Aufmerksamkeit statt
Automatisierung
Überlegungen zur Rolle des
Wissens im Grammatikunterricht
Der Beitrag geht davon aus, dass das Denken über den Grammatikunterricht immer noch stark von Vorstellungen geprägt ist, die ihre Wurzeln im Audiolingualismus haben, sichtbar etwa an der fast ausschließlichen Produktionsorientierung der didaktischen Verfahren und der Orientierung am Begriff der Automatisierung. Entsprechend schwierig ist es, Einsichten aus der Spracherwerbsforschung und der Sprachlerntheorie für die Didaktik nutzbar zu machen, denn diese heben eher die Wichtigkeit der Rezeption und der Bedeutung syntaktischer Formen und Strukturen für das Lernen hervor. Auch zeigen sie, dass Automatisierung nicht einzelne Regularitäten betrifft, sondern ein komplexer, systemischer Prozess ist. Eine Erneuerung des Grammatikunterrichts, die diesen Erkenntnissen gerecht wird, kann nur zustande kommen, wenn diese fundamentalen Differenzen deutlich werden und die Erwartung an das, was Grammatikunterricht leisten soll, verändert werden. Dann kann auch das didaktische Instrumentarium der Grammatikvermittlung sinnvoll und zielgerichtet erweitert werden.
Mitten in einer
Deutschstunde an der ETH in Zürich kam eine amerikanische Studentin – während
der stillen Arbeit nach einer längeren Sequenz über Dativ und Akkusativ – den
Tränen nahe zu mir und gestand, dass sie mit dem besten Willen nicht wisse, was
der Unterschied zwischen Dativ und Akkusativ sei. Ich hätte das schön erklärt,
aber das sei unverständlich und ergebe für sie keinen Sinn. Der Moment schien
mir nicht günstig für eine Wiederholung von Erklärungen, die ich bereits
gegeben hatte, so versicherte ich ihr nur, der Unterschied könne über Leben und
Tod entscheiden und bat sie, zusammen mit ihrer Nachbarin, die offensichtlich
ebenfalls nicht verstanden hatte, zwei Sätze zu vergleichen und über den
Unterschied in der Bedeutung zu reden: Ich
gebe ihm den Tiger und Ich gebe ihn
dem Tiger. Beide waren für eine Weile äußerst angeregt mit dieser Aufgabe
beschäftigt und schienen nachher zufrieden. Die Studentin sprach mich auf diese
Sache nicht mehr an.
In einer anderen,
etwas fortgeschritteneren Gruppe behandelte ich die zusammengesetzten Nomina.
Ich beschrieb die Regeln für die Zuordnung des Genus, machte Übungen,
beschäftigte mich mit den Fugenmorphemen etc. Nach einigen einschlägigen
Übungen gab ich zum Abschluss, sozusagen als heitere Draufgabe, vier Wortpaare
vor und bat die Studierenden, sich gegenseitig den Bedeutungsunterschied zu
erklären: Seitenstraße – Straßenseite;
Autounfall – Unfallauto etc. Daraufhin passierte eine der denkwürdigsten
grammatischen Viertelstunden meiner Lektorenzeit. Die Studierenden schienen
kaum müde zu werden, eindringlich und mit höchstem Engagement miteinander über
diese wenigen Wörter zu diskutieren.
Mehr oder weniger
zufällig ergaben sich so Konstellationen, in denen Fragen der Grammatik anders,
als ich mir gewohnt war, zum Thema wurden – und beide Male traf ich auf die
Reaktion, die sich jede Lehrkraft wünscht (und häufig nicht zu sehen bekommt):
Bereitschaft, sich mit Grammatik zu beschäftigen, und interessierte,
quicklebendige Auseinandersetzung mit Fragen der Sprache.
