Unschuldig schuldig? Zur Schuldfrage und Vermittlung von

Schlinks Der Vorleser im DaF-Unterricht

 

 

Susanne Kleymann, Düsseldorf, & Guido Rings, Cambridge

 

 

Mit seinem Roman Der Vorleser ist Bernhard Schlink auf internationaler Ebene bekannt geworden, aber neben einem außerordentlichen Publikumserfolg und einer überwiegend positiven Kritik kam es gerade in letzter Zeit wiederholt auch zu negativen Besprechungen, die eine vermeintliche Gleichsetzung von Tätern und Opfern moniert haben. Die vorliegende Studie argumentiert gegen eine solche Kritik, und versucht Wege aufzuweisen, in denen das Potential des Romans auf Hochschulebene effizient erarbeitet werden kann. Grundlage der didaktischen Ausführungen sind Unterrichtsversuche mit internationalen Studierenden in Düsseldorf und Cambridge.

 

1. Anmerkungen zur Rezeption des Romans

Mit Bernhard Schlinks Der Vorleser meldet sich die Generation der mit der Schuld der Väter assoziierten „Nachgeborenen” zu Wort. Das Nachwirken der nationalsozialistischen Massenmorde im Bewusstsein der so genannten Täterkinder wurde bereits von verschiedenen Autoren der 70er und 80er Jahre zum Leitthema erhoben. Schlinks Buch gehört aber nicht zur „Väterliteratur”, d.h. zu Texten „von Töchtern und Söhnen, publiziert […] en vogue zwischen 1977 und 1981”, die all zu oft Selbstmitleid pflegen.[1]Der Vorleser erscheint vielmehr als „kritische Aufarbeitung der eigenen Geschichte aus der Sicht der in sie verstrickten Generationen” (Habermas 1995: 23), und geht damit weit über persönliche Zeugnisse und Aufarbeitungsversuche hinaus. Dabei gibt es ein „universelles Gedächtnis an und für sich nicht” (Diner 1996: 18), wie Briegleb mit seinem Verweis auf die „Differenz zwischen deutscher und jüdischer Betrachtungsweise” noch einmal betont hat (1992: 85), und in Schlinks Roman wird exemplarisch für die Literatur der 90er Jahre insbesondere zwischen der Perspektive der Täter und derjenigen der Opfer unterschieden. Ein deutlicher Hinweis ist die kleine Privatbibliothek der Protagonistin und ehemaligen KZ-Aufseherin Hanna Schmitz. Lange Zeit nur mit der Täterperspektive vertraut, hat sie im Gefängnis begonnen, ihre Sichtweise durch Rezeption unterschiedlichster Literatur zu erweitern. Zu ihrer Sammlung gehören Autoren wie Primo Levi, Elie Wiesel, Tadeusz Borowski und Jean Améry (Schlink 1997: 193), die als Vertreter der Opferperspektive seit den 60er Jahren in der westdeutschen Historiographie eine zentrale Rolle einnehmen. Parallel beschäftigt Hanna sich mit den autobiographischen Aufzeichnungen von Rudolph Höss und Hanna Arendts Bericht über Eichmann in Jerusalem aber auch mit wissenschaftlicher Literatur über Konzentrationslager. Eine vergleichbare polyperspektive Erinnerungsstrategie bieten Robert Bobers Was gibt`s Neues vom Krieg?, Christoph Ransmayrs Morbus Kitahara und Gila Lustigers Die Bestandsaufnahme, und auch sie verzichten dabei auf eine wiederholte Detailbetrachtung des Vergangenen zu Gunsten einer intensiveren Auseinandersetzung mit den kognitiven und emotionalen Aspekten der Gegenwart. Hage resümiert: „Die Bücher berichten zumeist indirekt über den Holocaust, indem sie das Nachher beschreiben”, d.h. die „Stunden und Jahrzehnte nach der Katastrophe”  (1999[1995]: 297f.).

Peter Schneider hat in seiner Erzählung Vati ebenfalls die Perspektive der Nachgeborenen im Täterkollektiv gewählt, ohne dabei in die dichotomen Erklärungsmuster der Väterliteratur zurück zu verfallen. In seiner Rede zur Verleihung des Fallada-Preises an Schlink betont er, dass die Kinder der Kriegsgeneration „nicht nur die Kinder von Marx und Coca Cola, sondern auch von Josef Mengele” waren. Schlink habe in seinem Roman „dieses bestgehütete und – verschlüsselte Geheimnis einer Generation vom Panzer der Selbstgerechtigkeit befreit und auf ganz eigenwillige und überraschende Weise in die Literatur geholt” (Schneider 1998). Rezensenten stellen positiv heraus, dass die „Selbstgerechtigkeit der Söhne, die allzu eilfertig triumphierend die Schuld der Väter hochhielten” im Vorleser kritisch betrachtet wird (vgl. Löhndorf 1995: 6). Nicht zufällig fragt sich der Erzähler des Romans, Michael Berg, bei der Beobachtung seiner  Kommilitonen:

„Woher kam die auftrumpfende Selbstgerechtigkeit, die mir bei ihnen so oft begegnete? Wie kann man Schuld und Scham empfinden und zugleich selbstgerecht auftrumpfen? War die Absetzung von den Eltern nur Rhetorik, Geräusch, Lärm, die übertönen sollten, dass mit der Liebe zu den Eltern die Verstrickung in deren Schuld unwiderruflich eingetreten war?” (Schlink 1997: 162f.).

 

Das Neue und Provozierende am Vorleser ist nach Meinung seines Autors vor allem die „menschliche Sicht auf die Täter”, ohne die „wir kein Problem mit ihnen” hätten: „Erst die menschliche Nähe zu ihnen mache das, was sie getan haben, so furchtbar. Wir hätten doch mit den Tätern schon längst abgeschlossen, wenn es wirklich alles Monster wären, ganz fremd, ganz anders, mit denen wir nichts gemein haben” (Schlink, in Hage: 2000: 183). Auch wenn das Täterbild in der Literatur der 90er Jahre insgesamt etwas differenzierter geworden ist,[2] so bleibt zu bestätigen, dass sich kaum ein Autor so weit vorwagt wie Schlink. Der Vorleser erzeugt nämlich durchaus auch Empathie mit der ehemaligen KZ-Wärterin Hanna Schmitz, die der Leser zunächst aus der Perspektive des Erzählers als dessen Geliebte ohne Vergangenheit kennen lernt und die dann später „schuldiger erscheint als sie eigentlich war” (Schlink 1997: 132). Nicht zufällig versucht Michael bis zum Ende des Romans, das Handeln seiner einstigen Geliebten zu verstehen, während er es gleichzeitig verurteilt. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine von Bartov prägnant resümierte israelische Rezeption des Romans, die den Erzähler als Metapher des heutigen Deutschlands deutet, das in die Verbrechen des Holocaust verstrickt bleibe, und „dessen Schmerz darin besteht, an die Verbrecher durch Liebe gebunden zu sein” (1999: 11). Rikin kritisiert demgegenüber, dass Schlink Täter und Opfer auf eine Ebene stellen und der Verbrecherin gegen die Menschlichkeit ein menschliches Gesicht geben würde (ebda.). Der Autor antizipierte letztere Kritik und ließ seinen 1995 fertig gestellten Roman zunächst auf eigene Kosten ins Englische übersetzen und in den USA publizieren, weil er befürchtete, in Deutschland als „politically incorrect” eingestuft zu werden, und allenfalls „Zuspruch von falscher Seite” zu erhalten (Hage 1999: 242).

Insgesamt ist das deutsche und internationale Presseecho auf Schlinks Roman allerdings sehr positiv ausgefallen, späte Wellen von Kritik sind allerdings nicht völlig auszuschließen. Ein solches Beispiel war die erneute Diskussion von Schlinks Werk im Kontext der Publikation von Grass’ Im Krebsgang. In dieser Literaturdebatte wurde zeitweilig sehr aggressiv der Vorwurf geäußert, dass Bücher wie Der Vorleser und Im Krebsgang die Schuld der Deutschen am Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg verharmlosen (Hage 2002: 178). In dem Spiegelartikel „Unter Generalverdacht” wird diese „bizarre” Debatte genauer betrachtet. So wirft die  Süddeutsche Zeitung Schlink vor, er wolle „mit der Vergangenheit aufräumen”, und die Neue Zürcher Zeitung diagnostiziert noch expliziter eine „neue Unbefangenheit der eigenen Geschichte gegenüber” (vgl. Hage 2002: 178). Aus einer solchen Perspektive relativiert ein auf deutsches Leiden ausgerichtetes Werk wie Grass’ Im Krebsgang das Schicksal der Überlebenden des Holocaust, wobei das „Normalisierungsgerede” von Autoren wie Schlink, Grass, Schneider und Forte als zentraler Aspekt des gewünschten „Eintritts in die internationale Opferkultur” gehandelt wird (ebda. S. 179). Exemplarisch moniert Braese in der Zeitschrift Mittelweg 36, dass den deutschen Nazi-Gegnern in Fortes Der Junge mit den blutigen Schuhen (1995) „Opferstatus” zugeschrieben wird (ebda. S. 180).

All dies versperrt freilich den Blick für das Wesentliche. Wenn Forte in seinem Roman über den Bombenkrieg auf Deutschland schreibt, dann nicht um die Schuld der Deutschen zu verringern. Wie in Der Vorleser, Im Krebsgang und auch in der populärwissenschaftlichen Spiegelreihe Die Deutschen als Opfer geht es letztlich um die Erhellung eines weiteren Aspektes deutscher Geschichte, der bisher aus falschem Schamgefühl, aus einer dubiosen Vorstellung von „political correctness”, oder auch aus Interesse an der Förderung eines bestimmten, das eigene System stabilisierenden Geschichtsbildes weitestgehend marginalisiert wurde,[3] für die dritte Generation aber von besonderem Interesse ist: „Vor allem die historisch interessierte, nachgewachsene Generation scheint nun einen unverstellten Blick jenseits von Schuld und Selbstkasteiung zu riskieren. Sie will nicht „aufarbeiten” oder das Unabänderliche gar in Frage stellen, sondern wissen, was war” (Noack 2002). Eine solche Öffnung hin zu einer polyperspektiven Betrachtung deutscher Geschichte unterstützt auch der amerikanische Lyriker C. K. Williams, der in seinem Aufsatz Das symbolische Volk der Täter der Sehnsucht der Deutschen nach Normalität nachgeht, und im Anschluss formuliert: „Keine Frage, die Wahrnehmung der Deutschen von heute wird durch die Vergangenheit verzerrt […]  dieses Bild [gräbt sich jedoch] noch tiefer ein, wenn die Deutschen zu Techniken der Unterlassung und Vermeidung greifen, denn die schaffen ihrerseits wieder Symbole” (2002: 37).

