Digitale Bibliothek Deutscher Klassiker

 

Hg. von Chadwyck-Healey

 

USA/UK: Proquest Information and Learning Company, 2001-2004, 8 Großbände, ISSN 1075-3877, £26000, €39000.

 

Rezensiert von Guido Rings, Cambridge

 

 

Mit Chadwyck-Healeys Digitaler Bibliothek (http://klassiker.chadwyck.co.uk) erscheint erstmals eine elektronische Version der sehr gut bekannten Bibliothek Deutscher Klassiker, die seit 1981 vom Deutschen Klassiker Verlag in Frankfurt am Main zusammengestellt und ausführlich kommentiert wird. Die Frankfurter Sammlung ist mittlerweile auf 175 Bände mit über 200.000 Seiten angewachsen und gilt als umfangreichste Sammlung klassischer deutscher Literatur. Ein solch außerordentlicher und keineswegs verbindlich abgeschlossener Umfang lässt sich allerdings kaum vermarkten, und so ist nicht verwunderlich, dass auch die im Verlaufe des nächsten Jahres noch zu komplementierende, primär für die Nutzung in Bibliotheken von Universitäten, Schulverbänden und Forschungsinstituten produzierte Digitale Bibliothek wie alle vorhergehenden traditionellen Ausgaben anderer Verlage nur eine Auswahl der großen Bibliothek Deutscher Klassiker darstellen kann.

Auf den ersten Blick überraschend ist allerdings sehr wohl die Art der Auswahl, denn Goethe und Schiller sucht der Benutzer in dieser elektronischen Version vergebens. Er findet dafür reichlich anderes Material, konkret schon in den ersten vier der nach der Verlagsplanung bis Ende 2004 insgesamt verfügbaren acht Großbände sämtliche Werke von Georg Büchner, Friedrich Hölderlin, Gottfried Keller, Heinrich von Kleist, Theodor Storm und Joseph von Eichendorff. Darüber hinaus erscheinen äußerst umfangreiche Ausgaben der Werke von Johann Gottfried Herder, Johann Gottfried Seume, Karl August Varnhagen von Ense, Achim von Arnim, Bettine von Arnim und der Brüder Grimm. Die klassischen belletristischen Texte werden durch eine ähnlich umfangreiche und ausgewogene Sammlung historischer, politischer, philosophischer und kunsttheoretischer Schriften ausgezeichnet ergänzt, die sich überwiegend in der neunbändigen Bibliothek der Geschichte und Politik sowie in der vierbändigen Bibliothek der Kunstliteratur im vierten elektronischen Großband finden. Mit Jacob Burckhardts Ausführungen zur Kultur der Renaissance in Italien schließt dieser vierte Band.

Noch im Verlaufe diesen Jahres sollten die Großbände 5 und 6 hinzukommen, und damit eine beeindruckende Reihe weiterer klassischer Literatur. Das Spektrum reicht von einer zehnbändigen auf Frühe Deutsche Literatur sowie Belletristik des Frühen und Hohen Mittelalters ausgerichteten Reihe, über die Werke von Meister Eckhart, Wolfram von Eschenbach und Heinrich von Veldeke, bis hin zu Georg Rollenhagen, Jacob Böhme, Andreas Gryphius, Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, Johann Günther und Franz Grillparzer. Im Verlauf von 2004 sollten umfangreiche Bände von Gotthold Ephraim Lessing, Immanuel Kant, Karl Philipp Moritz, Johann Fichte, Ludwig Tieck, Friedrich Schleiermacher und E.T.A. Hoffmann die Digitale Bibliothek komplementieren.