Was war in diesen
Situationen anders als sonst? Warum konnte Grammatisches hier fast lustvoll
(wenn ich dies mit der eher gedämpften Stimmung sonst verglich) angegangen
werden? Und deutet diese zunächst einfach erfreuliche Lebendigkeit vielleicht
auf etwas Wichtigeres hin – darauf nämlich, dass hier etwas zu entdecken ist,
das in Bezug auf Grammatikunterricht generell von Belang ist?
Ich gehe davon aus,
dass dies der Fall ist und möchte im Folgenden zuerst, ausgehend von einigen
allgemeinen Überlegungen zu Sprache und Spracherwerb, auf die entscheidenden
Merkmale der eben skizzierten Sequenzen eingehen. Daraus ergibt sich ein erstes
Bild von einem veränderten Grammatikunterricht. Die Unterschiede zur
traditionellen Konzeption der Grammatikvermittlung sind das Thema des zweiten
Abschnitts. Im dritten Abschnitt wird die alternative Vorstellung detaillierter
ausgeführt. Im vierten möchte ich – eher schlagworthaft – auf unterschiedliche
Möglichkeiten aufmerksam machen, wie Grammatikübungen ‚anders‘ angelegt werden können.
1 Zwischen Form und Bedeutung
1.1 Was ist Sprache?
Eine alte
linguistische Charakterisierung von Sprache lautet: Sprache koordiniert die
Welt der Laute mit der Welt der Bedeutungen. Dies ist ein Gemeinplatz in Bezug auf
Wörter – diese verbinden Wortbilder mit Konzepten. Es gilt aber auch für die
Grammatik. Sie erlaubt es, durch die Abfolge von Wörtern strukturelle
Zusammenhänge zwischen Konzepten auszudrücken. Wie Grammatisches hier zur
Bedeutung beiträgt, ist leicht deutlich zu machen: Hund beißt Briefträger ist nicht dasselbe wie Briefträger beißt Hund. Das Letztere ist sicher die interessantere
Meldung: Das ewige Opfer hat sich in einen Täter verwandelt. Die Sätze tragen
andere Bedeutungen, nicht weil sie andere Wörter enthalten, sondern weil deren
Anordung eine andere ist und andere Beziehungen andeutet.
In vielen Sprachen
geht mit der grammatischen Gliederung eine obligatorische Veränderung von
Wortformen einher. So verlangt ‚beißen‘, dass die vom Beißen betroffene Größe
nicht als Subjekt, sondern als Akkusativobjekt erscheint. Dieser Akkusativ
muss, wo immer dies möglich ist, markiert werden: Briefträger beißt unschuldigen Hund. Oft erfolgt die
Festlegung von Wortformen nicht auf Grund syntaktischer Zwänge, sondern auf
Grund dessen, was Sprechende inhaltlich ausdrücken wollen. So sind wir im
Deutschen nicht frei, z.B. Tempusformen zu setzen oder nicht zu setzen, wir
sind aber frei, das Tempus zu wählen, das die Aussage gemäß unseren Intentionen
zeitlich zu situieren erlaubt. Dann geh’
ich noch einen Film schauen und Dann
bin ich noch einen Film schauen gegangen und Dann ging ich noch einen Film schauen besagen Unterschiedliches. Die beiden letzten Sätze etwa beziehen sich gleicherweise
auf Vergangenes, legen aber unterschiedliche Sprecherhaltungen dem Ereignis
gegenüber bzw. unterschiedliche Situationskontexte nahe (vgl. Radtke 1998).
Es ist leicht klar
zu machen, dass Grammatisches Bedeutung hat. Schwierig ist es, diese Bedeutungen
auf klare und eindeutige Weise zu explizieren: zum einen darum, weil die
meisten grammatischen Strukturen bzw. morphologischen Formen mehrere
Bedeutungen haben, zum anderen darum, weil die grammatischen Kernbedeutungen in
jeder konkreten Äußerung überlagert werden von semantischen und pragmatischen
Effekten und eine Abgrenzung hart erarbeitet werden muss. Dass wir
Schwierigkeiten mit der Beschreibung grammatischer Bedeutungen haben, bedeutet
jedoch nicht, dass sie unwichtig oder zweitrangig wären.