In diesem Sinne leugnet Schlinks Roman in keiner Weise, dass die deutsche Geschichte am historischen Leiden der Juden Anteil hat. Allerdings stehen nicht die Leiden der NS-Opfer im Vordergrund der Handlung sondern vielmehr die private Beziehung zwischen dem Ich-Erzähler Michael Berg und der Protagonistin Hanna Schmitz in ihrer Exemplarität „für den [...] Umgang mit Nationalsozialismus und Holocaust” (Köster 2000: 55). Diese Beziehung ist in gewisser Weise zugleich eine Parabel für den Umgang der nachgeborenen Generation mit den Tätern des Dritten Reichs. „Weil er in ihr nicht allein die Schergin zu erblicken vermag, büßt er die Selbstgewissheit moralischer Überlegenheit gegenüber der Väter- und Tätergeneration ein” (Hage 1995: 260). Der relativ dünne Roman ist in gewisser Hinsicht ein philosophisches Buch, das den Leser verstört und mit vielen offenen Fragen am Ende der Lektüre entlässt. So gibt Schlink keine eindeutigen Antworten und verzichtet insbesondere auf eine Weiterführung der primitiven Gut-Böse-Dichotomie, was als Qualitätsmerkmal eines jeden zeitgenössischen Romans zu betrachten ist. An Stelle tradierter Bilder guter Opfer und „monsterhafter” Täter inmitten eines teuflischen Holocaust fokussiert der Vorleser das Weiterwirken der Problematik bis in die Gegenwart.[4] Zu Recht resümiert Hage: „Das ist kein Ausweichen. Heute wird immer deutlicher, dass die Hoffnung vermessen war, diese Vergangenheit in irgendeiner Form ‚bewältigen’ zu können. Doch muss sie die Nachgeborenen auch nicht […] zum Verstummen und zur Lähmung zwingen” (ebda.). Eine ähnlich deutliche Position gegenüber dem älteren Schulddiskurs bezieht der Erzähler in Schlinks Roman:

„Was sollte und soll meine Generation der Nachlebenden eigentlich mit den Informationen über die Furchtbarkeiten der Vernichtung der Juden anfangen? Wir sollen nicht meinen, begreifen zu können, was unbegreiflich ist, dürfen nicht vergleichen, was unvergleichlich ist, dürfen nicht nachfragen, weil der Nachfragende die Furchtbarkeiten, auch wenn er sie nicht in Frage stellt, doch zum Gegenstand der Kommunikation macht und nicht als etwas nimmt, vor dem er nur in Entsetzen, Scham und Schuld verstummen kann. Sollen wir nur in Entsetzen, Scham und Schuld verstummen? Zu welchem Ende?” (1997: 99f.).

 

Eine stufenweise Annäherung an die Schuldproblematik ist sicher möglich, aber wohl kaum durch ein unreflektiertes Nachbeten von Schuldbekenntnissen bei gleichzeitiger Ausblendung aller menschlichen Aspekte, die dem tradierten Gut-Böse-Schema nicht unmittelbar entsprechen. Vielmehr geht es um eine „Entemotionalisierung der Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich” als Grundlage zu einer besseren „Historisierung”. In einer intakten pluralistischen Gesellschaft muss dies nicht nur möglich sein, sondern es ist auch zwingend notwendig, „denn historische Einseitigkeit, Auslassungen und das Anlegen unterschiedlicher moralischer Maßstäbe beim Umgang mit der Geschichte befördern Ressentiments und neuen Nationalismus” (Reuth 2003: 11). In gewisser Weise bleibt verständlich, dass eine solche Neuorientierung von vereinzelten Kritikern angemahnt und verurteilt wird, und zwar insbesondere von solchen, die sich entweder aus fanatischer Überzeugung und/oder aus Interesse an einer populistischen Ausschlachtung tradierter „Wahrheiten” einer falsch verstandenen „Political Correctness” — Bewegung angeschlossen haben. Ihre polemische Abstrafung all solcher Autoren, die nicht mehr bereit sind in moralischen Gegensatzpaaren zu schreiben, bleibt jedoch unüberzeugend und erlaubt gerade durch ihre simplistische Argumentation mehr Rückschlüsse auf die Kritiker als auf die kritisierten Romane.[5]

 

2. Annäherungen an Schuld und Schuldlosigkeit

Der Leser lernt die 36-jährige Straßenbahnschaffnerin Hanna Schmitz durch die Augen des Schülers Michael Berg kennen. Als sie dem kranken Jungen hilft, der sich in ihrem Hinterhof übergeben hat, wirkt sie zunächst fast mütterlich und ein wenig grob (Schlink 1997: 6). Die Verführungsszene in ihrer Küche leitet freilich eine Wende in der Perspektivik ein: Nun tritt Hannas Körperlichkeit in den Vordergrund, ihr Aussehen, ihr Geruch, ihre Gesten. Sie zeigt in der ausführlich behandelten Liebesaffäre wenig Gefühle und wirkt unnahbar, gleichzeitig aber auch überlegen, stolz und mysteriös. Im Resümee bezeichnet Schlink sie selber als „hardly a candidate for our affection but also not of our dislike” (in: Wachtel 1999: 551). Da Hanna klassische Literatur liebt und „eine aufmerksame Zuhörerin” ist, entwickelt sich bald ein Ritual aus „vorlesen, duschen, lieben und noch ein bisschen bei einander liegen” (Schlink 1997: 43). Michaels Minderjährigkeit und der erhebliche Altersunterschied führen zu einer Marginalisierung der Außenwelt, und so treffen sich die beiden nur äußerst selten außerhalb von Hannas Wohnung (vgl. deren Besuch in Abwesenheit der Familie Berg und den gemeinsamen Ausflug nach Amorbach). Die Beziehung wird von beiden Seiten als persönliches Geheimnis behandelt, wobei dessen Bewahrung durch Hannas außerordentlichen Mangel an sozialen Kontakten wesentlich erleichtert bzw. überhaupt erst ermöglicht wird. Der Leser erfährt aber auch wenig über ihr Leben außerhalb der Liebesbeziehung. So moniert der Erzähler stellvertretend für den Leser: „Ich habe nie erfahren, was Hanna machte, wenn sie weder arbeitete noch wir zusammen waren” (Schlink 1997: 75). Die räumliche Limitierung wird durch eine zeitliche ergänzt, denn Hanna erzählt Michael trotz seines Drängens nur wenig über ihre Vergangenheit, und dies nur in einer Form „als sei es nicht ihr Leben, sondern das Leben eines anderen, den sie nicht gut kennt und der sie nichts angeht” (S. 40). Auch auf Zukunftsplanungen wird weitestgehend verzichtet, und so leben beide im Wesentlichen in der Gegenwart ihres gemeinsamen Treffens.

Die rückblickende autobiographische Erzählweise folgt im Wesentlichen der Chronologie der Ereignisse, d.h. der Erzähler nimmt keine Handlungen und Vorkommnisse vorweg. Er streut lediglich versteckt Hinweise und Andeutungen ein. Somit ist der Leser ebenso überrascht wie der Erzähler, als er Hanna zur Zeit der Auschwitz-Prozesse[6] im Gerichtssaal als Angeklagte wiedertrifft. Die einstige Geliebte enthüllt sich nun, im zweiten Romanteil, als ehemalige Aufseherin eines nationalsozialistischen Konzentrationslagers, die wegen schwerer Verbrechen zu lebenslänglicher Haft verurteilt wird. Die im ersten Teil ansatzweise aufgebaute Empathie scheint damit zunächst aufgelöst zu werden, aber das Verurteilen fällt nicht ganz so leicht. Der „Aufarbeitung der Vergangenheit” stellen sich Gefühle für die frühere Geliebte und für den Menschen Hanna Schmitz in den Weg. Gerade zu letzterem Aspekt gehört das beschämte Verstecken ihres Analphabetismus, den der Leser erst sukzessive mit dem  Erzähler entdeckt. Zweifelsfrei wird diese menschliche Schwäche offenbar, als Michael während eines Spaziergangs die Indizien zusammenfügt (Schlink 1997: 126). Durch die Ich-Perspektive fühlt sich der Leser gerade in diesem Lernprozess unmittelbar angesprochen, d.h. er erlebt Gefühle und Wahrnehmungsänderungen des Erzählers leichter mit. Auch dies verhilft dazu, die „Täterin” zunächst als Mensch und nicht als NS-„Monster” wahrnehmen zu können. Das moralische Dilemma beginnt damit freilich erst, denn Hannas Schuld entzieht sich nun einer pauschalen Aburteilung und öffnet den Weg zu einem unbequemen Verstehensprozess, der zur Kernthematik des Romans avanciert. In der Hinführung des Lesers zur menschlichen Komplexität über „the way [the novel] addresses the subject of guilt” (Kerr 1997: 7) liegt die besondere Qualität von Schlinks Werk.

Betrachten wir zunächst Hannas Analphabetismus näher, so fällt auf, dass hierfür keine Gründe oder Ursachen genannt werden. Über ihre Sozialisation, ihre Kindheit und Jugend in Hermannstadt erfährt der Leser wenig. Sie wird in einigen Eckdaten zusammengefasst, bleibt aber neben ihren politischen Ansichten und Überzeugungen eine weitere Leerstelle in ihrer Biographie. So ist es letztlich nicht möglich, Hanna im Sinne populär-psychologischer Erklärungsschemata als Opfer familiärer bzw. gesellschaftlicher Umstände zu kategorisieren, und ebenso wird die simplistische Etikettierung der Täterin als überzeugte Nationalsozialistin vermieden. Der Analphabetismus prägt verschiedene Aspekte von Hannas Lebens. Einerseits besteht eine deutliche Korrelation zwischen ihrer Isolation und Zurückgezogenheit und ihrer Angst vor einer möglichen Bloßstellung als Analphabetin, was sich in der Beziehung zu Michael spiegelt. Nicht zufällig verbirgt Hanna dieses Geheimnis auch vor ihm, und erfindet statt dessen Ausreden, reagiert aus der Defensive heraus häufig aggressiv, und verlässt ihn schließlich scheinbar grundlos. Ihre Beziehung zu ihm ist ähnlich wie das spätere Verhalten vor Gericht von einem Mangel an Kommunikationsfähigkeit und –willen geprägt. Die Wahrung ihres Geheimnisses wird so zu einer Priorität, die ihr fast alle Aufmerksamkeit abverlangt, und zu einem erheblichen Misstrauen im Umgang mit anderen Personen führt. Diesen Anderen muss ein solches Verhalten als Indifferenz gegenüber sozialen Kontakten erscheinen, und eine Tendenz hierzu ist im Rahmen von Selbstkonditionierungsmechanismen und gruppendynamischen Prozessen kaum auszuschließen.

