Unschuldig schuldig? Zur Schuldfrage und Vermittlung von
Schlinks Der Vorleser im DaF-Unterricht
Susanne Kleymann, Düsseldorf,
& Guido Rings, Cambridge
Mit
seinem Roman Der Vorleser ist Bernhard Schlink auf internationaler
Ebene bekannt geworden, aber neben einem außerordentlichen Publikumserfolg
und einer überwiegend positiven Kritik kam es gerade in letzter Zeit
wiederholt auch zu negativen Besprechungen, die eine vermeintliche Gleichsetzung
von Tätern und Opfern moniert haben. Die vorliegende Studie argumentiert
gegen eine solche Kritik, und versucht Wege aufzuweisen, in denen das Potential
des Romans auf Hochschulebene effizient erarbeitet werden kann. Grundlage
der didaktischen Ausführungen sind Unterrichtsversuche mit internationalen
Studierenden in Düsseldorf und Cambridge.
1. Anmerkungen zur Rezeption des Romans
Mit Bernhard Schlinks Der Vorleser meldet sich die Generation der mit der Schuld der
Väter assoziierten „Nachgeborenen” zu Wort. Das Nachwirken der
nationalsozialistischen Massenmorde im Bewusstsein der so genannten Täterkinder
wurde bereits von verschiedenen Autoren der 70er und 80er Jahre zum Leitthema
erhoben. Schlinks Buch gehört aber nicht zur „Väterliteratur”, d.h. zu Texten
„von Töchtern und Söhnen, publiziert […] en vogue zwischen 1977 und 1981”, die
all zu oft Selbstmitleid pflegen.[1]Der Vorleser erscheint vielmehr als
„kritische Aufarbeitung der eigenen Geschichte aus der Sicht der in sie
verstrickten Generationen” (Habermas 1995: 23), und geht damit weit über
persönliche Zeugnisse und Aufarbeitungsversuche hinaus. Dabei gibt es ein
„universelles Gedächtnis an und für sich nicht” (Diner 1996: 18), wie Briegleb
mit seinem Verweis auf die „Differenz zwischen deutscher und jüdischer
Betrachtungsweise” noch einmal betont hat (1992: 85), und in Schlinks Roman
wird exemplarisch für die Literatur der 90er Jahre insbesondere zwischen der
Perspektive der Täter und derjenigen der Opfer unterschieden. Ein deutlicher
Hinweis ist die kleine Privatbibliothek der Protagonistin und ehemaligen
KZ-Aufseherin Hanna Schmitz. Lange Zeit nur mit der Täterperspektive vertraut,
hat sie im Gefängnis begonnen, ihre Sichtweise durch Rezeption
unterschiedlichster Literatur zu erweitern. Zu ihrer Sammlung gehören Autoren
wie Primo Levi, Elie Wiesel, Tadeusz Borowski und Jean Améry (Schlink 1997:
193), die als Vertreter der Opferperspektive seit den 60er Jahren in der
westdeutschen Historiographie eine zentrale Rolle einnehmen. Parallel
beschäftigt Hanna sich mit den autobiographischen Aufzeichnungen von Rudolph
Höss und Hanna Arendts Bericht über Eichmann in Jerusalem aber auch mit
wissenschaftlicher Literatur über Konzentrationslager. Eine vergleichbare
polyperspektive Erinnerungsstrategie bieten Robert Bobers Was gibt`s Neues vom Krieg?, Christoph Ransmayrs Morbus Kitahara und Gila Lustigers Die Bestandsaufnahme, und auch sie
verzichten dabei auf eine wiederholte Detailbetrachtung des Vergangenen zu
Gunsten einer intensiveren Auseinandersetzung mit den kognitiven und
emotionalen Aspekten der Gegenwart. Hage resümiert: „Die Bücher berichten
zumeist indirekt über den Holocaust, indem sie das Nachher beschreiben”, d.h.
die „Stunden und Jahrzehnte nach der Katastrophe” (1999[1995]: 297f.).
Peter Schneider hat in seiner Erzählung Vati ebenfalls die Perspektive der Nachgeborenen
im Täterkollektiv gewählt, ohne dabei in die dichotomen Erklärungsmuster der
Väterliteratur zurück zu verfallen. In seiner Rede zur Verleihung des Fallada-Preises
an Schlink betont er, dass die Kinder der Kriegsgeneration „nicht nur die
Kinder von Marx und Coca Cola, sondern auch von Josef Mengele” waren. Schlink
habe in seinem Roman „dieses bestgehütete und – verschlüsselte Geheimnis einer
Generation vom Panzer der Selbstgerechtigkeit befreit und auf ganz eigenwillige
und überraschende Weise in die Literatur geholt” (Schneider 1998). Rezensenten
stellen positiv heraus, dass die „Selbstgerechtigkeit der Söhne, die allzu
eilfertig triumphierend die Schuld der Väter hochhielten” im Vorleser
kritisch betrachtet wird (vgl. Löhndorf 1995: 6). Nicht zufällig fragt sich
der Erzähler des Romans, Michael Berg, bei der Beobachtung seiner Kommilitonen:
„Woher
kam die auftrumpfende Selbstgerechtigkeit, die mir bei ihnen so oft begegnete?
Wie kann man Schuld und Scham empfinden und zugleich selbstgerecht auftrumpfen?
War die Absetzung von den Eltern nur Rhetorik, Geräusch, Lärm, die übertönen
sollten, dass mit der Liebe zu den Eltern die Verstrickung in deren Schuld
unwiderruflich eingetreten war?” (Schlink 1997: 162f.).
Das Neue und Provozierende am Vorleser ist nach
Meinung seines Autors vor allem die „menschliche Sicht auf die Täter”, ohne die
„wir kein Problem mit ihnen” hätten: „Erst die menschliche Nähe zu ihnen mache
das, was sie getan haben, so furchtbar. Wir hätten doch mit den Tätern schon
längst abgeschlossen, wenn es wirklich alles Monster wären, ganz fremd, ganz
anders, mit denen wir nichts gemein haben” (Schlink, in Hage: 2000: 183). Auch
wenn das Täterbild in der Literatur der 90er Jahre insgesamt etwas
differenzierter geworden ist,[2] so
bleibt zu bestätigen, dass sich kaum ein Autor so weit vorwagt wie Schlink. Der Vorleser erzeugt nämlich durchaus
auch Empathie mit der ehemaligen KZ-Wärterin Hanna Schmitz, die der Leser
zunächst aus der Perspektive des Erzählers als dessen Geliebte ohne
Vergangenheit kennen lernt und die dann später „schuldiger erscheint als sie
eigentlich war” (Schlink 1997: 132). Nicht zufällig versucht Michael bis zum
Ende des Romans, das Handeln seiner einstigen Geliebten zu verstehen, während
er es gleichzeitig verurteilt. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine von
Bartov prägnant resümierte israelische Rezeption des Romans, die den Erzähler als
Metapher des heutigen Deutschlands deutet, das in die Verbrechen des Holocaust
verstrickt bleibe, und „dessen Schmerz darin besteht, an die Verbrecher durch
Liebe gebunden zu sein” (1999: 11). Rikin kritisiert demgegenüber, dass Schlink
Täter und Opfer auf eine Ebene stellen und der Verbrecherin gegen die
Menschlichkeit ein menschliches Gesicht geben würde (ebda.). Der Autor
antizipierte letztere Kritik und ließ seinen 1995 fertig gestellten Roman
zunächst auf eigene Kosten ins Englische übersetzen und in den USA publizieren,
weil er befürchtete, in Deutschland als „politically incorrect” eingestuft zu
werden, und allenfalls „Zuspruch von falscher Seite” zu erhalten (Hage 1999:
242).
Insgesamt ist das deutsche und internationale
Presseecho auf Schlinks Roman allerdings sehr positiv ausgefallen, späte Wellen
von Kritik sind allerdings nicht völlig auszuschließen. Ein solches Beispiel
war die erneute Diskussion von Schlinks Werk im Kontext der Publikation von
Grass’ Im Krebsgang. In dieser
Literaturdebatte wurde zeitweilig sehr aggressiv der Vorwurf geäußert, dass
Bücher wie Der Vorleser und Im Krebsgang die Schuld der Deutschen am
Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg verharmlosen (Hage 2002: 178). In dem
Spiegelartikel „Unter Generalverdacht” wird diese „bizarre” Debatte genauer
betrachtet. So wirft die Süddeutsche Zeitung Schlink vor, er
wolle „mit der Vergangenheit aufräumen”, und die Neue Zürcher Zeitung diagnostiziert noch expliziter eine „neue
Unbefangenheit der eigenen Geschichte gegenüber” (vgl. Hage 2002: 178). Aus
einer solchen Perspektive relativiert ein auf deutsches Leiden ausgerichtetes
Werk wie Grass’ Im Krebsgang das
Schicksal der Überlebenden des Holocaust, wobei das „Normalisierungsgerede” von
Autoren wie Schlink, Grass, Schneider und Forte als zentraler Aspekt des
gewünschten „Eintritts in die internationale Opferkultur” gehandelt wird (ebda.
S. 179). Exemplarisch moniert Braese in der Zeitschrift Mittelweg 36, dass den deutschen Nazi-Gegnern in Fortes Der Junge mit den blutigen Schuhen (1995)
„Opferstatus” zugeschrieben wird (ebda. S. 180).
All dies versperrt freilich den Blick für das
Wesentliche. Wenn Forte in seinem Roman über den Bombenkrieg auf Deutschland
schreibt, dann nicht um die Schuld der Deutschen zu verringern. Wie in Der Vorleser, Im Krebsgang und auch in der populärwissenschaftlichen Spiegelreihe
Die Deutschen als Opfer geht es
letztlich um die Erhellung eines weiteren Aspektes deutscher Geschichte, der
bisher aus falschem Schamgefühl, aus einer dubiosen Vorstellung von „political
correctness”, oder auch aus Interesse an der Förderung eines bestimmten, das
eigene System stabilisierenden Geschichtsbildes weitestgehend marginalisiert
wurde,[3] für die dritte Generation aber von besonderem Interesse ist: „Vor
allem die historisch interessierte, nachgewachsene Generation scheint nun einen
unverstellten Blick jenseits von Schuld und Selbstkasteiung zu riskieren. Sie
will nicht „aufarbeiten” oder das Unabänderliche gar in Frage stellen, sondern
wissen, was war” (Noack 2002). Eine solche Öffnung hin zu einer
polyperspektiven Betrachtung deutscher Geschichte unterstützt auch der
amerikanische Lyriker C. K. Williams, der in seinem Aufsatz Das symbolische Volk der Täter der Sehnsucht der Deutschen nach Normalität
nachgeht, und im Anschluss formuliert: „Keine Frage, die Wahrnehmung der
Deutschen von heute wird durch die Vergangenheit verzerrt […] dieses Bild [gräbt sich jedoch] noch tiefer
ein, wenn die Deutschen zu Techniken der Unterlassung und Vermeidung greifen,
denn die schaffen ihrerseits wieder Symbole” (2002: 37).