1.2 Sprachlernen ist Lernen von Form-Bedeutungs-Korrelationen
Schaut man so auf
Sprache, kann man sagen: Die zentrale Aufgabe von Sprachlernenden ist, die
Korrelation von Sprachformen und Bedeutungen zu lernen. In Bezug auf die
Grammatik heißt dies, dass die Rolle der grammatischen Mittel für die
Interpretation bzw. den Ausdruck von Bedeutungen erkannt und beherrscht werden
muss.
Dass dieser
Bedeutungsbezug für das Lernen zentral ist, wird in allen Untersuchungen zum
Spracherwerb deutlich (vgl. dazu verschiedenen Beiträge in Doughty &
Williams 1998, die daraus aus didaktische Schlussfolgerungen ziehen. Dazu
weiter unten). Semantisch Auffälligeres wird fast stets rascher erkannt,
verstanden und aktiv verwendet als semantisch Unauffälligeres. Dies kommt besonders
deutlich im außerschulischen, d.h. ungesteuerten Spracherwerb zum Ausdruck:
· Wörter fallen
eher auf als grammatische Strukturen oder morphologische Markierungen.
Beispiel: Adverbien und Adverbiale der Zeit werden rascher verwendet als
Tempusformen.
· Wo Grammatisches
unmittelbar relevante Bedeutung trägt, wird es leicht aufgenommen – Singular
und Plural beim Nomen werden rasch erkannt und signalisiert[1], Kasus dagegen wird
erst später differenziert wahrgenommen, auch Genus (markiert wird zuerst und früh
das natürliche Geschlecht von Personen).
· Grammatisches
mit vorab sprachinterner, formaler Relevanz ist schwer auf seine Bedeutung hin
zu durchschauen. Dativ und Akkusativ zeigen nur in bestimmten Konstellationen
(etwa im eingangs gegebenen Beispiel vom Tiger) deutlich sichtbar ihre
unterschiedlichen Potenziale.
Man kann solche
Beobachtungen vor dem Hintergrund der Lernersprachforschung der letzten drei
Jahrzehnte (z.B. Klein 1984; Wode 1993; Ellis 1997, um nur drei zu nennen) so
ausdeuten: Menschen haben eine natürliche Spracherwerbsfähigkeit. Diese zeigt
sich im Erst- und im Zweitspracherwerb. Sie ist so beschaffen, dass Lernende im
Kontakt mit der fremden Sprache fähig sind, in den an sie gerichteten
Äußerungen Sprachelemente und ‑strukturen wahrzunehmen und auf ihre
Bedeutung hin zu interpretieren. Voraussetzung dazu ist,
· dass entweder
der situative Kontext eindeutige Schlüsse auf die Bedeutung einzelner
sprachlicher Elemente (oder ganzer ‚chunks‘) erlaubt,
· oder dass
genügend Elemente einer sprachlichen Äußerung bekannt sind und so Schlüsse auf
die Bedeutung darin befindlicher noch unbekannter Elemente möglich werden.
In beiden Fällen
steht an der Basis des Lernens das Spiel von Form und Bedeutung, und zwar, dies
ist wichtig zu sehen, das Spiel von Form und Bedeutung in konkreten, einzelnen
Äußerungen.
Der beobachtbare
Gang der Sprachentwicklung vom Lexikalischen zum Grammatischen (allgemeiner:
von Sprachmitteln, die unmittelbar die Mitteilungsinhalte betreffen, zu
Sprachmitteln, die die syntaktisch durchgeführte Organisation der Mitteilung
ermöglichen) zeigt, dass die Form-Bedeutungsrelationen nicht auf einmal erkannt
werden können. Vielmehr re-konstruieren die Lernenden aufgrund des
Inputs Zug um Zug das zugrundeliegende System der Zielsprache. Es bleibt ihnen
gar nichts Anderes übrig: Was im Input zu sehen ist, sind sprachliche Formen im
Kontext. Wir wissen, dass diese bestimmten Regularitäten gehorchen. Diese
Regularitäten selbst sind aber nicht sichtbar, sondern müssen aufgrund ihrer
Effekte in Äußerungen erschlossen werden. Und dies ist keine einfache Aufgabe.
