).

Auf die offen gestellte Frage nach negativen Faktoren des türkischen Schulsystems antworteten 30,4% „zu viel Auswendiglernen“ und 17,1% „das Prüfungssystem“, womit beide Kritikpunkte sich genau genommen auf den außerschulischen Drill auf die ÖSS-Prüfung beziehen. Auf die offene Frage nach positiven Seiten des türkischen Schulsystems geben 68% keine Antwort, mit 5,8% wurde am häufigsten das Lehrer-Schüler-Verhältnis genannt.

Von besonderem Interesse waren für uns die Antworten auf die Frage „Wollten Sie Deutschlehrer/in werden?“ 68,6% der Probanden antworteten hierauf mit einem deutlichen „Ja“, 31,4% ehrlicherweise mit „Nein“. Mit der darauf folgenden offenen Frage „Weshalb haben sie die Deutschlehrerausbildung gewählt“ wurden die Antworten überprüft und auch hier antworteten nur 30,7 % „keine andere Wahl“. Die größte Gruppe (58,8%) gab „eigener Wunsch“ bzw. „Wunsch der Eltern“ (1,3%) an (5,2% anderes, 3,9% keine Angabe).

Das eingangs geäußerte Bild vom Deutschstudierenden als Systemverlierer, dem kein anderes Studienfach offen stand, ist demnach – zumindest für die Hacettepe Universität – mehrheitlich zu revidieren. Nur auf 34 Studierende trifft zu, was von Studierenden der Deutschlehrerausbildung allgemein vermutet wird: sie sind Rückkehrer aus einem deutschsprachigen Land, beherrschen mehr oder weniger gut Deutsch und studieren an der Abteilung für Deutschlehrerausbildung, weil sie keine andere Wahl hatten. Dies ist zwar eine weit geringere Anzahl als im Vorfeld der Befragung angenommen, in der Lehrpraxis tauchen dennoch – auch in Verbindung mit den studienrelevanten Fertigkeiten – vielfältige, hierauf basierende Schwierigkeiten auf.

3.4 Angaben zu sprachlichen Fähigkeiten und studienrelevanten Fertigkeiten

Um an der Abteilung für Deutschlehrerausbildung aufgenommen zu werden, müssen die Studierenden ausreichende Deutschkenntnisse nachweisen. Jeder, der ein fremdsprachliches Fach (oder z.B. Tourismus) studieren möchte, muss neben der ÖSS noch eine zusätzliche Fremdsprachenprüfung (Yabancı Dil Sınavı, YDS) bestehen. Daneben gibt es universitätsinterne Sprachprüfungen für jede fremdsprachliche Abteilung. Besteht man diese letzte Prüfung nicht, hat man die Möglichkeit, über ein Jahr lang einen Vorbereitungskurs (hazırlık) zu besuchen, der wiederum mit einer Prüfung abschließt.

32,7% unserer Studierenden haben einen solchen Vorbereitungskurs besucht, 45,8% haben die Sprachprüfung auf Anhieb bestanden. 21,6% brauchten die Aufnahmeprüfung nicht abzulegen, weil sie ein Zertifikat über ihre Deutschkenntnisse vorlegen konnten. Dabei handelt es sich bis auf eine Ausnahme um das Deutsche Sprachdiplom II der Kultusministerkonferenz (KMK), das an speziellen Sprachgymnasien (Anadolu Lisesi) nach bestandener Abschlussprüfung erworben werden kann. An einigen dieser staatlichen Gymnasien wird Deutsch als erste Fremdsprache angeboten, teilweise mit Unterstützung von aus Deutschland entsandten Lehrern (2004 insgesamt 29 Lehrer an 12 Gymnasien, vgl. http://www.kulturaustausch-deutsch-tuerkisch.org/de/bildung.htm)

Auf die Frage „Wie schätzen Sie Ihre Deutschkenntnisse ein?“ sieht das Antwortverhalten folgendermaßen aus:

Tabelle 2: Antwort auf die Frage „Wie schätzen

Sie Ihre Deutschkenntnisse ein?“ in %.