In diesem Sinne leugnet Schlinks Roman in keiner
Weise, dass die deutsche Geschichte am historischen Leiden der Juden Anteil
hat. Allerdings stehen nicht die Leiden der NS-Opfer im Vordergrund der
Handlung sondern vielmehr die private Beziehung zwischen dem Ich-Erzähler
Michael Berg und der Protagonistin Hanna Schmitz in ihrer Exemplarität „für den
[...] Umgang mit Nationalsozialismus und Holocaust” (Köster 2000: 55). Diese
Beziehung ist in gewisser Weise zugleich eine Parabel für den Umgang der
nachgeborenen Generation mit den Tätern des Dritten Reichs. „Weil er in ihr
nicht allein die Schergin zu erblicken vermag, büßt er die Selbstgewissheit
moralischer Überlegenheit gegenüber der Väter- und Tätergeneration ein” (Hage
1995: 260). Der relativ dünne Roman ist in gewisser Hinsicht ein
philosophisches Buch, das den Leser verstört und mit vielen offenen Fragen am
Ende der Lektüre entlässt. So gibt Schlink keine eindeutigen Antworten und
verzichtet insbesondere auf eine Weiterführung der primitiven
Gut-Böse-Dichotomie, was als Qualitätsmerkmal eines jeden zeitgenössischen
Romans zu betrachten ist. An Stelle tradierter Bilder guter Opfer und
„monsterhafter” Täter inmitten eines teuflischen Holocaust fokussiert der Vorleser das Weiterwirken der
Problematik bis in die Gegenwart.[4] Zu
Recht resümiert Hage: „Das ist kein Ausweichen. Heute wird immer deutlicher,
dass die Hoffnung vermessen war, diese Vergangenheit in irgendeiner Form
‚bewältigen’ zu können. Doch muss sie die Nachgeborenen auch nicht […] zum
Verstummen und zur Lähmung zwingen” (ebda.). Eine ähnlich deutliche Position
gegenüber dem älteren Schulddiskurs bezieht der Erzähler in Schlinks Roman:
„Was sollte und
soll meine Generation der Nachlebenden eigentlich mit den Informationen über
die Furchtbarkeiten der Vernichtung der Juden anfangen? Wir sollen nicht
meinen, begreifen zu können, was unbegreiflich ist, dürfen nicht vergleichen,
was unvergleichlich ist, dürfen nicht nachfragen, weil der Nachfragende die
Furchtbarkeiten, auch wenn er sie nicht in Frage stellt, doch zum Gegenstand
der Kommunikation macht und nicht als etwas nimmt, vor dem er nur in Entsetzen,
Scham und Schuld verstummen kann. Sollen wir nur in Entsetzen, Scham und Schuld
verstummen? Zu welchem Ende?” (1997: 99f.).
Eine stufenweise Annäherung an die
Schuldproblematik ist sicher möglich, aber wohl kaum durch ein unreflektiertes
Nachbeten von Schuldbekenntnissen bei gleichzeitiger Ausblendung aller
menschlichen Aspekte, die dem tradierten Gut-Böse-Schema nicht unmittelbar
entsprechen. Vielmehr geht es um eine „Entemotionalisierung der
Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich” als Grundlage zu einer besseren
„Historisierung”. In einer intakten pluralistischen Gesellschaft muss dies
nicht nur möglich sein, sondern es ist auch zwingend notwendig, „denn
historische Einseitigkeit, Auslassungen und das Anlegen unterschiedlicher
moralischer Maßstäbe beim Umgang mit der Geschichte befördern Ressentiments und
neuen Nationalismus” (Reuth 2003: 11). In gewisser Weise bleibt verständlich,
dass eine solche Neuorientierung von vereinzelten Kritikern angemahnt und
verurteilt wird, und zwar insbesondere von solchen, die sich entweder aus
fanatischer Überzeugung und/oder aus Interesse an einer populistischen
Ausschlachtung tradierter „Wahrheiten” einer falsch verstandenen „Political
Correctness” — Bewegung angeschlossen haben. Ihre polemische Abstrafung all
solcher Autoren, die nicht mehr bereit sind in moralischen Gegensatzpaaren zu
schreiben, bleibt jedoch unüberzeugend und erlaubt gerade durch ihre
simplistische Argumentation mehr Rückschlüsse auf die Kritiker als auf die
kritisierten Romane.[5]
2. Annäherungen an Schuld und Schuldlosigkeit
Der Leser lernt die 36-jährige
Straßenbahnschaffnerin Hanna Schmitz durch die Augen des Schülers Michael Berg
kennen. Als sie dem kranken Jungen hilft, der sich in ihrem Hinterhof übergeben
hat, wirkt sie zunächst fast mütterlich und ein wenig grob (Schlink 1997: 6).
Die Verführungsszene in ihrer Küche leitet freilich eine Wende in der Perspektivik
ein: Nun tritt Hannas Körperlichkeit in den Vordergrund, ihr Aussehen, ihr
Geruch, ihre Gesten. Sie zeigt in der ausführlich behandelten Liebesaffäre
wenig Gefühle und wirkt unnahbar, gleichzeitig aber auch überlegen, stolz und
mysteriös. Im Resümee bezeichnet
Schlink sie selber als „hardly a candidate for our affection but also not of
our dislike” (in: Wachtel 1999: 551). Da Hanna klassische
Literatur liebt und „eine aufmerksame Zuhörerin” ist, entwickelt sich bald ein
Ritual aus „vorlesen, duschen, lieben und noch ein bisschen bei einander liegen”
(Schlink 1997: 43). Michaels Minderjährigkeit und der erhebliche
Altersunterschied führen zu einer Marginalisierung der Außenwelt, und so
treffen sich die beiden nur äußerst selten außerhalb von Hannas Wohnung (vgl.
deren Besuch in Abwesenheit der Familie Berg und den gemeinsamen Ausflug nach
Amorbach). Die Beziehung wird von beiden Seiten als persönliches Geheimnis
behandelt, wobei dessen Bewahrung durch Hannas außerordentlichen Mangel an
sozialen Kontakten wesentlich erleichtert bzw. überhaupt erst ermöglicht wird.
Der Leser erfährt aber auch wenig über ihr Leben außerhalb der Liebesbeziehung.
So moniert der Erzähler stellvertretend für den Leser: „Ich habe nie erfahren,
was Hanna machte, wenn sie weder arbeitete noch wir zusammen waren” (Schlink
1997: 75). Die räumliche Limitierung wird durch eine zeitliche ergänzt, denn
Hanna erzählt Michael trotz seines Drängens nur wenig über ihre Vergangenheit,
und dies nur in einer Form „als sei es nicht ihr Leben, sondern das Leben eines
anderen, den sie nicht gut kennt und der sie nichts angeht” (S. 40). Auch auf
Zukunftsplanungen wird weitestgehend verzichtet, und so leben beide im
Wesentlichen in der Gegenwart ihres gemeinsamen Treffens.
Die rückblickende autobiographische Erzählweise
folgt im Wesentlichen der Chronologie der Ereignisse, d.h. der Erzähler nimmt
keine Handlungen und Vorkommnisse vorweg. Er streut lediglich versteckt
Hinweise und Andeutungen ein. Somit ist der Leser ebenso überrascht wie der Erzähler,
als er Hanna zur Zeit der Auschwitz-Prozesse[6] im
Gerichtssaal als Angeklagte wiedertrifft. Die einstige Geliebte enthüllt sich
nun, im zweiten Romanteil, als ehemalige Aufseherin eines
nationalsozialistischen Konzentrationslagers, die wegen schwerer Verbrechen zu
lebenslänglicher Haft verurteilt wird. Die im ersten Teil ansatzweise
aufgebaute Empathie scheint damit zunächst aufgelöst zu werden, aber das
Verurteilen fällt nicht ganz so leicht. Der „Aufarbeitung der Vergangenheit”
stellen sich Gefühle für die frühere Geliebte und für den Menschen Hanna
Schmitz in den Weg. Gerade zu letzterem Aspekt gehört das beschämte Verstecken
ihres Analphabetismus, den der Leser erst sukzessive mit dem Erzähler entdeckt. Zweifelsfrei wird diese
menschliche Schwäche offenbar, als Michael während eines Spaziergangs die
Indizien zusammenfügt (Schlink 1997: 126). Durch die Ich-Perspektive fühlt sich
der Leser gerade in diesem Lernprozess unmittelbar angesprochen, d.h. er erlebt
Gefühle und Wahrnehmungsänderungen des Erzählers leichter mit. Auch dies
verhilft dazu, die „Täterin” zunächst als Mensch und nicht als NS-„Monster”
wahrnehmen zu können. Das moralische Dilemma beginnt damit freilich erst, denn
Hannas Schuld entzieht sich nun einer pauschalen Aburteilung und öffnet den Weg
zu einem unbequemen Verstehensprozess, der zur Kernthematik des Romans
avanciert. In der Hinführung des Lesers zur menschlichen Komplexität über „the
way [the novel] addresses the subject of guilt” (Kerr 1997: 7) liegt die
besondere Qualität von Schlinks Werk.
Betrachten wir zunächst Hannas Analphabetismus
näher, so fällt auf, dass hierfür keine Gründe oder Ursachen genannt werden.