In Bezug auf
Singular und Plural ist dies relativ einfach: Im Englischen und Deutschen sind
Pluralformen fast immer länger als Singularformen, das inhaltliche Merkmal
‚Plural‘ wird formal durch ein Mehr an Sprachmaterial angezeigt. Auch wenn etwa
im Deutschen die korrekte Pluralform eines Nomens kaum vorhersehbar ist:
Zumindest dieses Prinzip ist erkennbar und wird auch rasch gelernt. Eine
Übergeneralisierung von -en oder -s erlaubt die kommunikativ
erfolgreiche Signalisierung des Bedeutungsunterschieds. Das Lernen der
korrekten Pluralendungen erfordert dann eine lange Lernzeit – nicht, weil dies
besonders schwierig wäre, sondern weil die korrekte Form für sehr viele Nomina
einzeln gelernt werden muss. Demgegenüber sind die Regularitäten der
Verbstellung im Deutschen zwar durch eindeutige Prinzipien geregelt und quasi
allgemein gültig. Sie sind aber aus dem im ersten Moment wirr scheinenden Input
nur allmählich herauszulesen, dies führt zu langen, über verschiedene Stufen
laufenden Prozessen der allmählichen Annährung an zielsprachkonforme
Strukturen.
Es ist weitgehend
unbestritten, dass der Spracherwerb stark durch ‚interne‘ Mechanismen bestimmt
ist – dies drückt sich etwa in der Vorhersehbarkeit wichtiger Aspekte des
Erwerbsverlaufs aus. Wie die dafür verantwortliche Sprachfähigkeit zu
definieren ist, ist höchst umstritten (vgl. McLaughlin 1987 für eine Übersicht
über die wichtigsten Theorien). Bei Adoleszenten und Erwachsenen bestimmt nicht
nur das Zusammenspiel von zielsprachlichem Input und gegebener Sprachfähigkeit
den Erwerb, sondern auch die bereits bestehenden sprachlichen Kompetenzen.
Deren Einfluss zeigt sich sich am sichtbarsten in den vielfältigen Phänomenen
des Transfers.
Der direkte kommunikative
Sprachkontakt ist nicht der einzige Weg, auf dem Menschen zu Informationen über
die zu lernende Sprache kommen. Der Grammatikunterricht im Rahmen schulischen
Lernens ist der geradezu prototypische Versuch, solche Informationen auf andere
Weise zugänglich zu machen. Zweierlei lässt sich aber aufgrund des eben
Gesagten postulieren:
· Erstens, dass
der ‚natürliche‘ Weg der primäre ist, der allen Menschen zugänglich ist und
sich im Laufe der Menschheitsgeschichte als höchst stabil erwiesen hat. Dies
gilt sicherlich für den Erst- und frühen Zweitspracherwerb. Es ist bekannt,
dass späteres Lernen dieser Art häufig nicht mehr zu vollkommener
Sprachbeherrschung führt (wohl aber zumindest zur Kommunikationsfähigkeit in
unterschiedlich weiten Bereichen).
· Zweitens, dass
dieser Weg auch im Unterricht wirksam ist. Davon zeugt unsere Überzeugung, dass
das Lesen, Hören, Sprechen und Schreiben wichtig sind und dass sie Lerneffekte
haben, und zwar umso mehr, je intensiver die Lernenden darin involviert sind.
Wir raten zu Auslandaufenthalten auch dann, wenn dabei keine Schulen besucht
werden usw. Wenn wir mit diesen Vorstellungen richtig liegen, dann bedeutet
dies: Die explizit vermittelten Kenntnisse sind nicht die einzige Quelle, die
dem Lernen zugrunde liegen. Und Sprachpraxis, die auf Prozessen wie den eben
beschriebenen beruht, ist für die Herausbildung einer funktionierenden
Sprachkompetenz eine notwendige Voraussetzung.