Der Ausschluss von Goethe und Schiller aus diesem umfassenden Gesamtprojekt erklärt sich aus Kosten-Nutzen-Gründen, d.h. im Sinne einer besseren Vermarktung bzw. aus Benutzerperspektive im Interesse einer breiteren Verfügbarkeit der Digitalen Bibliothek. Nicht zufällig sind auch die traditionell gedruckten Bände der Bibliothek Deutscher Klassiker mit den Jahren deutlich schmaler ausgefallen, als es der damalige Leiter des Deutschen Klassikerverlages und ursprüngliche Motor des Unternehmens Gottfried Honnefelder vorgesehen hatte. Ähnlich gilt auch im digitalen Bereich, dass Produkte umso teurer werden je umfangreicher sie sind, und nicht jede Universitätsbibliothek wird daran interessiert sein, für eine digitale Duplizierung der längst mehrfach in gedruckter Form vorliegenden gesammelten Werke von Goethe und Schiller einen deutlich höheren Endpreis der Digitalen Bibliothek zu bezahlen. In diesem Sinne ist es letztlich im Interesse des Benutzers, die extrem umfangreichen Werke der beiden Klassiker aus dieser Ausgabe auszuklammern, zumal Goethe und Schiller bereits seit Jahren in anderen digitalen Reihen von Chadwyck-Healey angeboten werden (siehe http://goethe.chadwyck.co.uk und http://schiller.chadwyck.co.uk über den CD-ROM Verkauf für £5786 bzw. £5250; Goethe auch als Web-Abonnement für jährlich £1045). Wer im Laufe der nächsten Jahre möglichst vollständig auf digitale Bibliotheken umstellen will, kann dies durch Hinzukauf der letzteren beide Produkte logistisch recht leicht durchführen. Es fehlen dann immer noch die Werke von Klopstock und Wieland, sowie eine ganze Reihe weniger bekannter Klassiker, aber vollständig sind auch die traditionell gedruckten Konkurrenzprodukte keinesfalls. Bei einer breiten Akzeptanz der digitalen Produkte ist außerdem davon auszugehen, dass in den nächsten Jahren weitere Klassiker digitalisiert werden. Weiterhin stellt sich die grundsätzliche Frage, in wie fern bei einem Großprojekt wie der Bibliothek Deutscher Klassiker überhaupt Vollständigkeit erreicht werden kann.

Gegenüber gedruckten Ausgaben liegen die Vorteile der mit Internet Explorer 5.0 bzw. Netscape Navigator 4 oder fortgeschritteneren Varianten leicht zugänglichen Digitalen Bibliothek vor allem in der einfachen Zugriffsmöglichkeit zu den literarischen Texten, und insbesondere in den vielfältigen leicht handhabbaren Suchmöglichkeiten, die sowohl für den schulischen und universitären Bereich als auch für weitere literarisch interessierte Kreise kaum hoch genug einzuschätzen ist. Gesucht werden kann auf Deutsch und auf Englisch (die Webseiten sind in beiden Sprachen verfügbar) nach Autoren, Titeln und Schlüsselbegriffen, und letzteres entweder innerhalb der Werke bestimmter Autoren oder auch darüber hinaus. Bei den Schlüsselbegriffen kann es sich um einzelne Wörter handeln, aber auch um Wortkombinationen bzw. Wortelemente. Schon eine einfache Suchaktion nach Autor („Büchner“) und Schlüsselwort („Automat“) belegt so beispielsweise sehr schnell, dass bei aller Betonung von menschlicher Automatisierung in Büchners Leonce und Lena der Begriff „Automat“ an keiner Stelle des literarischen Werkes erscheint, sehr wohl aber in einem Brief des Autors an Wilhelmine Jaeglé, auf den in einem Stellenkommentar verwiesen wird. Zur Annäherung an die Verwendung simplistischer Dichotomien in der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts genügen Suchaktionen nach Wortkombinationen wie etwa „gut und böse“, denn die führen unmittelbar zu einschlägigen Schriften von Herder, Keller, Eichendorff und Nietzsche. Ähnlich hilft die sekundenschnelle elektronische Suche aber auch bei Schüleraufsätzen zum Soldatenbild in Büchners Woyzeck, bei studentischen Arbeiten zur Dichotomie von „gut“ und „böse“ in Grimms Märchen oder einfach bei der Suche interessierter Leser nach deren Lieblingsthemen, bevorzugten literarischen Motiven und Figuren. Hierbei geht es nicht nur um eine Beschleunigung tradierter Suchformen, sondern auch um ein lückenloses verlässliches Aufspüren der Suchbegriffe, sowie um eine Fokussierung von Forschern, Lernenden und interessierten Lesern auf das Wesentliche, zu dem der Suchakt selber in den seltensten Fällen gehört.

Das problemlose Ausdrucken, Speichern sowie einfaches „cut and paste“ literarischer Textstellen in ein Worddokument vereinfacht, beschleunigt und professionalisiert die Erforschung, das Studium und insbesondere auch die Didaktisierung literarischer Texte, zumal die Nutzungsbedingungen klar ausweisen, dass „Texte aus der Digitalen Bibliothek gedruckt und gespeichert werden [können], um Ausdrucke für Lehre, Forschung und privaten Gebrauch herzustellen“.