Über ihre Sozialisation, ihre Kindheit und Jugend in Hermannstadt erfährt der
Leser wenig. Sie wird in einigen Eckdaten zusammengefasst, bleibt aber neben
ihren politischen Ansichten und Überzeugungen eine weitere Leerstelle in ihrer
Biographie. So ist es letztlich nicht möglich, Hanna im Sinne
populär-psychologischer Erklärungsschemata als Opfer familiärer bzw. gesellschaftlicher
Umstände zu kategorisieren, und ebenso wird die simplistische Etikettierung der
Täterin als überzeugte Nationalsozialistin vermieden. Der Analphabetismus prägt
verschiedene Aspekte von Hannas Lebens. Einerseits besteht eine deutliche
Korrelation zwischen ihrer Isolation und Zurückgezogenheit und ihrer Angst vor
einer möglichen Bloßstellung als Analphabetin, was sich in der Beziehung zu
Michael spiegelt. Nicht zufällig verbirgt Hanna dieses Geheimnis auch vor ihm,
und erfindet statt dessen Ausreden, reagiert aus der Defensive heraus häufig
aggressiv, und verlässt ihn schließlich scheinbar grundlos. Ihre Beziehung zu
ihm ist ähnlich wie das spätere Verhalten vor Gericht von einem Mangel an
Kommunikationsfähigkeit und –willen geprägt. Die Wahrung ihres Geheimnisses
wird so zu einer Priorität, die ihr fast alle Aufmerksamkeit abverlangt, und zu
einem erheblichen Misstrauen im Umgang mit anderen Personen führt. Diesen
Anderen muss ein solches Verhalten als Indifferenz gegenüber sozialen Kontakten
erscheinen, und eine Tendenz hierzu ist im Rahmen von
Selbstkonditionierungsmechanismen und gruppendynamischen Prozessen kaum
auszuschließen.
Hannas fehlende Schreib- und Lesefähigkeit hat
auch deutliche Auswirkungen auf ihre Arbeitssituation. So wechselt sie häufig
den Arbeitsplatz, kann nur einfache Hilfsarbeitertätigkeiten annehmen und lebt
in ständiger Furcht vor neuen Aufgaben bzw. einer möglichen Beförderung, die
ihre Schwäche aufdecken könnte. Diesem Fluchtmuster entsprechend geht Hanna
schließlich auch zur SS und wird Aufseherin in Auschwitz, nicht weil sie eine
überzeugte Nationalsozialistin wäre, sondern weil ihr bei Siemens eine
Beförderung angeboten wurde, die ihren Analphabetismus offenbart hätte. Der
Erzähler resümiert über Hannas Leben prägnant: „Sie kämpfte immer und hatte
immer gekämpft, nicht um zu zeigen, was sie kann, sondern um zu verbergen, was
sie nicht kann. Ein Leben, dessen Aufbrüche in energischen Rückzügen und dessen
Siege in verheimlichten Niederlagen bestehen” (Schlink 1997: 129). Diese
Strategie hat sie derart internalisiert, dass es ihr nicht gelingen kann, ihre
Isolation aufzubrechen. Ständig muss sie Situationen und mögliche „Gefahren”
antizipieren um ihr Geheimnis zu wahren. Parallel erscheint sie ungleich mehr
als reagierendes denn als handelndes Subjekt. Ihre ganze Vitae zeigt immer
wieder Reaktionen auf externe Einflüsse an Stelle bewusster
verantwortungsvoller Entscheidungen. Konsequenterweise verheimlicht sie dann
auch im Gerichtsprozess ihren Analphabetismus, obwohl er sie entlasten würde.
Aus Scham, Stolz und Angst vor Bloßstellung erscheint sie als Hauptangeklagte,
die angeblich den belastenden Bericht verfasst hat. Der Erzähler und der Leser
wissen zu diesem Zeitpunkt aber sehr wohl, dass sie wegen ihres Analphabetismus
hierzu unmöglich in der Lage war. Es war ihr noch nicht einmal möglich, die
Anklageschrift zu lesen, was im Prozess zu irritierenden Nachfragen führt. Dass
„die Angeklagte auf kein Schreiben und keine Ladung reagiert hat” wird
allerdings vom Gericht lediglich als weiteres belastendes Indiz gelistet (ebda.
S. 94).
Michael Berg kann nach der Erkenntnis von Hannas
Analphabetismus viele Aspekte von deren Verhalten während der gemeinsamen
Beziehung erklären. Er begreift ihre Scham, und, dass sie „lieber mich befremdet
als sich bloßgestellt hatte” (S. 127). „Scham als Grund für ausweichendes,
abwehrendes, verbergendes und verstellendes, auch verletzendes Verhalten” ist
für ihn leicht nachvollziehbar (S. 127). „Aber Hannas Scham, nicht lesen und
schreiben zu können, als Grund für ihr Verhalten im Prozess und im Lager? Aus
Angst vor der Bloßstellung als Analphabetin die Bloßstellung als Verbrecherin?
Aus Angst vor der Bloßstellung als Analphabetin das Verbrechen?” (S. 127).
Hannas Schuld wird in der Anklageschrift ausformuliert, durch den Urteilsspruch
bestätigt, und grundsätzlich bleibt eine solche auch für den Leser
unumstritten. Gemeinsam mit dem Erzähler muss der Leser jedoch die Schwere
dieser Schuld und damit die Verhältnismäßigkeit des Urteils überdenken. Es stellt
sich hier zunächst die Frage, in wie weit Anklageführung und Richter auf der
Grundlage einer rudimentären Beweislage und extrem subjektiver Zeugenaussagen
zu einem gerechten Urteil kommen können. Die zwei in dem Prozess erhobenen
Hauptanklagepunkte gelten zum einen den von Hanna und anderen Aufseherinnen
regelmäßig durchgeführten Selektionen zu eliminierender Juden im Lager, und zum
anderen Hannas Verhalten während der Bombennacht. Ihr Verhalten als Aufseherin
und ihre Stellung innerhalb der Befehlshierarchie des Lagers bleiben zwar auch
für das Gericht offen, zumal der Verweis auf eine von den Gefangenen als „Pferd”
bezeichnete äußerst sadistische Aufseherin trotz aller oberflächlicher
Korrelation nicht weiter führt.[7]
Andererseits erscheint es „einfach unerträglich, jemanden, der in Auschwitz
gewesen und dessen man habhaft war, nicht wegen seines Verhaltens in Auschwitz
anzuklagen” (S. 101f.). Als KZ-Aufseherin ist sie immerhin Teil der Maschinerie
des Dritten Reiches und damit auch Mittäterin.
Hanna verhält sich während des Prozesses
keineswegs taktisch klug sondern gibt als einzige Angeklagte bereitwillig zu,
dass die Auswahl der für die Endlösung vorgesehenen Juden von ihr und den mit
angeklagten Aufseherinnen in alleiniger Verantwortung durchgeführt wurde, und
dass sie während des Kirchenbrandes die Türen für die eingesperrten Juden unter
anderem deswegen nicht geöffnet hätten, weil hierfür kein Befehl vorlag. So
bleibt sie als Außenseiterin abseits der um eine Verteidigung ihrer Positionen
bemühten Angeklagten. Hanna geht es offensichtlich darum, alles „richtig” zu
machen, und hierfür gehört für sie die Verpflichtung zu einem faktengerechten
Berichten. Der Erzähler resümiert: „Wo sie meinte, ihr geschehe Unrecht,
widersprach sie, und sie gab zu, was ihres Erachtens zu Recht behauptet und
vorgeworfen wurde” (S. 105). Nicht zufällig wirkt ihre Argumentation bezüglich
des eigenen Verhaltens bei den Selektionen und während der Bombennacht sachlich
und emotionslos. Beispiele sind: „Die neuen kamen, und die alten mussten Platz
machen für die neuen” (S. 106), „Wir haben nicht gewusst, was wir machen sollen”
(S. 121), und „Wie hätten wir da noch mal Ordnung reinbringen sollen? Das hätte
ein Durcheinander gegeben” (S. 122). Ohne eine solche Offenheit wäre ihre Verurteilung
im Rahmen der dürftigen Beweislage der Anklage zweifellos deutlich schwieriger
geworden.[8] So aber werden nicht nur die Kläger in eine bessere Position versetzt
sondern gleichzeitig auch die anderen Angeklagten, denn deren Verteidiger
wissen Hannas Eingeständnisse zur Entlastung ihrer Mandanten zu nutzen.
Erschwert wird ihre Problematik auch dadurch, dass die Zeugen aus dem Dorf
aufpassen mussten, „dass auf sie nicht der Vorwurf fiel, sie hätten selbst die
Gefangenen retten können. Wenn nur die Angeklagten da waren – konnten dann die
Bewohner des Dorfs die paar Frauen nicht überwältigen und selbst die Türen der
Kirche aufschließen? Mussten sie nicht auf eine Linie der Verteidigung
einschwenken, bei der die Angeklagten unter einem auch sie, die Zeugen,
entlastenden Zwang handelten? Unter der Gewalt oder dem Befehl von
Wachmannschaften, die doch nicht geflohen waren […]?” (ebda. S. 110). Diese
Verstrickung von Teilen der einfachen Bevölkerung in eine kollektive Schuld
wird dadurch betont, dass es zumindest nach Hannas Angaben „den einen Schlüssel
zur Kirche gar nicht gegeben [habe], sondern mehrere Schlüssel zu mehreren
Türen, und die hätten von außen in den Schlössern gesteckt” (S. 104f.). In
einem solchen Kontext beruft sich Hanna immer wieder auf ihre Befehle und zeigt
dabei keine Einsicht in die eigene Schuld. Aus einer solchen Perspektive heraus
vermag sie letztlich nicht zu verstehen, was ihr vorgeworfen wird, und am Ende
resigniert sie. Der Erzähler selber sucht als Jurastudent die Distanz: Anstatt
das ihm relativ verständlich gewordene Gerichtsschauspiel durch einen
persönlichen Eingriff zu beenden, beschäftigt er sich mit seiner eigenen
Betäubung und Gefühlskälte während der Prozesstage. Die Kommunikation mit Hanna
wird bis auf wenige Blickkontakte vermieden, und damit auch die
Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Ziel ist es, sie „raus aus
meiner Welt, raus aus meinem Leben” zu befördern (S. 93). Wie Köster formuliert
„verschleiert” diese während des Prozesses gesuchte Distanz nicht nur die
private Bindung an Hanna sondern führt auch „zu problematischen Formen des
Umgangs mit der NS-Vergangenheit, die eine angemessene Auseinandersetzung
verhindern: zum externalisierenden Verurteilen der Täter […] und zur
Handlungsunfähigkeit in der Betäubung, die nicht zuletzt auch aus der
Unmöglichkeit, gleichzeitig zu verurteilen und zu verstehen, resultiert” (2000:
60).