Hannas fehlende Schreib- und Lesefähigkeit hat auch deutliche Auswirkungen auf ihre Arbeitssituation. So wechselt sie häufig den Arbeitsplatz, kann nur einfache Hilfsarbeitertätigkeiten annehmen und lebt in ständiger Furcht vor neuen Aufgaben bzw. einer möglichen Beförderung, die ihre Schwäche aufdecken könnte. Diesem Fluchtmuster entsprechend geht Hanna schließlich auch zur SS und wird Aufseherin in Auschwitz, nicht weil sie eine überzeugte Nationalsozialistin wäre, sondern weil ihr bei Siemens eine Beförderung angeboten wurde, die ihren Analphabetismus offenbart hätte. Der Erzähler resümiert über Hannas Leben prägnant: „Sie kämpfte immer und hatte immer gekämpft, nicht um zu zeigen, was sie kann, sondern um zu verbergen, was sie nicht kann. Ein Leben, dessen Aufbrüche in energischen Rückzügen und dessen Siege in verheimlichten Niederlagen bestehen” (Schlink 1997: 129). Diese Strategie hat sie derart internalisiert, dass es ihr nicht gelingen kann, ihre Isolation aufzubrechen. Ständig muss sie Situationen und mögliche „Gefahren” antizipieren um ihr Geheimnis zu wahren. Parallel erscheint sie ungleich mehr als reagierendes denn als handelndes Subjekt. Ihre ganze Vitae zeigt immer wieder Reaktionen auf externe Einflüsse an Stelle bewusster verantwortungsvoller Entscheidungen. Konsequenterweise verheimlicht sie dann auch im Gerichtsprozess ihren Analphabetismus, obwohl er sie entlasten würde. Aus Scham, Stolz und Angst vor Bloßstellung erscheint sie als Hauptangeklagte, die angeblich den belastenden Bericht verfasst hat. Der Erzähler und der Leser wissen zu diesem Zeitpunkt aber sehr wohl, dass sie wegen ihres Analphabetismus hierzu unmöglich in der Lage war. Es war ihr noch nicht einmal möglich, die Anklageschrift zu lesen, was im Prozess zu irritierenden Nachfragen führt. Dass „die Angeklagte auf kein Schreiben und keine Ladung reagiert hat” wird allerdings vom Gericht lediglich als weiteres belastendes Indiz gelistet (ebda. S. 94).

Michael Berg kann nach der Erkenntnis von Hannas Analphabetismus viele Aspekte von deren Verhalten während der gemeinsamen Beziehung erklären. Er begreift ihre Scham, und, dass sie „lieber mich befremdet als sich bloßgestellt hatte” (S. 127). „Scham als Grund für ausweichendes, abwehrendes, verbergendes und verstellendes, auch verletzendes Verhalten” ist für ihn leicht nachvollziehbar (S. 127). „Aber Hannas Scham, nicht lesen und schreiben zu können, als Grund für ihr Verhalten im Prozess und im Lager? Aus Angst vor der Bloßstellung als Analphabetin die Bloßstellung als Verbrecherin? Aus Angst vor der Bloßstellung als Analphabetin das Verbrechen?” (S. 127). Hannas Schuld wird in der Anklageschrift ausformuliert, durch den Urteilsspruch bestätigt, und grundsätzlich bleibt eine solche auch für den Leser unumstritten. Gemeinsam mit dem Erzähler muss der Leser jedoch die Schwere dieser Schuld und damit die Verhältnismäßigkeit des Urteils überdenken. Es stellt sich hier zunächst die Frage, in wie weit Anklageführung und Richter auf der Grundlage einer rudimentären Beweislage und extrem subjektiver Zeugenaussagen zu einem gerechten Urteil kommen können. Die zwei in dem Prozess erhobenen Hauptanklagepunkte gelten zum einen den von Hanna und anderen Aufseherinnen regelmäßig durchgeführten Selektionen zu eliminierender Juden im Lager, und zum anderen Hannas Verhalten während der Bombennacht. Ihr Verhalten als Aufseherin und ihre Stellung innerhalb der Befehlshierarchie des Lagers bleiben zwar auch für das Gericht offen, zumal der Verweis auf eine von den Gefangenen als „Pferd” bezeichnete äußerst sadistische Aufseherin trotz aller oberflächlicher Korrelation nicht weiter führt.[7] Andererseits erscheint es „einfach unerträglich, jemanden, der in Auschwitz gewesen und dessen man habhaft war, nicht wegen seines Verhaltens in Auschwitz anzuklagen” (S. 101f.). Als KZ-Aufseherin ist sie immerhin Teil der Maschinerie des Dritten Reiches und damit auch Mittäterin.

Hanna verhält sich während des Prozesses keineswegs taktisch klug sondern gibt als einzige Angeklagte bereitwillig zu, dass die Auswahl der für die Endlösung vorgesehenen Juden von ihr und den mit angeklagten Aufseherinnen in alleiniger Verantwortung durchgeführt wurde, und dass sie während des Kirchenbrandes die Türen für die eingesperrten Juden unter anderem deswegen nicht geöffnet hätten, weil hierfür kein Befehl vorlag. So bleibt sie als Außenseiterin abseits der um eine Verteidigung ihrer Positionen bemühten Angeklagten. Hanna geht es offensichtlich darum, alles „richtig” zu machen, und hierfür gehört für sie die Verpflichtung zu einem faktengerechten Berichten. Der Erzähler resümiert: „Wo sie meinte, ihr geschehe Unrecht, widersprach sie, und sie gab zu, was ihres Erachtens zu Recht behauptet und vorgeworfen wurde” (S. 105). Nicht zufällig wirkt ihre Argumentation bezüglich des eigenen Verhaltens bei den Selektionen und während der Bombennacht sachlich und emotionslos. Beispiele sind: „Die neuen kamen, und die alten mussten Platz machen für die neuen” (S. 106), „Wir haben nicht gewusst, was wir machen sollen” (S. 121), und „Wie hätten wir da noch mal Ordnung reinbringen sollen? Das hätte ein Durcheinander gegeben” (S. 122). Ohne eine solche Offenheit wäre ihre Verurteilung im Rahmen der dürftigen Beweislage der Anklage zweifellos deutlich schwieriger geworden.[8] So aber werden nicht nur die Kläger in eine bessere Position versetzt sondern gleichzeitig auch die anderen Angeklagten, denn deren Verteidiger wissen Hannas Eingeständnisse zur Entlastung ihrer Mandanten zu nutzen. Erschwert wird ihre Problematik auch dadurch, dass die Zeugen aus dem Dorf aufpassen mussten, „dass auf sie nicht der Vorwurf fiel, sie hätten selbst die Gefangenen retten können. Wenn nur die Angeklagten da waren – konnten dann die Bewohner des Dorfs die paar Frauen nicht überwältigen und selbst die Türen der Kirche aufschließen? Mussten sie nicht auf eine Linie der Verteidigung einschwenken, bei der die Angeklagten unter einem auch sie, die Zeugen, entlastenden Zwang handelten? Unter der Gewalt oder dem Befehl von Wachmannschaften, die doch nicht geflohen waren […]?” (ebda. S. 110). Diese Verstrickung von Teilen der einfachen Bevölkerung in eine kollektive Schuld wird dadurch betont, dass es zumindest nach Hannas Angaben „den einen Schlüssel zur Kirche gar nicht gegeben [habe], sondern mehrere Schlüssel zu mehreren Türen, und die hätten von außen in den Schlössern gesteckt” (S. 104f.). In einem solchen Kontext beruft sich Hanna immer wieder auf ihre Befehle und zeigt dabei keine Einsicht in die eigene Schuld. Aus einer solchen Perspektive heraus vermag sie letztlich nicht zu verstehen, was ihr vorgeworfen wird, und am Ende resigniert sie. Der Erzähler selber sucht als Jurastudent die Distanz: Anstatt das ihm relativ verständlich gewordene Gerichtsschauspiel durch einen persönlichen Eingriff zu beenden, beschäftigt er sich mit seiner eigenen Betäubung und Gefühlskälte während der Prozesstage. Die Kommunikation mit Hanna wird bis auf wenige Blickkontakte vermieden, und damit auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Ziel ist es, sie „raus aus meiner Welt, raus aus meinem Leben” zu befördern (S. 93). Wie Köster formuliert „verschleiert” diese während des Prozesses gesuchte Distanz nicht nur die private Bindung an Hanna sondern führt auch „zu problematischen Formen des Umgangs mit der NS-Vergangenheit, die eine angemessene Auseinandersetzung verhindern: zum externalisierenden Verurteilen der Täter […] und zur Handlungsunfähigkeit in der Betäubung, die nicht zuletzt auch aus der Unmöglichkeit, gleichzeitig zu verurteilen und zu verstehen, resultiert” (2000: 60).

Während ihrer 18jährigen Haft, die im dritten Teil des Romans behandelt wird, verändert sich die weibliche Hauptfigur. Viele Jahre hindurch genießt sie den Respekt der Mitgefangenen und ist „schlank und von peinlicher Sauberkeit” (Schlink 1997: 196). Einige Jahre vor ihrer Entlassung zieht sie sich dann „in eine einsame Klause” zurück, begibt sich in eine freiwillige Isolation, legt auf ihr Äußeres keinen Wert mehr, und wirkt dabei aber „nicht unglücklich oder unzufrieden” (ebda. S. 196). Michaels erste Begegnung mit Hanna im Gefängnisgarten (S. 184-188) und die Schilderung der Anstaltsleiterin (S. 92-198) thematisieren diese Entwicklung. Den Schein zu wahren war im Gefängnis offensichtlich nicht mehr so wichtig. Hannas Isolation bleibt zwar: „Ich hatte immer das Gefühl, dass mich ohnehin keiner versteht, dass keiner weiß, wer ich bin und was mich hierzu und dazu gebracht hat” (S. 187). Aber die Alphabetisierung gelingt, und dies erscheint als wesentlicher Schritt „aus der Unmündigkeit zur Mündigkeit [...], ein aufklärerischer Schritt” (S. 178), auch wenn er relativ spät erfolgt. Parallel entwickelt sich ein Schuldbewusstsein, das eng mit dem selbst motivierten Schreiben- und Lesenlernen während der Haft zusammen hängt, denn am Ende liest sie auch die „Literatur der Opfer” und andere Werke über die Zeit des Nationalsozialismus (S. 193). Das Schreiben- und Lesenlernen leitet also einen Entwicklungsprozess ein, in dessen Verlauf sie die mit ihrem Analphabetismus verbundenen alten Flucht- und Verdrängungsmuster überwindet, Einsicht in die eigene Schuld gewinnt und ihren Lebensstandort neu definiert. Ihr Selbstmord kurz vor der Entlassung zeigt freilich, dass sie mit all dem auf sich alleine gestellt außerhalb der schützenden Mauern des Gefängnisses nicht fertig zu werden glaubt. Erst nach ihrem Tod räumt der Erzähler ihr wieder einen Platz in seinem Leben ein, der über das Aufnehmen von Kassetten hinaus geht (S. 187).