1.3 Auf der Spur eines lerngerechten Zugangs
Die eingangs geschilderten
Erfahrungen können nun auf der Grundlage dieser Überlegungen auf recht einfache
Weise interpretiert werden. Es ist in diesen beiden Fällen gelungen – ohne dass
dies beabsichtigt gewesen wäre – eine grammatische Erscheinung so zu
präsentieren, dass anhand konkreter Beispiele ihre Bedeutung zum Objekt der
Betrachtung und zum Anlass für Überlegungen und Erklärungsversuchen wurde. Es
gelang, mit anderen Worten, im Unterricht den ‚natürlichen‘ Zugang zur
Sprache in Anspruch zu nehmen. Anders, als dies im Alltag normalerweise der
Fall ist, wurden die Lernenden aber durch einen Kunstgriff auf eine ganz
bestimmte Spur gebracht: Die Präsentation von ‚Minimalpaaren‘ erzwang die
Beachtung einer ganz bestimmten grammatischen Form und die Aufgabe, darüber zu
reden, erforderte die Explikation beobachtbarer Bedeutungseffekte.
Didaktisch
potenziell relevant – wie ich selber erst mit der Zeit zu bemerken begann –
sind an Beispielen wie den geschilderten neben dem ‚natürlichen Zugang‘ mit
vorrangigem Bedeutungsbezug sicherlich die folgenden Elemente:
· Rezeptionsorientierung: Anders als im
Grammatikunterricht üblich werden keine Sätze unter Beizug der neuen Form
erzeugt, sondern es werden vorliegende Sätze betrachtet und interpretiert.
· Konkrete Aufgabe: Die Aufgabe lautet nicht, die
Bedeutung des Dativs bzw. des Akkusativs herauszufinden. Ebenso wenig geht es
um eine allgemeine Theorie der Bedeutung zusammengesetzter Nomina. Die Aufgaben
sind simpel und konkret: Was ist der Unterschied in der Bedeutung von zwei kontrastierenden
Paaren? Damit man dies erklären kann, muss der Beitrag der grammatischen Form
für die Gesamtbedeutung erkannt werden. Erläutert werden muss aber nur der
Unterschied in der Gesamtbedeutung vorliegender Sätze.
· Kooperation: Die Lernenden sprechen miteinander
über die vorgelegten Sätze, versuchen daraus klug zu werden und sich
gegenseitig zu erklären, was sie verstehen. Sie formulieren also durchaus, nur
anders als in produktionsorientierten Übungen: Sie formen nicht irgendwelche
Strukturen, nur weil diese die neue Form beinhalten. Sondern sie sagen etwas,
was sie in Bezug auf diese neue Form beobachten und mitteilen wollen. Grammatik
wird hier verbunden nicht nur mit dem Verstehen von Sätzen, sondern auch mit
aktueller Kommunikation, die dieses Verstehen zum Thema hat und seine Relevanz
unterstreicht.
· Implizite Grammatik: Grammatische
Terminologie ist für die Lösung der Aufgabe nicht nötig. Es mag nützlich sein,
die eine oder andere Form benennen zu können, aber dies steht nicht im
Vordergrund.
· Lenkung der Aufmerksamkeit: Dies ist der
wohl wichtigste Punkt. Die Aufmerksamkeit der Lernenden wird auf eine
Erscheinung gelenkt – und sie bleibt für eine gewisse Zeit darauf bezogen.
In dieser Arbeit
machen Lernende Erfahrungen mit Sprache. Sie erkennen, welche Bedeutungseffekte
bestimmte Formen haben, und sie entwickeln aufgrund einer Reihe von Beispielen
eine gewisse Vertrautheit damit. Erfolgreich ist die Arbeit, wenn sie die
entsprechenden Formen in anderen Kontexten wiedererkennen und leichter damit umgehen
können als zuvor. Diese Vertrautheit ist Voraussetzung für die Produktion. Eine
solche ist erst möglich, wenn Klarheit über Form-Bedeutungs-Relationen besteht.