Während ihrer 18jährigen Haft, die im dritten
Teil des Romans behandelt wird, verändert sich die weibliche Hauptfigur. Viele
Jahre hindurch genießt sie den Respekt der Mitgefangenen und ist „schlank und
von peinlicher Sauberkeit” (Schlink 1997: 196). Einige Jahre vor ihrer
Entlassung zieht sie sich dann „in eine einsame Klause” zurück, begibt sich in
eine freiwillige Isolation, legt auf ihr Äußeres keinen Wert mehr, und wirkt
dabei aber „nicht unglücklich oder unzufrieden” (ebda. S. 196). Michaels erste
Begegnung mit Hanna im Gefängnisgarten (S. 184-188) und die Schilderung der
Anstaltsleiterin (S. 92-198) thematisieren diese Entwicklung. Den Schein zu
wahren war im Gefängnis offensichtlich nicht mehr so wichtig. Hannas Isolation
bleibt zwar: „Ich hatte immer das Gefühl, dass mich ohnehin keiner versteht,
dass keiner weiß, wer ich bin und was mich hierzu und dazu gebracht hat” (S. 187).
Aber die Alphabetisierung gelingt, und dies erscheint als wesentlicher Schritt
„aus der Unmündigkeit zur Mündigkeit [...], ein aufklärerischer Schritt” (S.
178), auch wenn er relativ spät erfolgt. Parallel entwickelt sich ein
Schuldbewusstsein, das eng mit dem selbst motivierten Schreiben- und
Lesenlernen während der Haft zusammen hängt, denn am Ende liest sie auch die
„Literatur der Opfer” und andere Werke über die Zeit des Nationalsozialismus
(S. 193). Das Schreiben- und Lesenlernen leitet also einen Entwicklungsprozess
ein, in dessen Verlauf sie die mit ihrem Analphabetismus verbundenen alten
Flucht- und Verdrängungsmuster überwindet, Einsicht in die eigene Schuld
gewinnt und ihren Lebensstandort neu definiert. Ihr Selbstmord kurz vor der
Entlassung zeigt freilich, dass sie mit all dem auf sich alleine gestellt
außerhalb der schützenden Mauern des Gefängnisses nicht fertig zu werden
glaubt. Erst nach ihrem Tod räumt der Erzähler ihr wieder einen Platz in seinem
Leben ein, der über das Aufnehmen von Kassetten hinaus geht (S. 187).
Die Frage, ob die NS-Verbrechen bzw. Hannas
Schuld durch ihren Analphabetismus verharmlost bzw. gar entschuldigt wird, wird
vom Erzähler indirekt gestellt, indem er sein Dilemma reflektiert, nicht
zugleich verstehen und verurteilen zu können:
„Ich wollte Hannas Verbrechen
zugleich verstehen und verurteilen. Aber es war dafür zu furchtbar. Wenn ich
versuchte, es zu verstehen, hatte ich das Gefühl, es nicht mehr so zu
verurteilen, wie es eigentlich verurteilt gehörte. Wenn ich es so verurteilte,
wie es verurteilt gehörte, blieb kein Raum fürs Verstehen. Aber zugleich wollte
ich Hanna verstehen; sie nicht zu verstehen, bedeutete, sie wieder zu verraten.
Ich bin damit nicht fertig geworden. Beidem wollte ich mich stellen: dem Verstehen
und dem Verurteilen. Aber beides ging nicht” (151f.).
Einige Kritiker sprechen in diesem Zusammenhang
von „sympathy for the devil” (vgl. Wandrey 1995: 33) und kritisieren den
„positiven Blickwinkel” (Michalzik 1995:8), mit dessen Hilfe ihres Erachtens
nach das Analphabetentum als Entschuldigungs- bzw. Entlastungsfunktion
zweckentfremdet wird.[9]
Demgegenüber betont Hage die Problematik von Hannas Unfähigkeit zu „lesen”:
„wörtlich und gleichermaßen im weiteren Sinne zu verstehen: Sie kann sich, was
sie erlebt und verursacht hat, nicht buchstabieren” (1995: 259). All dies
bestätigt Hanna als reagierendes Subjekt, das aus Scham und Angst vor
Bloßstellung klaren Vermeidungsstrategien und Fluchtmustern folgt. Mit
Mündigkeit, verstanden als „selbständige bewusste Entscheidung jedes einzelnen
Menschen” (Adorno 1970: 107), hat der überwiegende Teil ihres Verhaltens wenig
gemein. Zu ergänzen wäre, dass Schlink hier auf ein Strukturproblem aufmerksam
macht, denn bis heute ist weiterhin eine absolute Mehrheit aller Straftäter
minder gebildet oder sogar analphabetisch (vgl. Köster 1998: 46ff.). Das
bedeutet freilich nicht, dass Analphabetismus unmittelbar zum Verbrechen führt,
ebenso wenig wie Kultur vor Barbarei schützt. Zu den entscheidenden Erfahrungen
des Zweiten Weltkrieges gehört für Frisch ja gerade, „dass Menschen, die voll
sind von jener Kultur, Kenner, die sich mit Geist und Inbrunst unterhalten
können über Bach, Händel, Mozart, Beethoven, Bruckner, ohne weiteres auch als
Schlächter auftreten können; beides in gleicher Person” (1985: 287). Es
bedeutet aber sehr wohl, dass Hannas Unfähigkeit zu lesen und zu schreiben in
jedem seriösen Prozess als entlastendes Kriterium mit berücksichtigt werden
sollte. Festzustellen ist außerdem, dass Hanna sich aus der Perspektive des
Erzählers „nicht für das Verbrechen entschieden” hat: „Sie hatte sich gegen die
Beförderung bei Siemens entschieden und war in die Tätigkeit als Aufseherin
hineingeraten” (Schlink 1997: 128). Bei
aller Schuld, die sie durch ihr geduldiges „Mitmachen” trägt, ist ihre
Verurteilung als Hauptschuldige doch völlig unhaltbar. Und die Tatsache, dass
weder der Vertreter der Verteidigung noch der Richter oder der Anklagevertreter
die Analphabetenproblematik zu erkennen in der Lage sind, wirft kein gutes Licht
auf das gespiegelte Gerichtssystem.[10]
Im letzten Kapitel reflektiert der Erzähler
Motivation und Intention seines Schreibens. Er schildert die eigenen Vorwürfe
und Schuldgefühle in Bezug auf Hanna sowie seinen Zorn auf sie. „Was ich getan
und nicht getan habe und sie mir angetan hat – es ist nun eben mein Leben
geworden” (S. 205). In der Niederschrift selber sieht er den Beleg für den
subjektiven Wahrheitsanspruch seiner Geschichte: „Die Gewähr dafür, dass die
geschriebene die richtige ist, liegt darin, dass ich sie geschrieben und die
anderen Versionen nicht geschrieben habe. Die geschriebene Version wollte
geschrieben werden, die vielen anderen wollten es nicht” (205f.). Abschließen
bzw. loswerden kann er diese Geschichte nicht mehr, das Ausformulieren
beinhaltet aber ein befreiendes und ausgleichendes Moment. Es bedeutet einen
„Frieden mit ihr” initiieren zu können und reduziert die Traurigkeit des
Verfassers. Hier zeigt sich eine Parallele zu einem Aufsatz von Schlink mit dem
bezeichnenden Untertitel „Von der Notwendigkeit und der Gefahr der
Beschäftigung mit dem Dritten Reich und dem Holocaust”, in dem der Autor
formuliert:
„Für die junge
Generation kann die Vergangenheit des Dritten Reiches und des Holocaust nicht
mehr die Gegenwart sein, die sie für meine Generation ist, und wenn die
Vergangenheit von ihr nicht abgetan werden soll, muss sie für sie in der
Geschichte aufgehoben werden” (2001: 86).
Ebenso wenig wie die deutsche Vergangenheit
bewältigt und damit abgeschlossen werden kann bzw. soll, kann Michael seine
Geschichte mit Hanna loswerden. Erst als er sie als Teil seiner Biographie
begreift und akzeptiert, ihr nicht nur eine Nische, sondern einen Platz in
seinem Leben einräumt, vermag er eine Form von Frieden zu finden. Dies
beinhaltet immer auch eine Kritik an den im ersten Kapitel erwähnten Kritikern,
die den Holocaust durch eine Pauschalkategorisierung als „monsterhaft” im
Zentrum des perversen Wesens „Anderer”, und zugleich in unüberbrückbarer
Distanz zum eigenen Menschlichen, gespiegelt sehen möchten:
„Fixierung auf
die Vergangenheit ist nur die Kehrseite der Verdrängung. Enttraumatisierung ist
Erinnern- und Vergessenkönnen, ist ein Ruhen lassen, das gleichermaßen Erinnern
und Vergessen einschließt” (2001: 84).
Keinesfalls darf ein solcher Frieden mit Bequemlichkeit oder Ignoranz gleichgesetzt werden, denn die Akzeptanz einer dauerhaften Gegenwärtigkeit des Vergangenen ist nicht unproblematisch. Schlink betont hier, dass sich Geschichte nur oberflächlich als ein Nacheinander von Ereignissen und den damit verbundenen Empfindungen präsentiert. So resümiert der Erzähler zutreffend: „Die Schichten unseres Lebens ruhen so dicht aufeinander auf, dass uns im Späteren immer Früheres begegnet, nicht als Abgetanes und Erledigtes, sondern gegenwärtig und lebendig” (S. 206). Entscheidend ist in diesem Sinne nicht, „das Unvereinbare zu vereinbaren, sondern in der Zerrissenheit zu leben” (Vitoux 1996: 14). Wenn überhaupt, dann ist ein generalisierendes Verurteilen deutlich einfacher. Nicht zufällig tendiert der Ich-Erzähler nach der Konfrontation mit Hannas nationalsozialistischer Vergangenheit unmittelbar zu Distanz und Aburteilung, und spiegelt dabei das naiv-plakative Geschichtsbild all der Kritiker, die seine Erzählung als „sympathy for the devil” charakterisieren.
3. Ansatzpunkte zur Vermittlung im DaF-Unterricht
Im Mittelpunkt der hier nun vorzustellenden, aus
Erfahrungen mit mehreren Gruppen fortgeschrittener DaF-Studierender in
Düsseldorf und Cambridge abstrahierten Unterrichtssequenz steht die Frage nach
Hannas Schuld, die für verschiedenste Lehrveranstaltungen ein ausgezeichnetes
Diskussionspotential bietet.[11] All
dies ist im Kontext einer Vielfalt von Empfehlungen zur Vermittlung des Romans
im Unterricht zu sehen, die über Google leicht zugänglich sind. Hierbei handelt
es sich insbesondere um Materialien für den muttersprachlichen
Deutschunterricht an Schulen, um Kurzbesprechungen und um Literaturangaben zu
diesem Zweck, während unsere Unterrichtssequenz für einen fremdsprachlichen
universitären Deutschunterricht konzipiert wurde. Exemplarisch ist in letzterer
Hinsicht etwa die Akzentuierung der Schuldfrage aus einer Perspektive
internationaler Rezeption des Romans, die unsere von Herkunft und Alter her
äußerst heterogenen Gruppen von Studierenden in besonderem Maße angesprochen
hat. Hinzu kommen Aspekte einer Wortschatzarbeit, die im Rahmen der
schriftlichen Arbeiten der Studierenden überprüft und erweitert werden konnte.