Die Frage, ob die NS-Verbrechen bzw. Hannas Schuld durch ihren Analphabetismus verharmlost bzw. gar entschuldigt wird, wird vom Erzähler indirekt gestellt, indem er sein Dilemma reflektiert, nicht zugleich verstehen und verurteilen zu können:

„Ich wollte Hannas Verbrechen zugleich verstehen und verurteilen. Aber es war dafür zu furchtbar. Wenn ich versuchte, es zu verstehen, hatte ich das Gefühl, es nicht mehr so zu verurteilen, wie es eigentlich verurteilt gehörte. Wenn ich es so verurteilte, wie es verurteilt gehörte, blieb kein Raum fürs Verstehen. Aber zugleich wollte ich Hanna verstehen; sie nicht zu verstehen, bedeutete, sie wieder zu verraten. Ich bin damit nicht fertig geworden. Beidem wollte ich mich stellen: dem Verstehen und dem Verurteilen. Aber beides ging nicht” (151f.).

 

Einige Kritiker sprechen in diesem Zusammenhang von „sympathy for the devil” (vgl. Wandrey 1995: 33) und kritisieren den „positiven Blickwinkel” (Michalzik 1995:8), mit dessen Hilfe ihres Erachtens nach das Analphabetentum als Entschuldigungs- bzw. Entlastungsfunktion zweckentfremdet wird.[9] Demgegenüber betont Hage die Problematik von Hannas Unfähigkeit zu „lesen”: „wörtlich und gleichermaßen im weiteren Sinne zu verstehen: Sie kann sich, was sie erlebt und verursacht hat, nicht buchstabieren” (1995: 259). All dies bestätigt Hanna als reagierendes Subjekt, das aus Scham und Angst vor Bloßstellung klaren Vermeidungsstrategien und Fluchtmustern folgt. Mit Mündigkeit, verstanden als „selbständige bewusste Entscheidung jedes einzelnen Menschen” (Adorno 1970: 107), hat der überwiegende Teil ihres Verhaltens wenig gemein. Zu ergänzen wäre, dass Schlink hier auf ein Strukturproblem aufmerksam macht, denn bis heute ist weiterhin eine absolute Mehrheit aller Straftäter minder gebildet oder sogar analphabetisch (vgl. Köster 1998: 46ff.). Das bedeutet freilich nicht, dass Analphabetismus unmittelbar zum Verbrechen führt, ebenso wenig wie Kultur vor Barbarei schützt. Zu den entscheidenden Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges gehört für Frisch ja gerade, „dass Menschen, die voll sind von jener Kultur, Kenner, die sich mit Geist und Inbrunst unterhalten können über Bach, Händel, Mozart, Beethoven, Bruckner, ohne weiteres auch als Schlächter auftreten können; beides in gleicher Person” (1985: 287). Es bedeutet aber sehr wohl, dass Hannas Unfähigkeit zu lesen und zu schreiben in jedem seriösen Prozess als entlastendes Kriterium mit berücksichtigt werden sollte. Festzustellen ist außerdem, dass Hanna sich aus der Perspektive des Erzählers „nicht für das Verbrechen entschieden” hat: „Sie hatte sich gegen die Beförderung bei Siemens entschieden und war in die Tätigkeit als Aufseherin hineingeraten” (Schlink 1997: 128).  Bei aller Schuld, die sie durch ihr geduldiges „Mitmachen” trägt, ist ihre Verurteilung als Hauptschuldige doch völlig unhaltbar. Und die Tatsache, dass weder der Vertreter der Verteidigung noch der Richter oder der Anklagevertreter die Analphabetenproblematik zu erkennen in der Lage sind, wirft kein gutes Licht auf das gespiegelte Gerichtssystem.[10]

Im letzten Kapitel reflektiert der Erzähler Motivation und Intention seines Schreibens. Er schildert die eigenen Vorwürfe und Schuldgefühle in Bezug auf Hanna sowie seinen Zorn auf sie. „Was ich getan und nicht getan habe und sie mir angetan hat – es ist nun eben mein Leben geworden” (S. 205). In der Niederschrift selber sieht er den Beleg für den subjektiven Wahrheitsanspruch seiner Geschichte: „Die Gewähr dafür, dass die geschriebene die richtige ist, liegt darin, dass ich sie geschrieben und die anderen Versionen nicht geschrieben habe. Die geschriebene Version wollte geschrieben werden, die vielen anderen wollten es nicht” (205f.). Abschließen bzw. loswerden kann er diese Geschichte nicht mehr, das Ausformulieren beinhaltet aber ein befreiendes und ausgleichendes Moment. Es bedeutet einen „Frieden mit ihr” initiieren zu können und reduziert die Traurigkeit des Verfassers. Hier zeigt sich eine Parallele zu einem Aufsatz von Schlink mit dem bezeichnenden Untertitel „Von der Notwendigkeit und der Gefahr der Beschäftigung mit dem Dritten Reich und dem Holocaust”, in dem der Autor formuliert:

„Für die junge Generation kann die Vergangenheit des Dritten Reiches und des Holocaust nicht mehr die Gegenwart sein, die sie für meine Generation ist, und wenn die Vergangenheit von ihr nicht abgetan werden soll, muss sie für sie in der Geschichte aufgehoben werden” (2001: 86).

 

Ebenso wenig wie die deutsche Vergangenheit bewältigt und damit abgeschlossen werden kann bzw. soll, kann Michael seine Geschichte mit Hanna loswerden. Erst als er sie als Teil seiner Biographie begreift und akzeptiert, ihr nicht nur eine Nische, sondern einen Platz in seinem Leben einräumt, vermag er eine Form von Frieden zu finden. Dies beinhaltet immer auch eine Kritik an den im ersten Kapitel erwähnten Kritikern, die den Holocaust durch eine Pauschalkategorisierung als „monsterhaft” im Zentrum des perversen Wesens „Anderer”, und zugleich in unüberbrückbarer Distanz zum eigenen Menschlichen, gespiegelt sehen möchten:

„Fixierung auf die Vergangenheit ist nur die Kehrseite der Verdrängung. Enttraumatisierung ist Erinnern- und Vergessenkönnen, ist ein Ruhen lassen, das gleichermaßen Erinnern und Vergessen einschließt” (2001: 84).

 

Keinesfalls darf ein solcher Frieden mit Bequemlichkeit oder Ignoranz gleichgesetzt werden, denn die Akzeptanz einer dauerhaften Gegenwärtigkeit des Vergangenen ist nicht unproblematisch. Schlink betont hier, dass sich Geschichte nur oberflächlich als ein Nacheinander von Ereignissen und den damit verbundenen Empfindungen präsentiert. So resümiert der Erzähler zutreffend: „Die Schichten unseres Lebens ruhen so dicht aufeinander auf, dass uns im Späteren immer Früheres begegnet, nicht als Abgetanes und Erledigtes, sondern gegenwärtig und lebendig” (S. 206). Entscheidend ist in diesem Sinne nicht, „das Unvereinbare zu vereinbaren, sondern in der Zerrissenheit zu leben” (Vitoux 1996: 14). Wenn überhaupt, dann ist ein generalisierendes Verurteilen deutlich einfacher. Nicht zufällig tendiert der Ich-Erzähler nach der Konfrontation mit Hannas nationalsozialistischer Vergangenheit unmittelbar zu Distanz und Aburteilung, und spiegelt dabei das naiv-plakative Geschichtsbild all der Kritiker, die seine Erzählung als „sympathy for the devil” charakterisieren.

 

3. Ansatzpunkte zur Vermittlung im DaF-Unterricht

Im Mittelpunkt der hier nun vorzustellenden, aus Erfahrungen mit mehreren Gruppen fortgeschrittener DaF-Studierender in Düsseldorf und Cambridge abstrahierten Unterrichtssequenz steht die Frage nach Hannas Schuld, die für verschiedenste Lehrveranstaltungen ein ausgezeichnetes Diskussionspotential bietet.[11] All dies ist im Kontext einer Vielfalt von Empfehlungen zur Vermittlung des Romans im Unterricht zu sehen, die über Google leicht zugänglich sind. Hierbei handelt es sich insbesondere um Materialien für den muttersprachlichen Deutschunterricht an Schulen, um Kurzbesprechungen und um Literaturangaben zu diesem Zweck, während unsere Unterrichtssequenz für einen fremdsprachlichen universitären Deutschunterricht konzipiert wurde. Exemplarisch ist in letzterer Hinsicht etwa die Akzentuierung der Schuldfrage aus einer Perspektive internationaler Rezeption des Romans, die unsere von Herkunft und Alter her äußerst heterogenen Gruppen von Studierenden in besonderem Maße angesprochen hat. Hinzu kommen Aspekte einer Wortschatzarbeit, die im Rahmen der schriftlichen Arbeiten der Studierenden überprüft und erweitert werden konnte. Mit Blick auf einen handlungs- und produktionsorientierten Deutschunterricht zeigen sich demgegenüber auch grundlegende Parallelen zum muttersprachlichen Unterricht, die unsere Arbeit geprägt haben. Besonders empfehlenswert ist in diesem Sinne Juliane Kösters Interpretation (2000), die eine fundierte Sachanalyse und interessante Zusatzmaterialien mit Schwerpunkt auf eine historisch-soziologische Grundlagenbildung enthält, allerdings bisher nicht online verfügbar ist. Einen guten Ausgangspunkt bildet auch Michael Lambertys Literatur-Kartei (2001), zu der zahlreiche Einträge in Google erscheinen, nur nicht die vollständige Liste. Spiegel Online ist demgegenüber eine für aufschlussreiche Informationen zur aktuellen Diskussion der Schuldfrage leicht zugängliche Quelle, in der unter anderem die hier verwendeten Aufsätze „Auf dem Eis” (Schlink 2001) und „Unter Generalverdacht” (Hage 2002) heruntergeladen werden können. Wie Köster, so wollen auch wir dem Frage-Charakter von Schlinks Romans Rechnung tragen, indem subjektive Rezeptionsansätze der Lernenden gefördert werden (vgl. hierzu auch Diekhans 2000: 3). Schon wegen der vom Autor gewählten Erzählperspektive ist eine „step-by-step”-Lektüre einer ganzheitlichen Rezeption vorzuziehen, denn hierbei nähern sich die Studierenden der Schuldthematik ähnlich wie der Erzähler sukzessive und relativ unvoreingenommen an, und können so dessen Erkenntnisprozess besser nachvollziehen.