Insgesamt glauben demnach über 70%, dass sie gute bis muttersprachenäquivalente Deutschkenntnisse haben und bezüglich des mündlichen Ausdrucks stimmt diese Einschätzung mit unseren Erfahrungen überein. Es gibt, wie Daller (1999) durch umfangreiche Untersuchungen türkischer Studierender feststellte, jedoch enorme Defizite im akademischen Sprachgebrauch. Fast alle Rückkehrer können sich fehlerfrei und oft akzentfrei über alltägliche Dinge unterhalten („basic interpersonal communicative skills“, vgl. Cummins 1979; Daller 1999), Sachtexte oder journalistische Texte auf höherem Niveau zu verstehen (bei Cummins: „cognitive academic language proficiency“) bereitet ihnen jedoch große Mühe. Wissenschaftliches Arbeiten und Schreibtechniken zu lehren ist für uns Dozenten auch deshalb ein schwieriges Unterfangen, weil die Rückkehrer ihre schriftlichen Produktionen für durchaus angemessen halten. Eine generelle Niveausteigerung ist als Lernziel kaum zu vermitteln, weil „man ja Deutsch kann“ und die bestehenden Kenntnisse bislang immer ausgereicht haben.

Die Selbsteinschätzung der Studierenden unterstreicht die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung der einzelnen Fertigkeiten, denn auf die geschlossene Frage, welche der vier Fertigkeiten sie am besten beherrschen, antworteten die meisten Hören (35,7%) und Sprechen (25,2; daneben: Lesen: 20%, Schreiben: 19,2%). Unter denen, die glauben, am besten hören und sprechen zu können, sind jeweils über 94% Rückkehrer. Diejenigen, die in der Türkei Deutsch gelernt haben, gaben als die am besten entwickelte Fähigkeit das Schreiben (48,3%) an (Lesen: 27,3%, Hören: 13,8%, Sprechen: 10,3%). Auf die Kontrollfrage, welche der sprachlichen Fertigkeiten ihnen im Rahmen Ihrer Ausbildung (im Deutschen) am meisten Mühe macht, antworteten die Studierenden folgendermaßen:

     

Nennung
Anteil
Gesprochenes im Detail verstehen und auf das Gesagte reagieren
5,9%
Texte im Detail verstehen und zusammenfassen; über den Text sprechen
20,1%
Zu einem beliebigen Thema produktiv schreiben
16,0%
Während einer Konversation Fragen stellen und beantworten können; angemessen und situationsbezogen sprechen
14,8%
Die grammatischen Regeln richtig anwenden
42,0%
Keine Angabe
1 ,2%

Tabelle 3: Antwort auf die Frage „Welche der folgenden sprachlichen Fertigkeiten

macht Ihnen im Rahmen Ihrer Ausbildung am meisten Mühe? in % (Mehrfachnennung möglich).

Eine Korrelationsanalyse mit der Frage „wo haben Sie Deutsch gelernt?“ brachte folgende Ergebnisse: 98,6% (70 absolut) derer, die nach eigenen Angaben die größten Schwierigkeiten mit der richtigen Anwendung der grammatischen Regeln haben, lernten Deutsch in einem deutschsprachigen Land. Die häufigste Nennung derer, die in der Türkei Deutsch gelernt haben, war wiederum das „angemessene und situationsbezogene Sprechen“. Erfahrungsgemäß sind die grammatischen und vor allem die metagrammatischen Kenntnisse derjenigen, die in der Türkei durch gelenkten Fremdsprachenunterricht Deutsch gelernt haben, tatsächlich besser als die der Rückkehrer - die allerdings mit der intuitiven Anwendung weniger Probleme haben und somit flüssiger sprechen.

Auch mit Hilfe von Textanalysen kann die Selbsteinschätzung der Rückkehrer bestätigt werden: Viele derjenigen, die während eines Gesprächs kaum Fehler machen, weisen in der Textproduktion vielfach Defizite im Grammatikbasisbereich (Artikel, Kasus, Satzbau, Präpositionen, Nomen-Verb-Kongruenz usw.) sowie insbesondere in der Orthografie auf. Eine genauere Analyse des Textkorpus steht hier jedoch noch aus.