Mit Blick auf einen handlungs- und produktionsorientierten Deutschunterricht
zeigen sich demgegenüber auch grundlegende Parallelen zum muttersprachlichen
Unterricht, die unsere Arbeit geprägt haben. Besonders empfehlenswert ist in
diesem Sinne Juliane Kösters Interpretation (2000), die eine fundierte
Sachanalyse und interessante Zusatzmaterialien mit Schwerpunkt auf eine historisch-soziologische
Grundlagenbildung enthält, allerdings bisher nicht online verfügbar ist. Einen
guten Ausgangspunkt bildet auch Michael Lambertys Literatur-Kartei (2001), zu der zahlreiche Einträge in Google
erscheinen, nur nicht die vollständige Liste. Spiegel Online ist demgegenüber
eine für aufschlussreiche Informationen zur aktuellen Diskussion der
Schuldfrage leicht zugängliche Quelle, in der unter anderem die hier verwendeten
Aufsätze „Auf dem Eis” (Schlink 2001) und „Unter Generalverdacht” (Hage 2002)
heruntergeladen werden können. Wie Köster, so wollen auch wir dem Frage-Charakter
von Schlinks Romans Rechnung tragen, indem subjektive Rezeptionsansätze der Lernenden
gefördert werden (vgl. hierzu auch Diekhans 2000: 3). Schon wegen der vom Autor
gewählten Erzählperspektive ist eine „step-by-step”-Lektüre einer
ganzheitlichen Rezeption vorzuziehen, denn hierbei nähern sich die Studierenden
der Schuldthematik ähnlich wie der Erzähler sukzessive und relativ
unvoreingenommen an, und können so dessen Erkenntnisprozess besser
nachvollziehen.
Der Vorleser ist in drei Teile gegliedert, die jeweils eine neue Phase der Beziehung zwischen den Hauptfiguren Michael Berg und Hanna Schmitz spiegeln.[12] Diese Phasen, denen grundlegend verschiedene Erkenntnis- und Bewusstseinszustände zu Grunde liegen, gilt es zumindest in Form einer groben Skizze in Tafel- oder Folienbildern festzuhalten, um im Anschluss die narrativen Strategien des Romans und damit zugleich die Komplexität der Schuldfrage leichter erarbeiten zu können. Auf der Grundlage des ersten Teils können die Studierenden zunächst in arbeitsteiliger Gruppenarbeit eine vorläufige Charakterisierung der beiden Figuren erstellen. Dabei markieren sie die entsprechenden Passagen in der Textvorlage, die Aufschluss über die biographischen Angaben und Eigenschaften gibt, und halten die Ergebnisse auf einer Folie fest. Die Gruppen präsentieren anschließend ihre Ergebnisse, die dann im Plenum diskutiert werden sollten. Verschiedene Passagen im ersten Teil des Romans geben Aufschluss über Hannas Aussehen und erste Einblicke in ihren Charakter. Ihr Gesicht wird als herb und kräftig beschrieben: „Hohe Stirn, hohe Backenknochen, blaßblaue Augen, volle, ohne Einbuchtung gleichmäßig geschwungene Lippen, kräftiges Kinn. Ein großflächiges, herbes, frauliches Gesicht” (S. 14). Der Erzähler beschreibt ihren Körper als „kraftvoll” und „verlässlich”, und vergleicht ihn explizit mit dem eines Pferdes. Ihre Haltungen und Bewegungen faszinieren den Jungen, da sie weltvergessen und selbstsicher wirken (S. 17). Sie ist eine aufmerksame und kluge Zuhörerin, wenn Michael ihr aus Romanen der Weltliteratur vorliest. Dennoch scheint sie insgesamt eine eher pragmatische und dominante Frau zu sein, die nie ganz die Kontrolle verliert. Sie wird als „kalt” und „herrisch” beschrieben, wenn er sich vor ihr demütigen und entschuldigen muss, und dennoch scheint es ihm „als leide sie selbst unter ihrem Erkalten und Erstarren” (S. 50). Hanna gibt nur widerwillig Antwort auf Michaels Fragen nach ihrer Vergangenheit: „Ich fragte sie nach ihrer Vergangenheit und es war, als krame sie, was sie mir antwortete, aus einer verstaubten Truhe hervor” (S. 40). Einige Eckdaten ihrer Biographie lassen sich im ersten Teil des Romans dennoch zusammen tragen: „Sie war in Siebenbürgen aufgewachsen, mit siebzehn nach Berlin gekommen, Arbeiterin bei Siemens geworden und mit einundzwanzig zu den Soldaten geraten. Seit der Krieg zu Ende war, hatte sie sich mit allen möglichen Jobs durchgeschlagen” (S. 40). Hannas Auskünfte über ihr Leben wirken unbeteiligt, „als sei es nicht ihr Leben” (ebda.). All diese insgesamt relativ spärlichen Informationen werden durch die autobiographische Perspektive Michael Bergs gefiltert. Von ihm sollte hier festgehalten werden, dass er fünfzehn Jahre alt ist, als er Hanna kennen lernt (S. 5). Er betrachtet sich selber zu dieser Zeit als einen Jungen mitten in der Pubertät, der „zu lange Arme und zu lange Beine hat” (S. 39). Er ist auch eher ein unauffälliger Schüler, aber er ist zuversichtlich was seine Zukunft angeht: „Wie viel Energie war in mir, wie viel Vertrauen, eines Tages schön und klug, überlegen und bewundert zu sein, wie viel Erwartung, mit der ich neuen Menschen und Situationen begegnet bin” (ebda.). Sein Vater ist Professor für Philosophie (S. 31), und neben der Mutter werden noch zwei Schwestern und ein Bruder erwähnt (S. 30 u. 41). Die ältere Schwester studiert Germanistik (S. 40), während Michael das Gymnasium besucht. Nach seiner Genesung von einer Gelbsucht beginnt die Affäre mit Hanna, die vom Frühjahr bis Sommer 1959 dauert. Diese Beziehung gibt Michael ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber den Schulkameraden, und beim Abendessen mit der Familie hat er das Gefühl „wie bei einem Abschied” (S. 32). Im direkten Vergleich von Hanna und Michael wird dann im Anschluss deutlich, wie ambivalent die Beziehung dieser ungleichen Partner ist. Verwiesen werden kann vor allem auf das letzte Drittel des ersten Romanteils, in dem der Erzähler von zunehmenden Streitereien zwischen ihm und Hanna berichtet. Dabei wird die unterlegene Rolle des 15-jährigen Schülers deutlich, der sich immer mehr erniedrigt und alle Schuld für Unstimmigkeiten auf sich nimmt: „Ich habe alles auf mich genommen. Ich habe Fehler zugegeben, die ich nicht begangen hatte, Absichten eingestanden, die ich nie gehegt hatte” (S. 50). Eine konstruktive Auseinandersetzung mit den gemeinsamen Problemen, und damit zugleich auch eine intensivere gegenseitige Annäherung sowie ein tiefer gehendes Verständnis füreinander, werden durch Hannas mangelnde Diskussionsbereitschaft verhindert. So kommt es immer wieder zu Missverständnissen, die von den Studierenden im Detail untersucht werden können,[13] und die das folgende Folienbild sinnvoll ergänzen:
Teil 1: Die Liebesaffäre
Hanna Schmitz |
Michael Berg |
·
36 jährige Straßenbahnschaffnerin ·
aufmerksam zuhörende Analphabetin ·
kräftiger weiblicher Körper ·
selbstsicher, pragmatisch ·
dominant, zuweilen kalt und aggressiv ·
liebevoll, besorgt ·
extrem sauber ·
verschlossen, unnahbar |
·
15 jähriger Schüler ·
Gymnasiast aus gebildeter Familie ·
schwacher Körper ·
unsicher, gehorsam, unreif ·
unterlegen, erduldend, erniedrigt sich ·
... ·
... ·
kommunikativ, diskussionsbereit |
è erwachsene Frau, Mensch mit
Stärken und Schwächen, Verstehensproblematik (Gegensätze?, extreme
Sauberkeit?) |
è
pubertärer Jugendlicher, „Schüler” auch in Liebesfragen |
Nach der Lektüre des zweiten Romanteils stehen
Hannas Schuld und ihr Analphabetismus im Zentrum der Analyse. Ihr Verhalten
während des Prozesses und ihre mangelnde Schuldeinsicht sollten unter den
folgenden Fragestellungen erarbeitet werden:
1. Welche neuen Informationen
erhält der Leser über Hanna Schmitz und Michael Berg? Die Biographie der
Protagonistin kann von den Studierenden während der Lektüre des zweiten
Romanteils als Teil ihrer Seminarvorbereitung ergänzt werden. Hierzu gehören
insbesondere folgende Daten: Am 21. Oktober 1922 in Hermannstadt geboren,
wächst sie in Siebenbürgen auf. Im Alter von 16 kommt sie nach Berlin und
arbeitet bei Siemens. Im Herbst 1943 geht Hanna zur SS und ist bis zum Frühjahr
1944 Aufseherin in Auschwitz. Bis zum Winter 1944/45 arbeitet sie als
Aufseherin in einem Lager bei Krakau, einem Außenlager von Auschwitz. Seit 1945
wohnt sie in Kassel und anderen Orten und nimmt verschiedene Gelegenheitsjobs
an. Von 1950 bis 1959 lebt sie in Heidelberg und arbeitet dort als
Straßenbahnschaffnerin. Es ist
auffällig, dass Hanna diese Informationen nur „einsilbig” (S. 92) und nur auf
Nachfragen des Richters preisgibt. Nicht zufällig weist ihre Charakterisierung
sehr viel mehr Leerstellen auf als die des Ich-Erzählers, von dem man nun
erfährt, dass er nach dem Abitur Rechtswissenschaft in Heidelberg zu studieren
begonnen hat (S. 84). Als Jurastudent beobachtet er auch den Prozess.