Der Vorleser ist in drei Teile gegliedert, die jeweils eine neue Phase der Beziehung zwischen den Hauptfiguren Michael Berg und Hanna Schmitz spiegeln.[12] Diese Phasen, denen grundlegend verschiedene Erkenntnis- und Bewusstseinszustände zu Grunde liegen, gilt es zumindest in Form einer groben Skizze in Tafel- oder Folienbildern festzuhalten, um im Anschluss die narrativen Strategien des Romans  und damit zugleich die Komplexität der Schuldfrage leichter erarbeiten zu können. Auf der Grundlage des ersten Teils können die Studierenden zunächst in arbeitsteiliger Gruppenarbeit eine vorläufige Charakterisierung der beiden Figuren erstellen. Dabei markieren sie die entsprechenden Passagen in der Textvorlage, die Aufschluss über die biographischen Angaben und Eigenschaften gibt, und halten die Ergebnisse auf einer Folie fest. Die Gruppen präsentieren anschließend ihre Ergebnisse, die dann im Plenum diskutiert werden sollten. Verschiedene Passagen im ersten Teil des Romans geben Aufschluss über Hannas Aussehen und erste Einblicke in ihren Charakter. Ihr Gesicht wird als herb und kräftig beschrieben: „Hohe Stirn, hohe Backenknochen, blaßblaue Augen, volle, ohne Einbuchtung gleichmäßig geschwungene Lippen, kräftiges Kinn. Ein großflächiges, herbes, frauliches Gesicht” (S. 14). Der Erzähler beschreibt ihren Körper als „kraftvoll” und „verlässlich”, und vergleicht ihn explizit mit dem eines Pferdes. Ihre Haltungen und Bewegungen faszinieren den Jungen, da sie weltvergessen und selbstsicher wirken (S. 17). Sie ist eine aufmerksame und kluge Zuhörerin, wenn Michael ihr aus Romanen der Weltliteratur vorliest. Dennoch scheint sie insgesamt eine eher pragmatische und dominante Frau zu sein, die nie ganz die Kontrolle verliert. Sie wird als „kalt” und „herrisch” beschrieben, wenn er sich vor ihr demütigen und entschuldigen muss, und dennoch scheint es ihm „als leide sie selbst unter ihrem Erkalten und Erstarren” (S. 50). Hanna gibt nur widerwillig Antwort auf Michaels Fragen nach ihrer Vergangenheit: „Ich fragte sie nach ihrer Vergangenheit und es war, als krame sie, was sie mir antwortete, aus einer verstaubten Truhe hervor” (S. 40). Einige Eckdaten ihrer Biographie lassen sich im ersten Teil des Romans dennoch zusammen tragen: „Sie war in Siebenbürgen aufgewachsen, mit siebzehn nach Berlin gekommen, Arbeiterin bei Siemens geworden und mit einundzwanzig zu den Soldaten geraten. Seit der Krieg zu Ende war, hatte sie sich mit allen möglichen Jobs durchgeschlagen” (S. 40). Hannas Auskünfte über ihr Leben wirken unbeteiligt, „als sei es nicht ihr Leben” (ebda.). All diese insgesamt relativ spärlichen Informationen werden durch die autobiographische Perspektive Michael Bergs gefiltert. Von ihm sollte hier festgehalten werden, dass er fünfzehn Jahre alt ist, als er Hanna kennen lernt (S. 5). Er betrachtet sich selber zu dieser Zeit als einen Jungen mitten in der Pubertät, der „zu lange Arme und zu lange Beine hat” (S. 39). Er ist auch eher ein unauffälliger Schüler, aber er ist zuversichtlich was seine Zukunft angeht: „Wie viel Energie war in mir, wie viel Vertrauen, eines Tages schön und klug, überlegen und bewundert zu sein, wie viel Erwartung, mit der ich neuen Menschen und Situationen begegnet bin” (ebda.). Sein Vater ist Professor für Philosophie (S. 31), und neben der Mutter werden noch zwei Schwestern und ein Bruder erwähnt (S. 30 u. 41). Die ältere Schwester studiert Germanistik (S. 40), während Michael das Gymnasium besucht. Nach seiner Genesung von einer Gelbsucht beginnt die Affäre mit Hanna, die vom Frühjahr bis Sommer 1959 dauert. Diese Beziehung gibt Michael ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber den Schulkameraden, und beim Abendessen mit der Familie hat er das Gefühl „wie bei einem Abschied” (S. 32). Im direkten Vergleich von Hanna und Michael wird dann im Anschluss deutlich, wie ambivalent die Beziehung dieser ungleichen Partner ist. Verwiesen werden kann vor allem auf das letzte Drittel des ersten Romanteils, in dem der Erzähler von zunehmenden Streitereien zwischen ihm und Hanna berichtet. Dabei wird die unterlegene Rolle des 15-jährigen Schülers deutlich, der sich immer mehr erniedrigt und alle Schuld für Unstimmigkeiten auf sich nimmt: „Ich habe alles auf mich genommen. Ich habe Fehler zugegeben, die ich nicht begangen hatte, Absichten eingestanden, die ich nie gehegt hatte” (S. 50). Eine konstruktive Auseinandersetzung mit den gemeinsamen Problemen, und damit zugleich auch eine intensivere gegenseitige Annäherung sowie ein tiefer gehendes Verständnis füreinander, werden durch Hannas mangelnde Diskussionsbereitschaft verhindert. So kommt es immer wieder zu Missverständnissen, die von den Studierenden im Detail untersucht werden können,[13] und die das folgende Folienbild sinnvoll ergänzen:

Teil 1: Die Liebesaffäre

Hanna Schmitz

Michael Berg

·     36 jährige Straßenbahnschaffnerin

·     aufmerksam zuhörende Analphabetin

·     kräftiger weiblicher Körper

·     selbstsicher, pragmatisch

·     dominant, zuweilen kalt und aggressiv

·     liebevoll, besorgt

·     extrem sauber

·     verschlossen, unnahbar

·       15 jähriger Schüler

·       Gymnasiast aus gebildeter Familie

·       schwacher Körper

·       unsicher, gehorsam, unreif

·       unterlegen, erduldend, erniedrigt sich

·       ...

·       ...

·       kommunikativ, diskussionsbereit

è   erwachsene Frau, Mensch mit Stärken und Schwächen, Verstehensproblematik (Gegensätze?, extreme Sauberkeit?)

è   pubertärer Jugendlicher, „Schüler”

      auch in Liebesfragen

 

Nach der Lektüre des zweiten Romanteils stehen Hannas Schuld und ihr Analphabetismus im Zentrum der Analyse. Ihr Verhalten während des Prozesses und ihre mangelnde Schuldeinsicht sollten unter den folgenden Fragestellungen erarbeitet werden:

1.     Welche neuen Informationen erhält der Leser über Hanna Schmitz und Michael Berg? Die Biographie der Protagonistin kann von den Studierenden während der Lektüre des zweiten Romanteils als Teil ihrer Seminarvorbereitung ergänzt werden. Hierzu gehören insbesondere folgende Daten: Am 21. Oktober 1922 in Hermannstadt geboren, wächst sie in Siebenbürgen auf. Im Alter von 16 kommt sie nach Berlin und arbeitet bei Siemens. Im Herbst 1943 geht Hanna zur SS und ist bis zum Frühjahr 1944 Aufseherin in Auschwitz. Bis zum Winter 1944/45 arbeitet sie als Aufseherin in einem Lager bei Krakau, einem Außenlager von Auschwitz. Seit 1945 wohnt sie in Kassel und anderen Orten und nimmt verschiedene Gelegenheitsjobs an. Von 1950 bis 1959 lebt sie in Heidelberg und arbeitet dort als Straßenbahnschaffnerin.  Es ist auffällig, dass Hanna diese Informationen nur „einsilbig” (S. 92) und nur auf Nachfragen des Richters preisgibt. Nicht zufällig weist ihre Charakterisierung sehr viel mehr Leerstellen auf als die des Ich-Erzählers, von dem man nun erfährt, dass er nach dem Abitur Rechtswissenschaft in Heidelberg zu studieren begonnen hat (S. 84). Als Jurastudent beobachtet er auch den Prozess.

2.     Welches sind die Hauptanklagepunkte? Hier ist festzustellen, dass Hannas Schuld vor allem in der Selektion für Auschwitz (S. 101-103) und in ihrem Verhalten während des Kirchenbrandes gesehen wird (S. 106f., 110-113, 121-124). Auch ist sie als KZ-Aufseherin immer eine Mittäterin.

3.     Welche Aussagen lassen sich mit Blick auf Hannas Motive machen? Zentral ist, dass Hanna behauptet, freiwillig in die SS eingetreten zu sein. Darüber hinaus erscheint sie als überzeugte Nationalsozialistin, weil sie eine bessere berufliche Stellung als Vorarbeiterin bei Siemens ablehnt (S. 91). Tatsächlich verlässt sie Siemens jedoch, um ihren Analphabetismus zu verheimlichen.

4.     Wie verhält sich Hanna während des Prozesses, und was sagt dies über ihre Einstellung zu ihren Taten aus? Hier wäre zu erarbeiten, dass ihre teilweise  kämpferische Selbstverpflichtung zur Wahrheit sich als in höchstem Maße untaktisch und selbst schädigend erweist. Parallel erscheint sie hilflos, resigniert und hochmütig. Hanna hat eine sehr distanzierte Einstellung zu ihren Taten. 

Aus einer solchen Diskussionsrunde lässt sich das folgende Folienbild erstellen:

Teil 2: Hanna als Angeklagte

Informationen

Anklagepunkte

Tatmotive

Verhalten

·     Herbst 1943: Eintritt     in die SS

·     Frühjahr 1944: KZ-Aufseherin (Ausschwitz)

·     Winter 1944/45:

·     Aufseherin in Lager bei Krakau

·       Selektionen für Ausschwitz

·       Untätigkeit bei Kirchenbrand

·       KZ-Aufseherin = Mittäterin

·        Befehle/keine Befehle

·        Verdecken des Analphabetismus

·       stolz und emotionslos

·       untaktisch-geständig

·       resignierend, hilflos

Verurteilung als Kriegsverbrecherin (lebenslänglich)

<-> reagierendes Subjekt, Analphabetin

 

Hannas Negierung eigener Schuld und ihre Hinweise auf Pflichtbewusstsein (S. 122f.) lassen einen Vergleich mit den Prozessaufzeichnungen über reale Nazitäter sinnvoll erscheinen. Auszüge aus einem Artikel der Süddeutschen Zeitung zum Hermine Braunsteiner – Prozess wurden in unseren Unterrichtssequenzen sehr erfolgreich eingesetzt (vgl. Anhang1: „Die Stute von Majdanek”; Anhang 2: Hanna Schmitz – Hermine Braunsteiner). Es könnten hier aber auch Auszüge aus den Aufzeichnungen des Lagerkommandanten Rudolf Höss hinzugezogen werden (Höss 1987). Mangelndes Unrechtbewusstsein und die Berufung auf Befehle erscheinen im direkten Vergleich als äußerst symptomatisch.