Auch die von den Studierenden zugegebenen Schwierigkeiten beim Leseverständnis können von uns bestätigt werden. Folgt man Hurrelmann (1994:20), der zufolge die 

Schriftsprache – ganz gleich, was sie im einzelnen lesen – ein Kommunikationsmodus (ist), der sich von mündlicher Sprache durch Elaboriertheit, Informationsdichte und Situationsabstraktheit unterscheidet

und nach der das ²Lesen die Sprachentwicklung wie keine andere Medientätigkeit² fördert (ebd.), so muss konstatiert werden, dass viele unserer Studierenden offensichtlich wenig Übung im Umgang mit Texten haben.

Eine Überprüfung, ob sich die fertigkeitsbezogenen Angaben im Laufe der Ausbildung ändern, ergab kaum signifikante Ergebnisse. Alle Angaben schwankten um den Mittelwert, lediglich bei der Fertigkeit Hören meinten die Studierenden sich vom 1. Studienjahr (27,1%) bis zum 4. Studienjahr (35,7%) leicht verbessert zu haben.

3.5 Angaben zur Mehrsprachigkeit

Da Teile des Studienprogramms auf Türkisch unterrichtet werden, wurde auch die Einschätzung ihrer Türkischkenntnisse erfragt. Die Antworten waren vorgegeben (Ich spreche Türkisch: als Muttersprache / sehr gut / gut / auf Mittelstufenniveau / nicht gut). Lediglich 36,6% sprachen sich selbst muttersprachliche Kompetenz zu, was ein bedenkenswert niedriger Wert ist. 14,4% (22 absolut) hielten ihr Türkisch sogar nur für „auf Mittelstufenniveau“ (sehr gut: 23,5%, gut: 25,5%).

Defizite im Türkischen sind bei Rückkehrerkindern vor allem im Wortschatzbereich beobachtet worden und viele unserer Studierenden drücken sich tatsächlich auf relativ einfache Weise aus. Da aber alle die ÖSS-Prüfung (mit obligatorischen Türkischteil) bestanden haben, ist davon auszugehen, dass ihre Kenntnisse weit über das „Mittelstufenniveau“ hinausgehen und sie entweder die Niveaustufen nicht richtig einschätzen konnten oder wiederum mit lückenhaften Türkischkenntnissen kokettierten.

Auch in Bezug auf das Türkische wurden die am besten und schlechtesten entwickelten Fertigkeiten erfragt. Die Textproduktion fällt den Probanden im Türkischen noch schwerer als im Deutschen, 60% gaben an, damit Schwierigkeiten zu haben. Anders als im Deutschen ist die am besten entwickelte Fertigkeit das Sprechen (38,4%), dann erst das Hören (25,6%). Das von uns eingesetzte Instrumentarium reicht nicht aus, um diese Angaben überprüfen, doch falls es zutrifft, bestehen im rezeptiven Bereich Defizite, deren Ursache in einem unzureichenden Wortschatz zu suchen ist. Die Fertigkeit Lesen steht dementsprechend mit 17,9% an zweiter Stelle der am wenigsten entwickelten Fertigkeiten.

Die Erhebung schließt mit konkreten Fragen zur Zweisprachigkeit der Studierenden. Zusätzlich zur Frage nach der Einschätzung der eigenen Sprachkompetenz im Deutschen wurde von uns eine zweite Frage nach dem Empfinden des Deutschen gestellt.

Während weiter oben 19% von sich behaupteten, muttersprachliche Kompetenz im Deutschen zu besitzen, gaben 22,9% (= 35 absolut) an, Deutsch „als Muttersprache“ zu empfinden. Von diesen 35 Studierenden hielten sich 34 länger als 10 Jahre in einem deutschsprachigen Land auf und 80% sind weiblich.     

Weitere 55,9% sehen Deutsch als ihre Zweitsprache an und 22,2% empfinden Deutsch als Fremdsprache, darunter gut 50% derer, die noch nie in einem deutschsprachigen Land waren.

Von denen, die Deutsch als Muttersprache empfinden, geben 22,9% (= 8 absolut) an, dass sie „beide Sprachen gleich gut“ beherrschen, somit „ausgewogen zweisprachig“ sind. Unter denen, die Deutsch als Zweitsprache angaben, befinden sich sogar 13 Studierende, die beide Sprachen gleich gut zu beherrschen glauben. Auf die allgemeine Frage „Wie schätzen Sie Ihre Zweisprachigkeit ein?“ antworteten die Studierenden wie folgt:

Nennung
Anteil
Ich spreche beide Sprachen gleich gut
13,7%
Ich habe in beiden Sprachen Defizite
38,6%
Ich beherrsche eine Sprache besser als die andere
45,8%
Keine Angabe
1,9%

Tabelle 4: Antwort auf die Frage „Wie schätzen Sie Ihre Zweisprachigkeit ein?“ in %.