2. Welches sind die
Hauptanklagepunkte? Hier ist festzustellen, dass Hannas Schuld vor allem in der
Selektion für Auschwitz (S. 101-103) und in ihrem Verhalten während des
Kirchenbrandes gesehen wird (S. 106f., 110-113, 121-124). Auch ist sie als
KZ-Aufseherin immer eine Mittäterin.
3. Welche Aussagen lassen sich
mit Blick auf Hannas Motive machen? Zentral ist, dass Hanna behauptet,
freiwillig in die SS eingetreten zu sein. Darüber hinaus erscheint sie als
überzeugte Nationalsozialistin, weil sie eine bessere berufliche Stellung als
Vorarbeiterin bei Siemens ablehnt (S. 91). Tatsächlich verlässt sie Siemens
jedoch, um ihren Analphabetismus zu verheimlichen.
4. Wie verhält sich Hanna
während des Prozesses, und was sagt dies über ihre Einstellung zu ihren Taten
aus? Hier wäre zu erarbeiten, dass ihre teilweise kämpferische Selbstverpflichtung zur Wahrheit
sich als in höchstem Maße untaktisch und selbst schädigend erweist. Parallel
erscheint sie hilflos, resigniert und hochmütig. Hanna hat eine sehr
distanzierte Einstellung zu ihren Taten.
Aus einer solchen Diskussionsrunde lässt sich
das folgende Folienbild erstellen:
Teil 2: Hanna als Angeklagte
Informationen |
Anklagepunkte |
Tatmotive |
Verhalten |
·
Herbst 1943: Eintritt
in die SS ·
Frühjahr 1944: KZ-Aufseherin (Ausschwitz) ·
Winter 1944/45: ·
Aufseherin in Lager bei Krakau |
·
Selektionen für Ausschwitz ·
Untätigkeit bei Kirchenbrand ·
KZ-Aufseherin = Mittäterin |
·
Befehle/keine Befehle ·
Verdecken des Analphabetismus |
·
stolz und emotionslos ·
untaktisch-geständig ·
resignierend, hilflos |
Verurteilung als Kriegsverbrecherin (lebenslänglich)
|
<-> reagierendes Subjekt,
Analphabetin |
Hannas
Negierung eigener Schuld und ihre Hinweise auf Pflichtbewusstsein (S. 122f.)
lassen einen Vergleich mit den Prozessaufzeichnungen über reale Nazitäter
sinnvoll erscheinen. Auszüge aus einem Artikel der Süddeutschen Zeitung zum Hermine Braunsteiner – Prozess wurden in
unseren Unterrichtssequenzen sehr erfolgreich eingesetzt (vgl. Anhang1: „Die
Stute von Majdanek”; Anhang 2: Hanna Schmitz – Hermine Braunsteiner). Es
könnten hier aber auch Auszüge aus den Aufzeichnungen des Lagerkommandanten
Rudolf Höss hinzugezogen werden (Höss 1987). Mangelndes Unrechtbewusstsein und
die Berufung auf Befehle erscheinen im direkten Vergleich als äußerst
symptomatisch.
Zum
Einstieg in die Diskussion um eine mögliche Relativierung von Hannas Schuld auf
Grund ihres Analphabetismus eignet sich die eingehendere Analyse einer
Kernszene des ersten Romanteils. Es handelt sich um den Ausflug nach Amorbach,
in dem der Fokus stärker auf Hanna gelenkt wird. Vor dem endgültigen „Gleitflug
[ihrer] Liebe” (S. 67) beschreibt Michael eine besonders glückliche Zeit, die
beide in der Woche nach Ostern auf einer Fahrradtour verbringen. Hanna genießt
diesen Kurzurlaub, erscheint gelöster und zeigt ihre Freude. Die beiden
Protagonisten wirken beinahe unbeschwert. Aber auch in Amorbach holt Hanna ihre
Wirklichkeit wieder ein. Obwohl sie Michael die Wahl der Route und Auswahl der
Speisen überlässt, wird ihr Analphabetismus letztlich doch wieder zu einer zentralen
Problematik, als Michael eines Morgens ohne ihr Wissen das Zimmer verlässt. Er
will sie lediglich mit einem Frühstück überraschen und hinterlässt ihr auch
eine Notiz auf dem Nachttisch, aber da sie diese nicht lesen kann, kommt es zu
einer für den Leser zu diesem Zeitpunkt noch weitgehend unverständlichen
Reaktion: Bei Michaels Rückkehr steht sie im Zimmer, „halb angezogen, zitternd
vor Wut, weiß im Gesicht” (S. 54), und beginnt den Jungen mit ihrem Ledergürtel
zu schlagen. Hannas Perspektive stellt hier eine „Leerstelle” dar, welche die
Schüler aus der Retroperspektive besser zu füllen vermögen. Als Einstieg in
diese Thematik kann das Bild „Hotel Room” von E. Hopper[14]
präsentiert werden, das eine mit hängenden Schultern, halb angezogen in einem
Hotelzimmer auf dem Bett sitzende und ein Schriftstück in der Hand haltende
Frau zeigt. Die Einsamkeit und gedrückte Stimmung, die dieses Bild beherrschen,
sind grundsätzlich leicht auf Hannas Situation übertragbar, und können durch
Beschreibung und Kommentar von den Studierenden leicht selber erarbeitet
werden. Ungleich tiefer wird die
Auseinandersetzung, wenn sie sich mittels eines Inneren Monologs[15]
in die mittlerweile als Analphabetin identifizierte Protagonistin
hineinzuversetzen versuchen. Die heuristische Funktion der Fertigkeit
„Schreiben” wird hier besonders betont, denn produktionsorientiertes Schreiben
im Umgang mit Literatur eröffnet Deutungsspielräume und dient hier insbesondere
der Klärung der eigenen Vorstellungen. Durch den Perspektivenwechsel werden
Ängste, Schutzmechanismen und Alltagslügen der Analphabetin leichter deutlich.
Die in den studentischen Texten ausgestalteten Verstehens- und
Deutungsspielräume sollen im Plenum durch den Vergleich mit dem Originaltext
überprüft und kommentiert werden. Wichtig ist, dass der Analphabetismus zwar
als wesentliches Problem in Hannas Leben begriffen, dabei aber ihre Schuld
nicht völlig außer Acht gelassen wird. Hannas Situation wird durch den Inneren
Monolog besser verstanden, Grundzüge ihres Verhaltens, zu denen auch eine
schnelle Gewaltbereitschaft gehört, bedürfen aber der Mitreflektion und einer
differenzierten Betrachtung. Im Anschluss an das zweite Lesen der Hotelszene,
die Erstellung des Inneren Monologs und die Detailanalyse von Hannas
Problematik bietet sich die Integration eines Sachtextes über die Situation von
Analphabeten im zeitgenössischen Deutschland an. Umfassender zu diskutieren
wären hier die Folgen eines Fehlens von Schriftsprache in einer
postindustriellen Gesellschaft und dessen Auswirkungen auf das persönliche
Leben der Betroffenen. Dabei geht es vor allem um eine Verlagerung der Thematik
in den persönlichen Horizont der Studierenden, wobei die außerordentlich
strenge berufliche und private Begrenzung individueller Handlungsfelder im Rahmen
von Scham und Vermeidungsstrategien zu erarbeiten sind.[16]
Für die weitestgehend noch industrielle Gesellschaft des Dritten Reiches sind
im Anschluss leichte Differenzierungen vorzunehmen.
Im
dritten Teil des Romans wird Hannas Verhalten während ihrer achtzehnjährigen
Haft beschrieben. Rekonstruiert man die Zeit ihrer Haft, so lassen sich
Veränderungen feststellen, die als mögliche Verweise auf den bevorstehenden
Selbstmord gelten können, z.B. der starke Rückzug in sich selbst („einsame
Klause”, S. 196) sowie die Vernachlässigung ihres Äußeren (S. 186 f.). Michael
Berg arbeitet während dessen als Rechtsgeschichtler zunächst an der
Universität, und später an einer Forschungseinrichtung (S. 172). Er heiratet
schließlich auch und bekommt eine Tochter (Julia), aber seine Ehe mit Gertrud
wird geschieden (S. 165). Während dieser Zeit hält er zu Hanna nur sehr
lockeren Kontakt durch das gelegentliche Erstellen von Tonbandaufzeichnungen,
mit denen das während der Liebesaffäre begonnene Vorlesen literarischer Werke
weiter geht. Sie antwortet nie auf seine Pakete, und er verzichtet auf Besuche.
Auch hier ist die Erstellung eines einfachen Folienbildes zu empfehlen:
Teil 3: Die Gefangene
Hanna |
Michael |
·
wird von Mitgefangenen respektiert ·
lernt Lesen und Schreiben ·
liest „Literatur der Opfer” und andere Werke zum NS
·
vernachlässigt Äußeres ·
isoliert sich zunehmend mehr ·
begeht Selbstmord |
·
schickt Hanna Tonbandaufnahmen ·
gründet eigene Familie |
è Alphabetisierung als
Schritt zur Mündigkeit und zum Schuldbewusstsein, neues Leben im alten
undenkbar? |
è Außen stehen bleiben,
zwischen beobachten und intervenieren, verurteilen und verstehen |
Eine
zentrale Szene ist das Zusammentreffen der beiden im Gefängnisgarten. Die
Türen, die auf- und zugeschlossen werden müssen, symbolisieren die Distanz
zwischen den Protagonisten. Hanna wirkt nun auf Michael unsicher und wünscht
sich eine stille Entlassung, ein mögliches Zeichen der Angst vor dem Leben in
Freiheit nach achtzehn Jahren Haft. Außerdem scheint sie die Enttäuschung
Michaels zu spüren und weiß, dass ein Anknüpfen an Vergangenes unmöglich
geworden ist. Hanna erscheint nach wie vor isoliert. In dem Gespräch mit
Michael äußert sie, dass sie sich von den Mitmenschen unverstanden fühlt und
dass nur die Toten Rechenschaft von ihr verlangen könnten. Wenn es auch Zeichen
gibt, die auf Hannas Suizid hindeuten, so lassen sich über die wirklichen
Gründe letztlich lediglich Vermutungen anstellen. Die vom Autor gewählte
Erzählperspektive erlaubt keinen unmittelbaren Einblick in das Denken und
Fühlen Hannas kurz vor ihrem Tod.