Zum Einstieg in die Diskussion um eine mögliche Relativierung von Hannas Schuld auf Grund ihres Analphabetismus eignet sich die eingehendere Analyse einer Kernszene des ersten Romanteils. Es handelt sich um den Ausflug nach Amorbach, in dem der Fokus stärker auf Hanna gelenkt wird. Vor dem endgültigen „Gleitflug [ihrer] Liebe” (S. 67) beschreibt Michael eine besonders glückliche Zeit, die beide in der Woche nach Ostern auf einer Fahrradtour verbringen. Hanna genießt diesen Kurzurlaub, erscheint gelöster und zeigt ihre Freude. Die beiden Protagonisten wirken beinahe unbeschwert. Aber auch in Amorbach holt Hanna ihre Wirklichkeit wieder ein. Obwohl sie Michael die Wahl der Route und Auswahl der Speisen überlässt, wird ihr Analphabetismus letztlich doch wieder zu einer zentralen Problematik, als Michael eines Morgens ohne ihr Wissen das Zimmer verlässt. Er will sie lediglich mit einem Frühstück überraschen und hinterlässt ihr auch eine Notiz auf dem Nachttisch, aber da sie diese nicht lesen kann, kommt es zu einer für den Leser zu diesem Zeitpunkt noch weitgehend unverständlichen Reaktion: Bei Michaels Rückkehr steht sie im Zimmer, „halb angezogen, zitternd vor Wut, weiß im Gesicht” (S. 54), und beginnt den Jungen mit ihrem Ledergürtel zu schlagen. Hannas Perspektive stellt hier eine „Leerstelle” dar, welche die Schüler aus der Retroperspektive besser zu füllen vermögen. Als Einstieg in diese Thematik kann das Bild „Hotel Room” von E. Hopper[14] präsentiert werden, das eine mit hängenden Schultern, halb angezogen in einem Hotelzimmer auf dem Bett sitzende und ein Schriftstück in der Hand haltende Frau zeigt. Die Einsamkeit und gedrückte Stimmung, die dieses Bild beherrschen, sind grundsätzlich leicht auf Hannas Situation übertragbar, und können durch Beschreibung und Kommentar von den Studierenden leicht selber erarbeitet werden.  Ungleich tiefer wird die Auseinandersetzung, wenn sie sich mittels eines Inneren Monologs[15] in die mittlerweile als Analphabetin identifizierte Protagonistin hineinzuversetzen versuchen. Die heuristische Funktion der Fertigkeit „Schreiben” wird hier besonders betont, denn produktionsorientiertes Schreiben im Umgang mit Literatur eröffnet Deutungsspielräume und dient hier insbesondere der Klärung der eigenen Vorstellungen. Durch den Perspektivenwechsel werden Ängste, Schutzmechanismen und Alltagslügen der Analphabetin leichter deutlich. Die in den studentischen Texten ausgestalteten Verstehens- und Deutungsspielräume sollen im Plenum durch den Vergleich mit dem Originaltext überprüft und kommentiert werden. Wichtig ist, dass der Analphabetismus zwar als wesentliches Problem in Hannas Leben begriffen, dabei aber ihre Schuld nicht völlig außer Acht gelassen wird. Hannas Situation wird durch den Inneren Monolog besser verstanden, Grundzüge ihres Verhaltens, zu denen auch eine schnelle Gewaltbereitschaft gehört, bedürfen aber der Mitreflektion und einer differenzierten Betrachtung. Im Anschluss an das zweite Lesen der Hotelszene, die Erstellung des Inneren Monologs und die Detailanalyse von Hannas Problematik bietet sich die Integration eines Sachtextes über die Situation von Analphabeten im zeitgenössischen Deutschland an. Umfassender zu diskutieren wären hier die Folgen eines Fehlens von Schriftsprache in einer postindustriellen Gesellschaft und dessen Auswirkungen auf das persönliche Leben der Betroffenen. Dabei geht es vor allem um eine Verlagerung der Thematik in den persönlichen Horizont der Studierenden, wobei die außerordentlich strenge berufliche und private Begrenzung individueller Handlungsfelder im Rahmen von Scham und Vermeidungsstrategien zu erarbeiten sind.[16] Für die weitestgehend noch industrielle Gesellschaft des Dritten Reiches sind im Anschluss leichte Differenzierungen vorzunehmen.

Im dritten Teil des Romans wird Hannas Verhalten während ihrer achtzehnjährigen Haft beschrieben. Rekonstruiert man die Zeit ihrer Haft, so lassen sich Veränderungen feststellen, die als mögliche Verweise auf den bevorstehenden Selbstmord gelten können, z.B. der starke Rückzug in sich selbst („einsame Klause”, S. 196) sowie die Vernachlässigung ihres Äußeren (S. 186 f.). Michael Berg arbeitet während dessen als Rechtsgeschichtler zunächst an der Universität, und später an einer Forschungseinrichtung (S. 172). Er heiratet schließlich auch und bekommt eine Tochter (Julia), aber seine Ehe mit Gertrud wird geschieden (S. 165). Während dieser Zeit hält er zu Hanna nur sehr lockeren Kontakt durch das gelegentliche Erstellen von Tonbandaufzeichnungen, mit denen das während der Liebesaffäre begonnene Vorlesen literarischer Werke weiter geht. Sie antwortet nie auf seine Pakete, und er verzichtet auf Besuche. Auch hier ist die Erstellung eines einfachen Folienbildes zu empfehlen:

Teil 3: Die Gefangene

Hanna

Michael

·     wird von Mitgefangenen respektiert

·     lernt Lesen und Schreiben

·     liest „Literatur der Opfer” und andere

       Werke zum NS

·     vernachlässigt Äußeres

·     isoliert sich zunehmend mehr

·     begeht Selbstmord

·       schickt Hanna Tonbandaufnahmen

·       gründet eigene Familie

è   Alphabetisierung als Schritt zur Mündigkeit und zum Schuldbewusstsein, neues Leben im alten undenkbar?

è   Außen stehen bleiben, zwischen beobachten und intervenieren, verurteilen und verstehen

 

Eine zentrale Szene ist das Zusammentreffen der beiden im Gefängnisgarten. Die Türen, die auf- und zugeschlossen werden müssen, symbolisieren die Distanz zwischen den Protagonisten. Hanna wirkt nun auf Michael unsicher und wünscht sich eine stille Entlassung, ein mögliches Zeichen der Angst vor dem Leben in Freiheit nach achtzehn Jahren Haft. Außerdem scheint sie die Enttäuschung Michaels zu spüren und weiß, dass ein Anknüpfen an Vergangenes unmöglich geworden ist. Hanna erscheint nach wie vor isoliert. In dem Gespräch mit Michael äußert sie, dass sie sich von den Mitmenschen unverstanden fühlt und dass nur die Toten Rechenschaft von ihr verlangen könnten. Wenn es auch Zeichen gibt, die auf Hannas Suizid hindeuten, so lassen sich über die wirklichen Gründe letztlich lediglich Vermutungen anstellen. Die vom Autor gewählte Erzählperspektive erlaubt keinen unmittelbaren Einblick in das Denken und Fühlen Hannas kurz vor ihrem Tod.

In unseren Seminaren wurde sowohl über letzteren Aspekt als auch allgemeiner über die Angemessenheit der langen Haftstrafe im Kontext von Hannas Schuld sehr lebhaft diskutiert, wobei die Ambivalenz der weiblichen Hauptfigur die Studierenden zu unterschiedlichsten Stellungnahmen provozierte. Die Diskussion in Düsseldorf wurde enger an der Romanvorlage geführt als in Cambridge, wo die Studierenden den Aspekt der Schuldfrage von sich aus auf die aktuelle Diskussion der Schuld der dritten Generation ausweiteten und auf dieser Ebene weiter diskutierten. Eine solche Akzentverschiebung, in der deutlich wurde, dass die Studierenden des Düsseldorfer Seminars nicht über ein vergleichbares Hintergrundwissen zur Herstellung aktueller Bezüge verfügten, kann im Wesentlichen auf die Zusammensetzung der Kurse zurück geführt werden. Der Deutschkurs an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf setzte sich zu einem größeren Teil aus Studierenden außereuropäischer Nationen zusammen (ungefähr die Hälfte kam aus Ländern der GUS-Staaten, ein weiteres Drittel aus China, Japan und Südkorea, eine Minorität aus Spanien, Frankreich und Italien), während das „Cross Cultural Writing and Society” — Seminar in Cambridge ausschließlich europäische Teilnehmer beinhaltete (neben englischen auch einige deutsche, griechische Studentinnen und italienische Studierende). In einem solchen Kontext wurde auch die Frage nach Hannas Schuld tendenziell unterschiedlich beurteilt. In den Düsseldorfer Seminaren wurde sie zwar von einer Mehrheit der Studierenden als „Täterin” betrachtet, ein großer Teil präferierte jedoch eine Doppelkategorisierung als „Opfer” und „Täterin”, d.h. als „unschuldig” und „schuldig” zugleich, und eine Minderheit beurteilte sie sogar als unschuldiges Opfer. Bei einer Wahl von Adjektiven zur weiteren Beschreibung Hannas dominierte der Terminus „grausam”, an zweiter Stelle wurde die Eigenschaft „hilflos”, dann „stark” und schließlich „überlegen”, „erweckt Mitleid” und „feige” gewählt. In Cambridge wurde Hannas Analphabetismus zwar als Erklärungsansatz herangezogen, aber als Opfer wurde sie dennoch von keinem der Studierenden bezeichnet. Es dominierte eine Sichtweise Hannas als hybride Figur im Spannungsfeld von Schuld und Unschuld, wobei die Höhe der Schuld durchaus unterschiedlich bewertet wurde. Die Frage, inwieweit die Generation der Nachgeborenen noch in diese Schuld verstrickt ist, wurde dann schon sehr früh und insbesondere von deutscher und italienischer Seite her emotional betont besprochen, wobei immer wieder auf Elemente der internationalen Diskussion der Schuldfrage zurück gegriffen wurde (vgl. Kapitel 1). Insgesamt wurde so relativ schnell eine abstraktere Ebene erreicht und beibehalten, die sich ungeplant auch bis in eine moralisierende Diskussion über Hannas Schuld hinsichtlich ihrer „Verführung eines Minderjährigen” ausweitete. Die Teilnehmer betonten am Ende der Unterrichtssequenz an beiden Orten übereinstimmend, dass Schlink das Thema „Schuld” in seinem Roman höchst differenziert darstellt und dass sie die Lektüre als sehr stimulierend empfanden. Der Vorleser ist von daher, aber insbesondere auch mit Blick auf die Möglichkeit höchst unterschiedlicher subjektiver Rezeptionsebenen unbedingt für den fremdsprachlichen universitären Deutschunterricht zu empfehlen.