Beachtenswert ist hier der hohe Anteil derer, die ehrlich zugeben, Defizite in beiden Sprachen zu haben. Bedenkenswert auch, dass annähernd 30% von ihnen über 10 Jahre lang in einem deutschsprachigen Land gelebt haben. Türkische Lehrer klagen Daller/Grotjahn (1999:1) zufolge über

the lack of academic language profiency of the returnees in both languages, whereas their everyday language profiency seems to be native-like.

Dies entspricht unseren Erfahrungen mit der sprachlichen Einschätzung der Studierenden: Ihr oft fehlerfreier Sprachgebrauch in der mündlichen Kommunikation (surface fluency) führt dazu, dass sie ihre allgemeine sprachliche Kompetenz überschätzen und auf Kritik an ihren akademischen „Produkten“ mit Unverständnis reagieren. Im Verlauf des Studiums führt dies mitunter zu Motivationsproblemen, denen wir begegnen müssen. Dennoch möchten wir das Augenmerk an dieser Stelle eher auf ihre Fähigkeiten denn auf ihre Defizite lenken.

56,2% der Studierenden glauben, dass der Gebrauch der deutschen Sprache in Schule und Umfeld ihrer Kompetenz im Türkischen geschadet hat. Unter ihnen haben 72,1% (62 absolut) länger als 10 Jahre in einem deutschsprachigen Land gelebt und 62,8% sind im deutschsprachigen Ausland geboren, was auf einen frühen Zweitsprachenerwerb hinweist.

Unter welchen Umständen der Wechsel zwischen Familiensprache und Schulsprache bei jungen Migranten gelingen kann resp. negative Konsequenzen hat, ist ein vielfach untersuchtes Feld der Bilingualismusforschung. Der wichtigste Faktor scheint das „Zuhausesein“ in einer Sprache zu sein, welches nicht nur heißt, dass man diese Sprache altersgemäß beherrscht, sondern auch, dass man sie als gefestigt und durch äußere Einflüsse nicht bedroht empfindet (Siebert-Ott 2001).

Gefragt wurde weiter nach bestimmten Situationen und Zusammenhängen, in denen auf das Deutsche zurückgegriffen wird. Die Antworten wurden in folgende Clustern zusammengefasst (Mehrfachnennung möglich):

Nennung
Anteil
Zählen
6,2%
Buchstabieren
17,5%
Beim Lesen
1,7%
Denken
14,7%
Träumen
2,8%
Bei Wortnot im Türkischen
11,9%
Fluchen
2,8%
Übersetzung in Englische (über Deutsch)
1,1%
Andere
16,4%
Keine Angabe
24,9%

Tabelle 5: Antwort auf die Frage „Gebrauchen Sie in besonderen Situationen (Zählen, Buchstabiere, Denken) die deutsche Sprache?

Falls ja, in welchen Zusammenhängen?“ in %.

Die beiden meistgenannten Nennungen „Buchstabieren“ und „Denken“ waren in der Frage als Beispiel angegeben, das Antwortverhalten war dadurch gelenkt. Die einzige nicht vorgegebene Nennung mit einem vergleichsweise hohen Wert ist „Bei Wortnot im Türkischen“.

Auf die nächste Frage „können Sie im Laufe einer Konversation ohne Mühe von einer Sprache zur anderen wechseln?“ wurde von 85% mit „Ja“ und lediglich von 13,7% mit „Nein“ geantwortet (keine Angabe: 1,3%). 76,2% derer, die ohne Mühe wechseln können, waren zehn Jahre und mehr in einem deutschsprachigen Land, 42,9% derer, die den Sprachwechsel nicht mühelos vollziehen können, haben Deutsch in der Türkei gelernt.