Die für die gesamte Digitale Bibliothek in einfacher alphabetischer Reihenfolge erstellte Inhaltsübersicht (derzeit von Arnim bis Varnhagen von Ense) erleichtert den Zugriff auf das umfangreiche Gesamtwerk. Zu bedauern ist hier eigentlich nur die komplizierte Differenzierung innerhalb der Sammelbände zu den einzelnen Autoren. So findet der Benutzer bei Anklicken von „Büchner, Georg: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente“ in der Inhaltsübersicht zunächst nur den Verweis auf die Bände 1 und 2, ohne dass klar ist, welche Werke konkret wo zu finden sind. Erst mehrfaches weiteres Anklicken führt dann zu Titeln wie Dantons Tod, Woyzeck, etc. Eine unmittelbare Gesamtübersicht zu den Inhalten der einzelnen Sammelbände wäre hier eine sinnvolle Option gewesen.

Als wenig überzeugende Lösung erscheinen auch die in Rot mitten in den digitalisierten Texten positionierten Original-Zeilenangaben der Bibliothek Deutscher Klassiker. Chadwyck-Healey hat sich hier sichtbar um eine maximale Nähe zur Vorlage bemüht, an statt aber einfach deren Seitenformat zu kopieren (wodurch die Zeilenangaben am linken Rand geblieben wären), dieses leicht zu modifizieren (was aus akademischer Perspektive unproblematisch erscheint) oder wenigstens eine Option zum Ausblenden der Zeilenangaben zu geben, wurden diese im neu formatierten Text einfach vor den Wörtern stehengelassen, vor denen sie ursprünglich standen. Auf den ersten Blick ähnlich leserunfreundlich sind dann auch die vielfältigen Abkürzungen im Anmerkungsapparat (H für Handschrift, R für Reinschrift, etc.), die zwar zu Beginn des jeweiligen Textes meist erklärt werden, aber dies ist leider nicht immer der Fall und dem Quereinsteiger hilft so etwas ohnehin wenig. Eine akzeptable Lösung bietet das Abkürzungsverzeichnis, das allerdings leider nicht als solches benannt wurde sondern erstaunlicherweise unter „references/Anmerkungen“ zu finden ist.

 

Im Resümee betrachtet, handelt es sich bei solchen eher negativ herauszustellenden Aspekten freilich um Details, die vor dem Hintergrund der außerordentlichen Suchvorteile für jeden Nutzer, ob Forscher, Studenten, Schüler oder einfach interessierte Leser deutscher Klassiker, in keiner Weise Einfluss auf die Kaufsentscheidung nehmen sollten. Die Listung der weniger vorteilhaften Aspekte geschieht hier vielmehr im Sinne einer Hilfestellung für den zukünftigen Nutzer bzw. auch als Verbesserungsvorschläge an den Verlag, der solche Schwächen sicher leicht beheben oder reduzieren könnte.  Ein mögliches zentrales Problem für Kauf, Einsatz und Verbreitung dieses Produktes bleibt freilich der Preis. Wenn der Arbeitseinsatz für solch ein Digitalisierungsgroßprojekt in Betracht gezogen wird, so erscheint dieser Preis zwar durchaus verständlich, in einem Kontext andauernder Sparmaßnahmen im europäischen Bildungssektor ist der Kauf sehr häufig jedoch weniger eine Willens- als vielmehr eine Budgetfrage und die Budgets einzelner Universitäten, Institute und Schulen werden in den seltensten Fällen genug freie Kapazitäten haben. So bleibt nur zu hoffen, dass im Rahmen von Zusammenschlüssen mehrerer Universitäten, Schulverbände und Forschungseinrichtungen zumindestens mittelfristig eine möglichst große Verbreitung dieses und anderer digitaler Produkte erreicht werden kann. Auch Kultusministerien erscheinen hier gefordert, denn wenn das Ziel der im Sechsten Europäischen Rahmenwerk unlängst ausdrücklich forcierten „European Research Area“ ernst genommen und der europäische Entwicklungsrückstand im Bereich Informatik und Computerisierung reduziert werden soll, dann kann dies nicht nur über neue Forschungsziele sondern muss gerade auch über neue Forschungsmethoden und –medien geschehen, in deren Rahmen digitalisierte Produkte zunehmend wichtiger werden. Schüler und Studenten möglichst frühzeitig an solche Entwicklungen heranzuführen, gehört ebenso dazu, wie im Bereich der Forschung den Anschluss nicht zu verpassen.