 

Anhang 1: „Die Stute von Majdanek” (Auszug aus Süddeutsche Zeitung, Magazin, vom 13.12.1996)

Was ihr Gatte und die Nachbarn nicht wussten: In führender Funktion verrichtete Hermine Ryan, damals noch Hermine Braunsteiner, von 1942 bis 1944 Dienst im polnischen Konzentrationslager Majdanek – als stellvertretende Schutzhaftlagerführerin. Die Häftlinge in Majdanek hatten für viele SS-Leute Spitznamen, denn niemand von der Kommandantur oder vom Wachpersonal stellte sich mit seinem wahren Namen vor – Hermine Ryan nannte man „Kobyla, die Stute”: weil sie mit ihren eisenbeschlagenen Stiefeln die Menschen trat. Und sie drosch dazu noch mit der Peitsche auf sie ein. Hermine Ryan „war eine Bestie”, schaudert es Simon Wiesenthal heute noch, „deren latente sadistische Veranlagung durch den Betrieb im Konzentrationslager bloßgelegt wurde”. [...] Es war zugleich das erste und einzige NS-Verfahren, in dem weibliche Lagerbedienstete vor einem deutschen Gericht standen. Zu Beginn war von Grauen keine Spur. Angeklagt waren inzwischen betuliche ältere Damen mit Strickkostüm, Wollmütze und Kuchengesicht, Hausfrauen, die man von Heim, Herd und Kaffeekränzchen weggerissen hatte. Nette Omis, die ihr Gesicht vor dem Blitzlichtgewitter der Photographen mit Tüten und Zeitungen schützten. „Bestien”, die in Majdanek „panische Angst verbreiteten”, die „wie besessen” schlugen und „Exzesstaten” begingen.

In der ersten Reihe vor dem Schwurgericht, das Haar unter der Wollmütze frisch geweißt, in weißer Strickjacke über einem auffallend lila Kleid, ein verbittert-kantiges  Gesicht: Hermine Ryan, zu Prozessbeginn 56 Jahre alt. Sie zeigt keine Regung, auch nicht beim Anblick ihrer KZ-Kolleginnen, mit denen sie nach einigen Stunden erste Worte wechselt. Ryan sieht sich drastisch benachteiligt: Die anderen fahren nach den Verhandlungstagen nach Hause, sie dagegen wird als Untersuchungsgefangene abgeführt. Nur einmal kommt sie für acht Monate gegen Kaution frei: 17000 US-Dollar haben die Nachbarn in Queens unter Russel Ryans Federführung zusammengekratzt. Weil sie aber in einer Verhandlungspause eine Zeugin mit den Worten „Sag die Wahrheit, du Lügnerin!” anzischt und so duzenderweise das alte Machtverhältnis im Lager wiederherstellt, kommt sie erneut in Untersuchungshaft. Ihr Mann besucht sie zweimal die Woche. Manchmal bringt er Uhu und Stoff mit: Frau Ryan bastelt. Hermine Ryan ist die Schweigsamste. Wenn sie mal spricht, bestreitet sie die Vorwürfe und beugt sich wieder über ein Rätselheftchen. Einmal ermahnt sie Richter Bogen, sie möge zuhören und nicht mit einem Gummiring spielen, worauf sie zurückschnippt: „Ich höre zu.” Staatsanwalt Dieter Ambacher und Günter Bogen sind in den fünfeinhalb Jahren sehr oft verzweifelt. Es gibt vierhundert Zeugenaussagen, aber keine genauen Täterzuordnungen. „Wir haben viele Leichen, aber keine Täter”, seufzt Ambach einmal: „Viele Zeugen verwechseln Zeit, Ort und Aufseherin, was den Angeklagten zu Gute kommt. Die haushalten mit Auskünften”.

Die Wienerin mit den stets wechselnden Kostümen, die im Prozess zwanghaft ihre Hände knetet, spielt dabei die große Unnahbare. Demonstrativ liest sie amerikanische Zeitungen, bastelt kleine Weihnachtsbäume für die Wachmänner und macht nur Angaben zur Person: Mit 23 Jahren arbeitete sie in einer Berliner Munitionsfabrik, für wöchentlich 16 Reichsmark. Ein Polizist, bei dem sie zur Untermiete wohnte und der den Kommandanten des benachbarten Konzentrationslagers Ravensbrück kannte, vermittelte sie für monatlich sechzig Mark in das Lager. „Freiwillig habe ich mich nicht gemeldet”, erklärt Hermine Ryan, weshalb sie nach Majdanek versetzt wurde. Staatsanwalt Ambacher glaubt ihr das nicht: Der Dienst in Majdanek facht ihren Ehrgeiz an. Schon nach fünf Monaten steigt sie zur stellvertretenden Oberaufseherin auf, kurz darauf wird ihr das Kriegsverdienstkreuz zweiter Klasse ans Uniformrevers geheftet. „Dass wir das rausgefunden haben”, sagt Dieter Ambacher heute, „darauf waren wir sehr stolz. Das mochte die Ryan nicht gern hören.” 

 

Anhang 2: Hanna Schmitz — Hermine Braunsteiner, ein Parallelkonstrukt

·     weibliche Lagerbedienstete als Angeklagte

·     Emotions- und Teilnahmelosigkeit

·     Berufung auf Befehle

·     geringe Kooperation

·     H. Braunsteiner als „Kobyla, die Stute” <-> Hanna als „Pferd”

 

Literatur

Adorno, Theodor W.: „Erziehung – wozu?”, in: Ders. (Hg.): Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969. Herausgegeben von Gerd Kadelbach. Frankfurt/M (1970): Suhrkamp, S. 105-119.

Bartov, Omer (1999): „Deutschland als Opfer”, in: Ha`Aretz vom 28.04.1999, S. 11.

Bober, Robert (1995): Was gibt`s Neues vom Krieg? München: Kunstmann.

Briegleb, Klaus (1992): „Vergangenheit in der Gegenwart”, in: Ders./Sigrid Weigel (Hg.): Gegenwartsliteratur seit 1968. München: dtv, S. 73-116.

Diekhans, Johannes (Hg./2000): Bernhard Schlink: Der Vorleser, Unterrichtsmodell. Paderborn: Schöningh.

Diner, Dan (1996): „Ereignis und Erinnerung. Über Variationen historischen Gedächtnisses”, in: Berg, Nicolas/Jochimsen, Jess/Stiegler, Bernd (Hg.): Shoah. Formen der Erinnerung. Geschichte, Philosophie, Literatur, Kunst. München: Fink, S. 13-30.

Forte, Dieter (1995): Der Junge mit den blutigen Schuhen. Frankfurt am Main: Fischer

Frisch, Max (1985): Tagebuch 1946-1949. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Grass, Günther (2002): Im Krebsgang. Göttingen: Steidl.

Habermas, Jürgen (1995): „Was bedeutet ‚Aufarbeitung der Vergangenheit‘ heute?”, in: Ders. (Hg.): Die Normalität einer Berliner Republik. Kleine politische Schriften VIII. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 21-45.

Hage, Volker (1995): „Der Schatten der Tat”, in: Der Spiegel 47/95, S. 258–265.

Hage, Volker (1999): „Gewicht der Wahrheit”, in: Der Spiegel 13/99, S. 242f.

Hage, Volker (2002): „Unter Generalverdacht”, in: Der Spiegel 15/02, S. 178-180.

Kerr, Philip (1997): „In praise of older woman”, in: Sunday Times vom 23.11.1997, S. 7.

Köster Juliane (2000): Bernhard Schlink. Der Vorleser. München: Oldenbourg Schulbuchverlag (Oldenbourg Interpretation Band 98).

Köster, Juliane/Schmidt, Rolf (1998): „Interaktive Lesung mit Bernhard Schlink”, in: Deutschunterricht 1/98, S. 46-49.

Lamberty, Michael (2001): Literatur-Kartei. Der Vorleser. Mülheim: Verlag an der Ruhr.

Löhndorf, Marion (1995): „Die Banalität des Bösen”, in: Neue Zürcher Zeitung vom 28.10.1995, S. 6.

Lustiger, Gila (1995): Die Bestandsaufnahme. Berlin: Aufbau Verlag.

Michalzik, Peter (1995): „Das Monster als Mensch”, in: Die Tageszeitung vom 9.12.1995, S. 8.

Noack, Hans-Joachim (2002): „Die Deutschen als Opfer”, in: Der Spiegel vom 25/00, S. 28-32.

Ransmayr, Christoph (1995): Morbus Kitahara. Frankfurt am Main: Fischer.

Reuth, Ralf Georg (2003): „Abschied vom Phantom Hitler”, in: Welt am Sonntag 42/03, S. 11.

Rings, Guido (1997): „Ein Streit, der nicht enden will: Strukturelle Grundzüge des Nationalsozialismus in der modernen Historiographie”, in: GEP 8/3, S. 183-186.

Rings, Guido (2000): „Der konditionierte Fremde. Anmerkungen zu Selbst- und Fremdbetrachtungen in Camus` L`Étranger”, in: GRM 50/4, S. 479-500.

Schlink, Bernhard (1997[1995]): Der Vorleser. Zürich: Diogenes.

Schlink, Bernhard (2000): „Ich lebe in Geschichten. Spiegel-Gespräch zwischen Volker Hage und Bernhard Schlink”, in: Der Spiegel 4/00, S. 180-183.

Schlink, Bernhard (2001): „Auf dem Eis. Von der Notwendigkeit und der Gefahr der Beschäftigung mit dem Dritten Reich und dem Holocaust”, in: Der Spiegel 19/01, S. 82-86.

Schmitz, Thorsten/Fuchs, Albrecht: „Die Stute von Majdanek”, in: Süddeutsche Zeitung. Magazin 50 vom 13.12.1996, S. 17-26.