In neueren Publikationen zur Zwei- und Mehrsprachigkeit ist der Aspekt des funktionalen Sprachwechsels zentral. Im Gegensatz zu früheren Auffassungen von Zweisprachigkeit ist heute nicht mehr primär der Grad der Sprachbeherrschung kennzeichnend für Zweisprachigkeit, sondern der kontextgebundene, mühelose Sprachwechsel:

Zweisprachigkeit besteht in der Fähigkeit, spontan eine zweite Sprache erfolgreich zu gebrauchen, wenn die Handlungssituation es empfiehlt. (Graf/Tellmann 1997:245)

Es ist daher an dieser Stelle festzuhalten, dass die überwiegende Mehrzahl unserer Studierenden zweisprachig ist, obwohl fast 40% Defizite in beiden Sprachen angeben. Dies ist unserer Einschätzung nach kein Widerspruch, sondern vielmehr ein Indiz dafür, dass ihre Zweisprachigkeit von der (einsprachigen!) Umwelt zu wenig Wertschätzung erfahren hat. In Erzählungen und Texten erinnern sie sich viel eher an Situationen, in denen sie sprachliche Defizite spürten, als an die vielfachen und vielfältigen zweisprachigen Begegnungen, die sie wie selbstverständlich jeden Tag meisterten.

Dass die Studierenden ihre Zweisprachigkeit durchaus positiv sehen, verdeutlichen die Antworten auf die Frage „Welche Vorteile haben Sie dadurch, dass Sie zwei Sprachen können?“. Nur ein Student, der in Deutschland geboren wurde und über zehn Jahre dort gelebt hat, empfindet seine Zweisprachigkeit als Nachteil und begründet dies mit einem Gefühl des Hin- und Hergerissenseins. Der meistgenannte Vorteil ist „In beiden Ländern kommunizieren zu können“ (27,3%), daneben erhoffen sie sich durch ihre Zweisprachigkeit „bessere Berufschancen“ (25,3%) und ein besseres Verständnis beider Kulturen (22,0%), wobei mehrfach das türkische Sprichwort „Bir dil bir insan, iki dil iki insan“ (eine Sprache ein Mensch, zwei Sprachen zwei Menschen) zitiert wurde.

Darüber hinaus wurde auch nach weiteren Fremdsprachenkenntnissen gefragt. Von den 153 Probanden gaben 110  (71,9%) an, dass sie auch Englisch beherrschen, es gibt jedoch große Unterschiede im Grad der Beherrschung: 1,8% gaben muttersprachliche Kompetenz an, 5,5% meinen, dass sie Englisch sehr gut beherrschen, und 17,3% empfinden ihr Englisch als „gut“. 42,7% halten ihr Englisch für mittelmäßig und 28,2% antworten ehrlich mit „nicht gut“. (keine Angabe: 4,6%).

Von insgesamt 4 Studenten, die angeben, auch Französisch zu beherrschen, geben 3 an, diese Sprache nicht gut zu beherrschen, nur eine/r antwortet mit „mittelmäßig“.

Die überwiegende Mehrheit (94,8%) hat ein allgemeines Interesse an Sprachen, lediglich  4,6% antworten auf die entsprechende Frage mit „Nein“. Auf die Frage „Warum ist es Ihrer Meinung nach heute wichtig, dass man Fremdsprachen lernt?“ geben 42% an, dass es gut bzw. nützlich ist, wenn man mit Angehörigen anderer Kulturen kommunizieren kann, 34,3% sehen durch Fremdsprachenkenntnisse ihre Berufschancen erhöht (andere: 21,3%, keine Angabe 2,4%). Einige der Studierenden arbeiten während der Sommermonate im Tourismusbereich und haben so bereits erfahren, dass sie ihre Mehrsprachigkeit als gesellschaftliche und ökonomische Ressource nutzen können.

 

4. Einschätzung der Ergebnisse und Ausblick

Die Mehrheit unserer Studierenden hat zwei Brüche in ihrer Sprachentwicklung erfahren: Als Migrantenkinder in einem deutschsprachigen Land mussten sie ihre Schullaufbahn auf Deutsch meistern, während zu Hause mehrheitlich Türkisch gesprochen wurde. Nach der Rückkehr in die Türkei vollzog sich der zweite Bruch: die bisherige Familiensprache wurde zur Schulsprache. Zwar wurde im Rahmen der „Rückkehrhilfen“ Mitte der 1980er Jahre von Seiten der deutschen Bundesregierung versucht, den vorhersehbaren Sprachproblemen der Remigranten durch das so genannte „Anadolu-Programm“ zu begegnen (in den Anadolu-Gymnasien mit vermehrt deutschsprachigem Angebot war z.B. vorgesehen, den naturwissenschaftlichen Unterricht auf Deutsch zu unterrichten), diese Gymnasien gibt und gab es jedoch nicht überall, so dass nicht alle Rückkehrer davon profitieren konnten. 