Sich-Äußern heißt ja: Etwas ausdrücken wollen und zu diesem Etwas (zur
auszudrückenden Bedeutung) die passende sprachliche Form zu finden (zu einer
ausgreifenden Analyse dessen, was dies für das Konzept der pädagogischen
Grammatik bedeutet, s. Newby 2002).
2 Ein kritischer Blick auf den traditionellen Grammatikunterricht
2.1 Fundamente des herkömmlichen Grammatikunterrichts
Das eben Gesagte
ist nicht nur eine Beschreibung dessen, was in einzelnen Unterrichtssequenzen
zu beobachten ist. Als solche wird sie wohl kaum Widerspruch erregen. Der
Anspruch, den ich damit verbinde, geht weiter: Ich sehe darin bereits
wesentliche (wenn auch noch nicht alle) Elemente einer Konzeption für den
Grammatikunterricht – und mit dieser Generalisierung begebe ich mich auf
Konfrontationskurs mit dem herkömmlichen Bild. Dieses ist zwar keineswegs in
allen Einzelheiten deutlich definiert, trotzdem lassen sich Kernideen benennen,
um die herum die Theorie und die Praxis des Grammatikunterrichts aufgebaut
sind. Diese Kernideen kreisen fast alle um das Konzept der Automatisierung.
· Automatisierung ist praktisch immer das offiziell
deklarierte wichtigste Ziel des Grammatikunterrichts. Verwirklicht werden soll
sie durch Übungen unterschiedlicher Form, die jeweils eine spezifische
sprachliche Regularität zum Thema haben. Vorausgesetzt (aber selten durch
Argumente belegt) wird, dass Automatisierung von derart vereinzelten
sprachlichen Regularitäten in jedem Fall möglich ist und dass Übungen das
adäquate Mittel dafür sind.
· ‚Automatisierung‘
ist ein Konzept, das in Bezug auf aktiven Formengebrauch definiert ist. Dies
zieht wie von selbst das Prinzip der Produktionsorientierung
im Grammatikunterricht nach sich. Diese Vorstellung prägt in beinahe allen
Lehrbüchern und Grammatikmaterialien den Zugang zu den grammatischen Themen,
die Auswahl und die Form der Übungen.
· ‚Automatisierung‘
bezieht sich immer auf eine Regularität der Zielsprache, ein generelles
normatives Muster der
Ausdrucksbildung. Diese Regularität bildet den Angelpunkt für die
Auseinandersetzung mit Grammatik: Sie wird als Regel gefasst, ihre
linguistischen Parameter werden definiert, und dann wird sie geübt. Die
Lernenden verfügen nun über ein (in den meisten Fällen begrifflich explizites) Wissen über Sprache, wie es im
natürlichen Spracherwerb nicht verfügbar ist. Erwartet wird, dass dieses ihr
sprachliches Tun anleiten und steuern wird.
Dies ist ein
starkes Konzept mit einer gewissen Überzeugungskraft. Sprachgebrauch basiert
auf Automatismen, und es ist die Aufgabe des Sprachunterrichts, solche
aufzubauen. Und da wir schon Grammatikunterricht machen, scheint es naheliegend
zu erwarten, dass diese Arbeit hier geleistet wird.
Andererseits: Der
Sprachkontakt im ungesteuerten Spracherwerb zeigt kaum irgendwo auch nur
entfernte Ähnlichkeiten mit dem, was dieses unterrichtliche
Automatisierungskonzept vorsieht. Es beruht auf einem geradezu unmäßigen
Vertrauen in die Wirksamkeit nicht-natürlicher, sekundärer Verfahren. Und was
die angezielten Ergebnisse angeht: Die auf direktem Wege, ohne Zwischenstufen
stattfindende Automatisierung einzelner zielsprachlicher Regularitäten ist im
natürlichen Spracherwerb keinesfalls die Regel.