In
unseren Seminaren wurde sowohl über letzteren Aspekt als auch allgemeiner über
die Angemessenheit der langen Haftstrafe im Kontext von Hannas Schuld sehr
lebhaft diskutiert, wobei die Ambivalenz der weiblichen Hauptfigur die
Studierenden zu unterschiedlichsten Stellungnahmen provozierte. Die Diskussion
in Düsseldorf wurde enger an der Romanvorlage geführt als in Cambridge, wo die
Studierenden den Aspekt der Schuldfrage von sich aus auf die aktuelle
Diskussion der Schuld der dritten Generation ausweiteten und auf dieser Ebene
weiter diskutierten. Eine solche Akzentverschiebung, in der deutlich wurde,
dass die Studierenden des Düsseldorfer Seminars nicht über ein vergleichbares
Hintergrundwissen zur Herstellung aktueller Bezüge verfügten, kann im
Wesentlichen auf die Zusammensetzung der Kurse zurück geführt werden. Der
Deutschkurs an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf setzte sich zu einem
größeren Teil aus Studierenden außereuropäischer Nationen zusammen (ungefähr
die Hälfte kam aus Ländern der GUS-Staaten, ein weiteres Drittel aus China,
Japan und Südkorea, eine Minorität aus Spanien, Frankreich und Italien),
während das „Cross Cultural Writing and Society” — Seminar in Cambridge
ausschließlich europäische Teilnehmer beinhaltete (neben englischen auch einige
deutsche, griechische Studentinnen und italienische Studierende). In einem
solchen Kontext wurde auch die Frage nach Hannas Schuld tendenziell
unterschiedlich beurteilt. In den Düsseldorfer Seminaren wurde sie zwar von
einer Mehrheit der Studierenden als „Täterin” betrachtet, ein großer Teil präferierte
jedoch eine Doppelkategorisierung als „Opfer” und „Täterin”, d.h. als
„unschuldig” und „schuldig” zugleich, und eine Minderheit beurteilte sie sogar
als unschuldiges Opfer. Bei einer Wahl von Adjektiven zur weiteren Beschreibung
Hannas dominierte der Terminus „grausam”, an zweiter Stelle wurde die
Eigenschaft „hilflos”, dann „stark” und schließlich „überlegen”, „erweckt
Mitleid” und „feige” gewählt. In Cambridge wurde Hannas Analphabetismus zwar
als Erklärungsansatz herangezogen, aber als Opfer wurde sie dennoch von keinem
der Studierenden bezeichnet. Es dominierte eine Sichtweise Hannas als hybride
Figur im Spannungsfeld von Schuld und Unschuld, wobei die Höhe der Schuld
durchaus unterschiedlich bewertet wurde. Die Frage, inwieweit die Generation
der Nachgeborenen noch in diese Schuld verstrickt ist, wurde dann schon sehr
früh und insbesondere von deutscher und italienischer Seite her emotional
betont besprochen, wobei immer wieder auf Elemente der internationalen
Diskussion der Schuldfrage zurück gegriffen wurde (vgl. Kapitel 1). Insgesamt
wurde so relativ schnell eine abstraktere Ebene erreicht und beibehalten, die
sich ungeplant auch bis in eine moralisierende Diskussion über Hannas Schuld hinsichtlich
ihrer „Verführung eines Minderjährigen” ausweitete. Die Teilnehmer betonten am
Ende der Unterrichtssequenz an beiden Orten übereinstimmend, dass Schlink das
Thema „Schuld” in seinem Roman höchst differenziert darstellt und dass sie die
Lektüre als sehr stimulierend empfanden. Der Vorleser ist von daher, aber
insbesondere auch mit Blick auf die Möglichkeit höchst unterschiedlicher
subjektiver Rezeptionsebenen unbedingt für den fremdsprachlichen universitären
Deutschunterricht zu empfehlen.
Anhang 1: „Die Stute von Majdanek” (Auszug
aus Süddeutsche Zeitung, Magazin, vom
13.12.1996)
Was ihr Gatte und die Nachbarn nicht wussten: In
führender Funktion verrichtete Hermine Ryan, damals noch Hermine Braunsteiner,
von 1942 bis 1944 Dienst im polnischen Konzentrationslager Majdanek – als
stellvertretende Schutzhaftlagerführerin. Die Häftlinge in Majdanek hatten für
viele SS-Leute Spitznamen, denn niemand von der Kommandantur oder vom
Wachpersonal stellte sich mit seinem wahren Namen vor – Hermine Ryan nannte man
„Kobyla, die Stute”: weil sie mit ihren eisenbeschlagenen Stiefeln die Menschen
trat. Und sie drosch dazu noch mit der Peitsche auf sie ein. Hermine Ryan „war
eine Bestie”, schaudert es Simon Wiesenthal heute noch, „deren latente
sadistische Veranlagung durch den Betrieb im Konzentrationslager bloßgelegt
wurde”. [...] Es war zugleich das erste und einzige NS-Verfahren, in dem
weibliche Lagerbedienstete vor einem deutschen Gericht standen. Zu Beginn war
von Grauen keine Spur. Angeklagt waren inzwischen betuliche ältere Damen mit
Strickkostüm, Wollmütze und Kuchengesicht, Hausfrauen, die man von Heim, Herd
und Kaffeekränzchen weggerissen hatte. Nette Omis, die ihr Gesicht vor dem
Blitzlichtgewitter der Photographen mit Tüten und Zeitungen schützten. „Bestien”,
die in Majdanek „panische Angst verbreiteten”, die „wie besessen” schlugen und
„Exzesstaten” begingen.
In der ersten Reihe vor dem Schwurgericht, das
Haar unter der Wollmütze frisch geweißt, in weißer Strickjacke über einem
auffallend lila Kleid, ein verbittert-kantiges
Gesicht: Hermine Ryan, zu Prozessbeginn 56 Jahre alt. Sie zeigt keine
Regung, auch nicht beim Anblick ihrer KZ-Kolleginnen, mit denen sie nach
einigen Stunden erste Worte wechselt. Ryan sieht sich drastisch benachteiligt:
Die anderen fahren nach den Verhandlungstagen nach Hause, sie dagegen wird als
Untersuchungsgefangene abgeführt. Nur einmal kommt sie für acht Monate gegen
Kaution frei: 17000 US-Dollar haben die Nachbarn in Queens unter Russel Ryans
Federführung zusammengekratzt. Weil sie aber in einer Verhandlungspause eine
Zeugin mit den Worten „Sag die Wahrheit, du Lügnerin!” anzischt und so
duzenderweise das alte Machtverhältnis im Lager wiederherstellt, kommt sie
erneut in Untersuchungshaft. Ihr Mann besucht sie zweimal die Woche. Manchmal
bringt er Uhu und Stoff mit: Frau Ryan bastelt. Hermine Ryan ist die
Schweigsamste. Wenn sie mal spricht, bestreitet sie die Vorwürfe und beugt sich
wieder über ein Rätselheftchen. Einmal ermahnt sie Richter Bogen, sie möge
zuhören und nicht mit einem Gummiring spielen, worauf sie zurückschnippt: „Ich
höre zu.” Staatsanwalt Dieter Ambacher und Günter Bogen sind in den fünfeinhalb
Jahren sehr oft verzweifelt. Es gibt vierhundert Zeugenaussagen, aber keine
genauen Täterzuordnungen. „Wir haben viele Leichen, aber keine Täter”, seufzt
Ambach einmal: „Viele Zeugen verwechseln Zeit, Ort und Aufseherin, was den
Angeklagten zu Gute kommt. Die haushalten mit Auskünften”.
Die Wienerin mit den stets wechselnden Kostümen, die im Prozess zwanghaft ihre Hände knetet, spielt dabei die große Unnahbare. Demonstrativ liest sie amerikanische Zeitungen, bastelt kleine Weihnachtsbäume für die Wachmänner und macht nur Angaben zur Person: Mit 23 Jahren arbeitete sie in einer Berliner Munitionsfabrik, für wöchentlich 16 Reichsmark. Ein Polizist, bei dem sie zur Untermiete wohnte und der den Kommandanten des benachbarten Konzentrationslagers Ravensbrück kannte, vermittelte sie für monatlich sechzig Mark in das Lager. „Freiwillig habe ich mich nicht gemeldet”, erklärt Hermine Ryan, weshalb sie nach Majdanek versetzt wurde. Staatsanwalt Ambacher glaubt ihr das nicht: Der Dienst in Majdanek facht ihren Ehrgeiz an. Schon nach fünf Monaten steigt sie zur stellvertretenden Oberaufseherin auf, kurz darauf wird ihr das Kriegsverdienstkreuz zweiter Klasse ans Uniformrevers geheftet. „Dass wir das rausgefunden haben”, sagt Dieter Ambacher heute, „darauf waren wir sehr stolz. Das mochte die Ryan nicht gern hören.”
Anhang 2: Hanna Schmitz — Hermine
Braunsteiner, ein Parallelkonstrukt
·
weibliche Lagerbedienstete als Angeklagte ·
Emotions- und Teilnahmelosigkeit ·
Berufung auf Befehle ·
geringe Kooperation ·
H. Braunsteiner als „Kobyla, die Stute” <-> Hanna als
„Pferd” |
Literatur
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will: Strukturelle Grundzüge des Nationalsozialismus in der modernen
Historiographie”, in: GEP 8/3, S. 183-186.
Rings, Guido (2000): „Der konditionierte
Fremde. Anmerkungen zu Selbst- und Fremdbetrachtungen in Camus` L`Étranger”,
in: GRM 50/4, S. 479-500.
Schlink, Bernhard (1997[1995]): Der Vorleser. Zürich: Diogenes.
Schlink, Bernhard (2000): „Ich lebe in Geschichten.
Spiegel-Gespräch zwischen Volker Hage und Bernhard Schlink”, in: Der Spiegel 4/00, S. 180-183.
Schlink, Bernhard (2001): „Auf dem Eis. Von der
Notwendigkeit und der Gefahr der Beschäftigung mit dem Dritten Reich und dem
Holocaust”, in: Der Spiegel 19/01,
S. 82-86.
Schmitz, Thorsten/Fuchs, Albrecht: „Die Stute von
Majdanek”, in: Süddeutsche Zeitung. Magazin 50 vom 13.12.1996, S. 17-26.
Schneider, Peter (1987): Vati. Erzählung. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand.
Schneider, Peter (1998): Rede zur Verleihung des
Fallada-Preises an Bernhard Schlink. Dokumentation des Diogenes Verlags.
Vitoux, Frédéric (1996): „Le
diable nazi au corps”, in: Le Nouvel
Observateur vom 28.11.1996, S. 14.