Schneider, Peter (1987): Vati. Erzählung. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand.

Schneider, Peter (1998): Rede zur Verleihung des Fallada-Preises an Bernhard Schlink. Dokumentation des Diogenes Verlags.

Vitoux, Frédéric (1996): „Le diable nazi au corps”, in: Le Nouvel Observateur vom 28.11.1996, S. 14.

Wachtel, Eleanor (1999): „Bernhard Schlink interviewed”, in: Queens Quarterly. A Canadian Review  16/4, S. 545-557.

Wandrey, Uwe (1995): „Frau mit Peitsche”, in: Das Sonntagsblatt 50, vom 15.12.1995, S. 33.

Williams, C. K. (2002): „Das symbolische Volk der Täter”, in: Die Zeit vom 7.11.2002, S. 37f.

 

Biographische Angabe

Susanne Kleymann ist Dozentin für Deutsch als Fremdsprache an der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf und Studienrätin im Schuldienst. Ihr Lehr- und Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich neuerer deutscher Literatur und zeitgenössischem deutschen Film. Bei Vorträgen im europäischen Ausland hat sie insbesondere mit Beiträgen zu Der Vorleser und Lola Rennt auf sich aufmerksam gemacht.

 

Dr. Guido Rings ist Leiter des Fachbereiches Moderne Fremdsprachen und assoziierter Professor für Interkulturelle Studien an der Anglia Polytechnic University in Cambridge. Der Schwerpunkt seiner neueren Publikationen liegt im Bereich komparativischer Film- und Literaturwissenschaften. Exemplarisch wäre hier auf seinen Sammelband zum europäischen Film zu verweisen (European Cinema: Inside Out, mit Rikki Morgan-Tamosunas, Winter-Verlag, 2003), in dem internationale Experten aus verschiedenen Disziplinen das postkoloniale Potential neuerer europäischer Filme erarbeiten. Nach Erzählen gegen den Strich (Lang, 1996) liegt zur Publikation im Sommer nächsten Jahres nunmehr auch ein weiteres Werk zum zeitgenössischen hispanischen Roman vor (Eroberte Eroberer, Vervuert/Iberoamericana, 2005). 



[1] Briegleb schreibt über den Umgang der zweiten Generation mit Nationalsozialismus und Holocaust (1992: 89, 91).

[2] Vgl. etwa die Darstellung der Bewacher in Jurek Beckers Roman Jakob der Lügner.

[3] Zu politisch motivierten Änderungen bei der Darstellung des Nationalsozialismus im Rahmen der bundesdeutschen Geschichtsschreibung vgl. Rings 1997: 183ff. Hier wird unter anderem auf eine Korrelation zwischen der Behandlung des Nationalsozialismus als eine dem stalinistischen Totalitarismus vergleichbare Herrschaftsform und der konservativen deutschen Westblockintegrationspolitik im Kontext des Kalten Krieges verwiesen. Im Rahmen der sozialdemokratischen Ostpolitik kommt es dann nicht zufällig zu einem Perspektivenwechsel, der die Parallelen zwischen deutschem, spanischem und italienischem Faschismus in den Vordergrund holt, und damit zugleich die äußerst kritische Sicht sowjetischer Machtstrukturen marginalisiert. Innerhalb verstärkter europäischer Integrationsbemühungen und eines manifesten Interesses an europäischer und amerikanischer Unterstützung des deutschen „Wiedervereinigungsprozesses” zeigt sich dann seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre ein zunehmendes Interesse an der Erforschung des Nationalsozialismus als einzigartigem Phänomen, mit dem die Totalitarismus- und Faschismusdebatten als veraltet zurückgewiesen werden. Auch wenn ein solches Resümee grober Tendenzen dem außerordentlich weiten und partiell durchaus sehr politikkritischen Spektrum bundesdeutscher Historiographie wenig gerecht wird, so verweist es doch sehr prägnant auf die potentielle Größe politischer Einflussnahme, die das an Schulen gelehrte und über Massenmedien popularisierte NS-Bild, und damit zugleich auch scheinbar „natürliche” Vorstellungen von Schamgefühl und „political correctness”, im Sinne aktueller Herrschaftsstabilisierungsversuche entscheidend mit prägt.

[4] Schlink formuliert hierzu: „For a long time, we had a tendency to make them [our parents] into monsters because if they were grotesque and larger than life, it was easier to explain their participation in the mass destruction that was the holocaust” (in: Wachtel 1999: 548). Vgl. auch Löhndorf (1995: 6) und Michalzik (1995: 8).

[5] Vgl. hier auch Hages provokatorische Frage: „Sind die ideologischen Mängelrügen erst der Anfang eines neuen Generalverdachts, unter den sich jene deutsche Literatur gestellt sieht, die aus dem Abstand eines halben Jahrhunderts heraus (und zum Teil aus zweiter Hand) die von den Deutschen ausgelöste Katastrophe des Weltkriegs neu erzählen möchte?” (2002: 181).

[6] Die in den 60er und 70er-Jahren verhandelten Auschwitzprozesse vor dem Schwurgericht beim Landgericht Frankfurt am Main gehören zum soziohistorischen Hintergrund des Romans.

[7] Michael vergleicht Hanna schon früh mit einem Pferd, das sich „glatt und weich und darunter fest und stark” anfühlt (S. 68). Der Verweis auf eine Aufseherin, die die Gefangenen „Pferd” nannten, erinnert an den Majdanek-Prozess von 1975 bis 1981 in Düsseldorf. Die Angeklagte Hermine Ryan, geborene Braunsteiner, wird dort wegen ihrer häufig zum Einsatz gekommenen eisenbeschlagenen Stiefel und der Peitsche „Kobyla, die Stute” genannt. Ähnlich wie Hanna Schmidt verhält auch sie sich während des Prozesses wenig kooperativ und teilnahmslos. Überliefert ist, dass sie strickt sowie Rätselheftchen löst und nur direkte Vorwürfe bestreitet. In den von ihrem Anwalt verfassten Schlussworten bezeichnet sie sich als „Zahnrad im Getriebe” und „Glied einer Kette”. Der vorsitzende Richter, Günter Bogen, resümiert interessanterweise unter Rückgriff auf tradierte binäre Sozialbilder, dass der Nationalsozialismus „die in ihr ruhende Monstrosität aktiviert” habe. Es handelt sich dabei um das einzige Verfahren, das gegen weibliche Lagerbedienstete vor einem deutschen Gericht geführt wurde. Vgl. die Reportage von Schmitz und Fuchs für einen ersten Einblick (1996: 17-26).

[8] Es gab lediglich zwei Zeugen, die nur sehr begrenzt Auskunft über die Vorgänge geben konnten.

[9] Vgl. Köster: „Die ablehnende Kritik an der Verknüpfung von NS-Verbrechen und Analphabetisierung geht davon aus, dass durch die Einführung dieses Erklärungsmoments die Verantwortung der Täter reduziert und die Schuld relativiert werde, insofern das Verbrechen nicht primär auf freier Entscheidung beruht, sondern als Folge von mangelnder Einsicht in den Handlungsspielraum und die Folgen der Entscheidung erscheint” (2000: 52f.).

[10] Wenn das Theaterspiel im Gerichtssaal nicht vollständig zur Groteske ausgearbeitet wird, so mag dies nicht zuletzt mit Schlinks Hintergrund als hauptberuflichem Juraprofessor zusammen hängen. Bei allen Hinweisen auf Schwächen im System, wird doch vermieden, kafkaesken oder camuschen Modellen zu folgen. Zur Absurdität moderner Gerichtsverfahren in Camus’ L’Étranger vgl. etwa Rings 2000: 480ff.

[11] In ersterem Fall handelte es sich um Teilnehmer des DaF-Zusatzqualifikationsprogramms der Deutsch als Fremdsprache Abteilung der Universität Düsseldorf. Der überwiegende Teil dieser Lerner befand sich im Hauptstudiumsabschnitt eines Germanistikstudiums. In letzterem Fall wendete sich die Sequenz an Studierende des Fachbereichs „Modern Foreign Languages and Intercultural Studies” der Anglia Polytechnic University — Cambridge, die sich mit einer Kombination wie „German and Intercultural Studies” im letzten Studienjahr ihres BA-Honours Degree befanden. Auf beiden Seiten gab es verschiedene Unterrichtsversuche, die von einer zweistündigen Seminareinheit im Anschluss an eine ganzheitliche Lektüre des Vorlesers bis zu einer auf drei Wochen verteilten sechstündigen Veranstaltungsreihe reichte. Wegen dieses Experimentalcharakters in der Durchführung sowie der Heterogenität der Lerngruppen wurde auf einen direkten Vergleich der Lernfortschritte verzichtet. Statt dessen wird hier aus den verschiedenen Erfahrungen eine für den Unterrichtseinsatz mit heterogenen Studierenden abstrahierte Synthese aufgestellt, die eine sechstündige Unterrichtsreihe auf der Grundlage einer „step-by-step”-Lektüre des Romans favorisiert.

[12] Die Romanhandlung beginnt Ende der fünfziger Jahre und umfasst einen Zeitraum von etwa 25 Jahren.

[13] Als wirkungsvoll erweist sich der laute Vortrag des Dialogs nach Michaels Überraschungsbesuch in der Straßenbahn, Hannas Arbeitsplatz. Die hier besonders deutliche Störung der Kommunikationsstrukturen kann anschließend im Plenum analysiert werden.

[14] Über die Suchmaschine Google sind zahlreiche Kopien des Bildes „Hotel Room” von Edward Hopper leicht zugänglich, die als Folie im Unterricht eingesetzt werden können. Vgl. http://www.abacus-gallery.com/paintings/Edward_Hotel_Room_1931.shtml.

[15] Um den Studierenden das Verfassen des Inneren Monologs zu erleichtern, sollten zunächst wesentliche Kriterien dieser Textsorte erläutert werden: Ich-Perspektive, Präsens, kurze assoziative Sätze etc. Außerdem kann der erste Satz vom Lehrer vorgegeben werden, damit der Schreibprozess schneller in Gang gesetzt wird.

[16] Im Rahmen einer englischen Lerngruppe war ein Studierender durch Erfahrungen mit „Charity Work” mit der Situation von Analphabeten in unserer zeitgenössischen Gesellschaft besonders vertraut, was die Diskussion erheblich bereicherte. Im Allgemeinen muss aber zunächst von einem sehr begrenzten Verständnis für eine solche Außenseiterposition ausgegangen werden. Mitunter wurde deren Existenz von den Studierenden sogar als Vergangenheits- bzw. „Dritte Welt Phänomen” kategorisiert, was durch die Integration entsprechender Sachtexte leicht relativiert werden konnte.