Unabhängig davon fand die Mehrheit des Unterrichts auch hier auf Türkisch statt, die obigen Angaben über sprachliche und schulische Probleme nach der Rückkehr sprechen für sich.

Unter den umfangreichen Studien zur sprachlichen Entwicklung bei Migrantenkindern erscheint uns besonders die Interpendenzhypothese nach Skutnabb-Kangas/Toukomaa (1976) und Cummins (1979) interessant. Die Hypothese besagt:

To the extent that instruction in Lx is effective in promoting proficiency in Lx, transfer of this proficiency to Ly will occur provided there is adequate exposure to Ly (either in school or environment) and adequate motivation to learn Ly. (Cummins 1998).

Ebenso gilt demzufolge:

dass die Muttersprache bis zu einem gewissen Niveau ausgebildet sein sollte, wenn negative Auswirkungen auf den Zweitsprachenerwerb und auf die allgemeine kognitive Entwicklung vermieden werden sollen. (Baur: 2000:131)

Wenn aber die Erstsprache nur außerschulisch gebraucht und nicht gezielt gefördert wird, entwickelt sich die „cognitive-academic language profiency“ (CALP, vgl. Cummins 1979; Daller 1999) folgerichtig nur in der Zweitsprache, der Schulsprache. Dieser Sprachausbau findet im Vergleich zur Entwicklung der „basic interpersonal communicative skills“(BICS) jedoch mit deutlicher Verzögerung statt. Ergebnissen der Spracherwerbsforschung zufolge erreichen Migrantenkinder die „BICS“ im Vergleich zur gleichaltrigen monolingualen Kontrollgruppe sehr schnell, brauchen aber mehr Zeit um vergleichbare Ergebnissen in CALP zu erzielen:

Age appropriate BICS can be achieved within two years after immigration whereas for CALP five, seven an even ten years are mentioned in the literature. (Daller/Grotjahn 1999:2).

Was aber geschieht, wenn Kinder „mit Migrationshintergrund“ noch während oder kurz nach der Entwicklung von „CALP“ in der Zweitsprache zum Schulbesuch in das Land ihrer Erstsprache kommen, ohne in dieser Sprache je die kognitiv-akademische Sprachfähigkeit ausgebaut zu haben, ist unseres Wissens noch unzureichend erforscht.

Daller stellt in seiner Studie über die Sprachfähigkeit türkischer Remigranten (1999) fest, dass die entscheidenden Faktoren für eine adäquate CALP a) die Aufenthaltsdauer in einem deutschsprachigen Land und b) der besuchte Schultyp sind. Davon ausgehend, dass eine lange Aufenthaltsdauer auch einen langjährigen Schulbesuch beinhaltet, wären somit beide Faktoren schulbezogen. Alle anderen Faktoren wie Alter bei Migration/Rückkehr scheinen demgegenüber vernachlässigbar zu sein.

Tatsächlich ist die Ausbildung von CALP im Wesentlichen eine Frage der schulischen Förderung, und weder in den Hauptschulen in deutschsprachigen Ländern noch an den türkischen Gymnasien werden die kognitiv-akademischen Fähigkeiten der Schüler ausreichend geschult. Die zweifellos auf sprachlichen Defiziten basierenden Mängel im kognitiv-akademischen Bereich sind am allerwenigsten den Rückkehrern selbst anzulasten, im Gegenteil ist die defizitäre Wahrnehmung Zweisprachiger durch eine monolinguale Umwelt endgültig aufzubrechen.