Der Kontrast zu den
Vorstellungen zum Sprachwerb, die im letzten Abschnitt angesprochen wurden, ist
also riesig. Und dies ist ein Problem. Irgendetwas kann hier nicht stimmen.
2.2 Enttäuschte Erwartungen – erwartbare Bestätigungen
Eine Einsicht, die
jede Lehrkraft und alle Lernenden irgendwann einmal haben, ist die: Das mit der
Automatisierung, das ist so eine Sache. In einigen Bereichen scheint es zu
gelingen, durch Unterweisung recht rasch eine einigermaßen stabile Beherrschung
der entsprechenden Formen zu erreichen (Präteritum, die Rektion von
Präpositionen – allerdings mit Ausnahme der Wechselpräpositionen, die
Paradigmen von Artikeln, Pronomina etc.). In relevanten Kernbereichen der
Grammatik bringen dagegen noch so viele Übungen keine Automatisierung zustande,
zumindest nicht auf kurze Frist (Verbstellung, Konjunktiv I/indirekte Rede,
Konjunktiv II, Passiv, Gebrauch der Tempora). Im Unterricht fallen solche Dinge
besonders dann auf, wenn nach längerem Üben im Gespräch in der Klasse die eben
thematisierten Formen nicht oder falsch verwendet werden. Beobachtungen dieser
Art werden durch Dutzende von Untersuchungen bestätigt (stellvertretend s. die
große Studie von Diehl et al. 2000).
Es gibt also
Anlass, dem impliziten Versprechen zu misstrauen, das in dem oft wiederholten
Satz steckt, der Grammatikunterricht diene der Automatisierung. Zunächst könnte
man versucht sein, das Konzept zu retten und für den mangelnden Erfolg Fehler
in den Verfahren des Grammatikunterrichts geltend zu machen. Noch mehr
Erklärungen, noch mehr Übungen helfen aber meiner Erfahrung nach bei weitem
nicht immer. Dies darum, weil es tiefere und kaum außer Kraft zu setzende
Gründe dafür gibt, warum Automatisierung auf diese Weise nicht herstellbar ist.
Diese Gründe werden
sofort klar, wenn man sich auf ein kleines Gedankenexperiment einlässt. Ich
lade also dazu ein, provisorisch anzunehmen, dass das oben über primäre,
natürliche Sprachlernprozesse Gesagte stimmt. Nehmen wir zusätzlich an, dass
die entsprechenden Lernverfahren auch im Unterricht wirksam sind. Dies erlaubt
uns zu erwarten, dass die Lernenden in ihrem schulischen Sprachkontakt Schritt
für Schritt eine gewisse zielsprachliche Kompetenz erwerben – keine perfekte,
sondern eine Interimskompetenz, die sich auch in typisch lernersprachlichen
Fehlern, Schwierigkeiten etc. zeigt. Sehr ähnlich, wie dies bei Leuten
beobachtbar ist, die die Sprache ohne Unterricht lernen.
Der
Grammatikunterricht und das in ihm vermittelte Wissen über Sprache ist in
dieser Sichtweise ein Hilfmittel, das geeignet ist, den Lernenden mehr
Überblick zu geben, als sie im ungesteuerten Erwerb haben. Sie bekommen
zusätzliche Informationen und Hinweise, die es ihnen erleichtern, die
sprachlichen Erscheinungen besser zu ordnen, Gleichartigkeiten wahrzunehmen,
die Funktion von Sprachmitteln zu erkennen etc. Kurz gesagt: Sie können sich in
dem Sprachangebot, das an sie herangetragen wird, viel besser orientieren, und
sie können in ihren eigenen kommunikativen Äußerungen gewisse Dinge besser
(komplexer, korrekter) sagen, als sie es ohne dieses Wissen täten.