Wachtel, Eleanor (1999):
„Bernhard Schlink interviewed”, in: Queens
Quarterly. A Canadian Review 16/4,
S. 545-557.
Wandrey, Uwe (1995): „Frau mit Peitsche”, in: Das Sonntagsblatt 50, vom 15.12.1995, S.
33.
Williams, C. K. (2002): „Das symbolische Volk der
Täter”, in: Die Zeit vom 7.11.2002,
S. 37f.
Biographische Angabe
Susanne Kleymann ist Dozentin für Deutsch als Fremdsprache an der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf und Studienrätin im Schuldienst. Ihr Lehr- und Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich neuerer deutscher Literatur und zeitgenössischem deutschen Film. Bei Vorträgen im europäischen Ausland hat sie insbesondere mit Beiträgen zu Der Vorleser und Lola Rennt auf sich aufmerksam gemacht.
Dr. Guido Rings ist Leiter des Fachbereiches
Moderne Fremdsprachen und assoziierter Professor für Interkulturelle Studien
an der Anglia Polytechnic University in Cambridge. Der Schwerpunkt seiner
neueren Publikationen liegt im Bereich komparativischer Film- und Literaturwissenschaften.
Exemplarisch wäre hier auf seinen Sammelband zum europäischen Film zu verweisen
(European Cinema: Inside Out, mit Rikki Morgan-Tamosunas, Winter-Verlag,
2003), in dem internationale Experten aus verschiedenen Disziplinen das postkoloniale
Potential neuerer europäischer Filme erarbeiten. Nach Erzählen gegen den Strich
(Lang, 1996) liegt zur Publikation im Sommer nächsten Jahres nunmehr auch
ein weiteres Werk zum zeitgenössischen hispanischen Roman vor (Eroberte
Eroberer, Vervuert/Iberoamericana, 2005).
[1] Briegleb schreibt über den Umgang der zweiten
Generation mit Nationalsozialismus und Holocaust (1992: 89, 91).
[2] Vgl. etwa die Darstellung der Bewacher in
Jurek Beckers Roman Jakob der Lügner.
[3] Zu politisch
motivierten Änderungen bei der Darstellung des Nationalsozialismus im Rahmen
der bundesdeutschen Geschichtsschreibung vgl. Rings 1997: 183ff. Hier wird
unter anderem auf eine Korrelation zwischen der Behandlung des
Nationalsozialismus als eine dem stalinistischen Totalitarismus vergleichbare
Herrschaftsform und der konservativen deutschen Westblockintegrationspolitik im
Kontext des Kalten Krieges verwiesen. Im Rahmen der sozialdemokratischen
Ostpolitik kommt es dann nicht zufällig zu einem Perspektivenwechsel, der die
Parallelen zwischen deutschem, spanischem und italienischem Faschismus in den
Vordergrund holt, und damit zugleich die äußerst kritische Sicht sowjetischer
Machtstrukturen marginalisiert. Innerhalb verstärkter europäischer
Integrationsbemühungen und eines manifesten Interesses an europäischer und
amerikanischer Unterstützung des deutschen „Wiedervereinigungsprozesses” zeigt
sich dann seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre ein zunehmendes Interesse an
der Erforschung des Nationalsozialismus als einzigartigem Phänomen, mit dem die
Totalitarismus- und Faschismusdebatten als veraltet zurückgewiesen werden. Auch
wenn ein solches Resümee grober Tendenzen dem außerordentlich weiten und
partiell durchaus sehr politikkritischen Spektrum bundesdeutscher
Historiographie wenig gerecht wird, so verweist es doch sehr prägnant auf die
potentielle Größe politischer Einflussnahme, die das an Schulen gelehrte und
über Massenmedien popularisierte NS-Bild, und damit zugleich auch scheinbar
„natürliche” Vorstellungen von Schamgefühl und „political correctness”, im
Sinne aktueller Herrschaftsstabilisierungsversuche entscheidend mit prägt.
[4] Schlink formuliert hierzu:
„For a long time, we had a tendency to make them [our parents] into monsters
because if they were grotesque and larger than life, it was easier to explain
their participation in the mass destruction that was the holocaust” (in:
Wachtel 1999: 548). Vgl. auch
Löhndorf (1995: 6) und Michalzik (1995: 8).
[5] Vgl. hier auch
Hages provokatorische Frage: „Sind die ideologischen Mängelrügen erst der
Anfang eines neuen Generalverdachts, unter den sich jene deutsche Literatur
gestellt sieht, die aus dem Abstand eines halben Jahrhunderts heraus (und zum
Teil aus zweiter Hand) die von den Deutschen ausgelöste Katastrophe des
Weltkriegs neu erzählen möchte?” (2002: 181).
[6] Die in den 60er und 70er-Jahren verhandelten
Auschwitzprozesse vor dem Schwurgericht beim Landgericht Frankfurt am Main
gehören zum soziohistorischen Hintergrund des Romans.
[7] Michael vergleicht Hanna schon früh mit einem
Pferd, das sich „glatt und weich und darunter fest und stark” anfühlt (S. 68).
Der Verweis auf eine Aufseherin, die die Gefangenen „Pferd” nannten, erinnert
an den Majdanek-Prozess von 1975 bis 1981 in Düsseldorf. Die Angeklagte Hermine
Ryan, geborene Braunsteiner, wird dort wegen ihrer häufig zum Einsatz
gekommenen eisenbeschlagenen Stiefel und der Peitsche „Kobyla, die Stute”
genannt. Ähnlich wie Hanna Schmidt verhält auch sie sich während des Prozesses
wenig kooperativ und teilnahmslos. Überliefert ist, dass sie strickt sowie
Rätselheftchen löst und nur direkte Vorwürfe bestreitet. In den von ihrem
Anwalt verfassten Schlussworten bezeichnet sie sich als „Zahnrad im Getriebe”
und „Glied einer Kette”. Der vorsitzende Richter, Günter Bogen, resümiert
interessanterweise unter Rückgriff auf tradierte binäre Sozialbilder, dass der
Nationalsozialismus „die in ihr ruhende Monstrosität aktiviert” habe. Es
handelt sich dabei um das einzige Verfahren, das gegen weibliche
Lagerbedienstete vor einem deutschen Gericht geführt wurde. Vgl. die Reportage
von Schmitz und Fuchs für einen ersten Einblick (1996: 17-26).
[8] Es gab lediglich zwei Zeugen, die nur sehr
begrenzt Auskunft über die Vorgänge geben konnten.
[9] Vgl. Köster: „Die ablehnende Kritik an der
Verknüpfung von NS-Verbrechen und Analphabetisierung geht davon aus, dass durch
die Einführung dieses Erklärungsmoments die Verantwortung der Täter reduziert
und die Schuld relativiert werde, insofern das Verbrechen nicht primär auf
freier Entscheidung beruht, sondern als Folge von mangelnder Einsicht in den
Handlungsspielraum und die Folgen der Entscheidung erscheint” (2000: 52f.).
[10] Wenn das
Theaterspiel im Gerichtssaal nicht vollständig zur Groteske ausgearbeitet wird,
so mag dies nicht zuletzt mit Schlinks Hintergrund als hauptberuflichem
Juraprofessor zusammen hängen. Bei allen Hinweisen auf Schwächen im System,
wird doch vermieden, kafkaesken oder camuschen Modellen zu folgen. Zur
Absurdität moderner Gerichtsverfahren in Camus’ L’Étranger vgl. etwa
Rings 2000: 480ff.
[11] In ersterem Fall
handelte es sich um Teilnehmer des DaF-Zusatzqualifikationsprogramms der
Deutsch als Fremdsprache Abteilung der Universität Düsseldorf. Der überwiegende
Teil dieser Lerner befand sich im Hauptstudiumsabschnitt eines
Germanistikstudiums. In letzterem Fall wendete sich die Sequenz an Studierende
des Fachbereichs „Modern Foreign Languages and Intercultural Studies” der
Anglia Polytechnic University — Cambridge, die sich mit einer Kombination wie
„German and Intercultural Studies” im letzten Studienjahr ihres BA-Honours
Degree befanden. Auf beiden Seiten gab es verschiedene Unterrichtsversuche, die
von einer zweistündigen Seminareinheit im Anschluss an eine ganzheitliche
Lektüre des Vorlesers bis zu einer auf drei Wochen verteilten
sechstündigen Veranstaltungsreihe reichte. Wegen dieses Experimentalcharakters
in der Durchführung sowie der Heterogenität der Lerngruppen wurde auf einen
direkten Vergleich der Lernfortschritte verzichtet. Statt dessen wird hier aus
den verschiedenen Erfahrungen eine für den Unterrichtseinsatz mit heterogenen
Studierenden abstrahierte Synthese aufgestellt, die eine sechstündige
Unterrichtsreihe auf der Grundlage einer „step-by-step”-Lektüre des Romans
favorisiert.
[12] Die Romanhandlung beginnt Ende der fünfziger
Jahre und umfasst einen Zeitraum von etwa 25 Jahren.
[13] Als wirkungsvoll erweist sich der laute
Vortrag des Dialogs nach Michaels Überraschungsbesuch in der Straßenbahn,
Hannas Arbeitsplatz. Die hier besonders deutliche Störung der
Kommunikationsstrukturen kann anschließend im Plenum analysiert werden.
[14] Über die
Suchmaschine Google sind zahlreiche Kopien des Bildes „Hotel Room” von Edward
Hopper leicht zugänglich, die als Folie im Unterricht eingesetzt werden können.
Vgl. http://www.abacus-gallery.com/paintings/Edward_Hotel_Room_1931.shtml.
[15] Um den Studierenden das Verfassen des Inneren
Monologs zu erleichtern, sollten zunächst wesentliche Kriterien dieser
Textsorte erläutert werden: Ich-Perspektive, Präsens, kurze assoziative Sätze
etc. Außerdem kann der erste Satz vom Lehrer vorgegeben werden, damit der
Schreibprozess schneller in Gang gesetzt wird.
[16] Im Rahmen einer
englischen Lerngruppe war ein Studierender durch Erfahrungen mit „Charity Work”
mit der Situation von Analphabeten in unserer zeitgenössischen Gesellschaft
besonders vertraut, was die Diskussion erheblich bereicherte. Im Allgemeinen
muss aber zunächst von einem sehr begrenzten Verständnis für eine solche
Außenseiterposition ausgegangen werden. Mitunter wurde deren Existenz von den
Studierenden sogar als Vergangenheits- bzw. „Dritte Welt Phänomen”
kategorisiert, was durch die Integration entsprechender Sachtexte leicht
relativiert werden konnte.