Unsere remigrierten Studierenden sind in diesem Sinne Opfer von falschen Vergleichen und überzogenen Erwartungen – obwohl es ihnen nicht gerecht wird, sie als „Opfer“ zu bezeichnen, denn für ihre biografischen Verhältnisse haben sie das Bestmögliche (einen Studienplatz) erreicht. Ihre Defizite nicht übersehend, sehen wir es als unserer primäre Aufgabe an, ihnen zunächst die positiven Seiten und die Potentiale ihrer individuellen Zweisprachigkeit aufzuzeigen. Nur wenn man ihnen das „Defizittrauma“ nimmt und sie stolz sein lässt auf ihre Fähigkeiten und auf das von ihnen Erreichte, kann man sie in einem nächsten Schritt von den Möglichkeiten und Vorteilen der persönlichen Weiterentwicklung überzeugen.

 

Literatur

Baur, Rupprecht S. (2000): Schulischer Zweitsprachenerwerb bei Migrantenschülern – Theorie und Empirie. In: Deutsch als Fremdsprache 3 (2000), 131-135.

Cummins, Jim (1979): Cognitive/academic language proficiency, linguistic interdependence, the optimum age question and some other matters. Working Papers on Bilingualism, No. 19, 121-129.

Cummins, Jim (1998): Beyond Adversarial Discourse: Searching for Common Ground
in the Education of Bilingual Students. Presentation to the California State Board of Education. In:
http://ourworld.compuserve.com/homepages/jWCRAWFORD/ cummins.htm

Daller, Helmut (1999): Migration und Mehrsprachigkeit. Der Sprachstand türkischer Rückkehrer aus Deutschland. Frankfurt/M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien: Peter Lang Verlag (Europäische Hochschulschriften Vol. 211).

Daller, Helmut; Grotjahn, Rüdiger (1999). The Language Proficiency of Turkish Returnees from Germany: An empirical investigation of Academic and Everyday Language Profiency. In: Language, Culture and Curiculum Vol.12, No.2. In: http://www.channelviewpublications.net/lcc/012/0156/ lcc0120156.pdf)

Deutsche Schulen und Schulen mit verstärktem Deutschunterricht. In:http://www.kulturaustausch-deutsch-tuerkisch.org/de/bildung.htm, 27.06.2005.

Graf, Peter; Tellmann, Helmut (1997): Vom frühen Fremdsprachenlernen zum Lernen in zwei Sprachen. Schulen auf dem Weg nach Europa. Frankfurt/M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien: Peter Lang Verlag.

Hurrelmann, Bettina (1994): Leseförderung. In: Praxis Deutsch 127/1994, 17-26.

ÖSYM, Sayısal Bilgiler (Statistiken der Zentrale für Studienplatzvergabe). In: http://www.osym.gov.tr, 27.06.2005

Siebert-Ott, Gesa (2001): „Individuelle Mehrsprachigkeit, gesellschaftliche Mehrsprachigkeit und Schulerfolg“. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 12/1, 39-61.

Skutnabb-Kangas, Tove; Toukomaa, Pertti (1976): Teaching Migrant Children's MotherTongue and Learning the Language of the Host Country in the Context of the Sociocultural Situation of the Migrant Family. – Helsinki: The Finnish National Commission for UNESCO.

Türkiye’de Üniversiteye giriş sistemi araştırması (Studie über das türkische Universitätsaufnahmesystem): In: http://www.180dk.org.tr/giris.htm, 27.06.2005

 

Biographische Angaben

Bengül Çetintaş, Dr. phil.; Studium der Germanistik an der Hacettepe Universität Ankara. Promotion 1991 zum Thema Kontrastive Linguistik. Derzeit als Assistenzprofessorin für Linguistik und Didaktik an der Abteilung für Deutschlehrerausbildung der Hacettepe Universität tätig. Schwerpunkte in den Bereichen Spracherwerb und Didaktik.

Silke Ghobeyshi, Dr.phil.; von 1990 bis 1997 Studium der Fächer Deutsch als Fremdsprache, Linguistik, Spanien- und Lateinamerikastudien und Soziologie an der Universität Bielefeld. 2002 Promotion im Fach Deutsch als Fremdsprache (Thema der Dissertation: „Nationalsozialismus und Schoah als landeskundliche Themen im DaF-Unterricht“). Von 1997 bis 2003 Lehrbeauftragte im Fachbereich DaF an den Universitäten Bielefeld und Osnabrück. Seit 2003 DAAD-Lektorin an der Hacettepe Universität in Ankara und Leiterin des DAAD-Information Centre (IC) Ankara.