Dieses Wissen ist
im natürlichen Erwerb nicht gegeben. Wir können also annehmen, dass es nicht
organischer Teil der Basis-Sprachkompetenz ist, sondern ein zusätzlich
verfügbares Instrument der Steuerung und Kontrolle von Verstehens- und
Äußerungsprozessen – ähnlich, wie eine Brille nicht Teil des Sehapparats des
Menschen ist, diesen aber ‚von außen‘ in seinem Funktionieren unterstützt.
Auf der Grundlage
einer solchen Vorstellung von Lernen können wir die Hypothese aufstellen, dass
sich etwa folgende Beobachtungen machen lassen müssten:
· Leute, die im
Unterricht Sprache lernen, sprechen von Anfang an korrekter und komplexer als die
anderen. Sie haben ja einen viel ordentlicheren, auf sie zugeschnittenen Input
und sie haben zudem als Hilfsmittel, über das die anderen nicht verfügen, ein
Wissen über Sprache, das ihnen hilft, sich besser zu orientieren.
· Wir erwarten
eine raschere Sprachentwicklung, auch eine, die letztlich näher an die Norm der
Zielsprache herankommt (vorausgesetzt, die Lernenden brechen ihren
Sprachkontakt nicht ab). Wir erwarten aber gleichzeitig auch, dass die für
Lernersprachen üblichen Phänomene des Sprachaufbaus nicht ausbleiben
(Re-Konstruktion des Systems der Zielsprache, Entwicklung komplexer Strukturen
über verschiedene Phasen der Entwicklung hinweg etc.).
· Da Wissen über
Sprache nicht Teil der unbewussten, spontan wirkenden Sprachkompetenz ist, muss
es durch eigene Verfahren zur Geltung gebracht werden. Es wird in bewussten
Akten der Neuformulierung und Korrektur angewendet, in sekundären Prozessen
also, die auf Formulierungen angewendet werden, die mehr oder weniger spontan
produziert werden.
·
Da Wissen über Sprache bewusst eingesetzt wird, ist der
Einsatz dieses Wissens von günstigen Rahmenbedingungen abhängig, nämlich von
Aufmerksamkeit und freier Verarbeitungskapazität. Da diese nicht immer gegeben
sind, fluktuiert die Qualität der Performanz von Lernenden. Müssen sie spontan
reagieren (wie dies vor allem in Gesprächen der Fall ist), dann kommt es immer
wieder vor, dass Dinge, die sie im Prinzip wissen, in ihren Äußerungen nicht
zum Ausdruck kommen (vielleicht, weil sie gleichzeitig Wortfindungsprobleme haben
und dies ihre Aufmerksamkeit bindet). Es ‚entgeht‘ ihnen dann einfach, dass sie
etwas auf eine Weise sagen, von der sie ‚eigentlich‘ wissen, dass es falsch
ist. Entsprechend zeigen Lernende im Schriftlichen, wo mehr Zeit für bewusste
Verarbeitung bleibt, normalerweise eine eher korrektere Sprachbeherrschung.
Nun, eigentlich
treffen diese Hypothesen genau das, was wir im Unterricht beobachten können und
was auch schon fast unzählige Untersuchungen bestätigt haben (vgl. Ellis 1997,
Diehl et al. 2000, Wode 1993). Die ersten beiden Punkte betreffen Dinge, die
besonders bei vergleichenden Untersuchungen deutlich werden. Dass es
einigermaßen typische Entwicklungsphasen und mit ihnen verbundene
Auffälligkeiten gibt, wird aber auch jede Lehrkraft nach einigen Jahren der
Erfahrung bestätigen. Die Phänomene, die sich auf den Einsatz von Wissen über
Sprache beziehen, sind dagegen jederzeit und leicht beobachtbar: Grammatische
Selbstkorrekturen zeigen die zeitliche Verzögerung, die der Einsatz von Wissen
über Sprache durch sekundäre Prozesse der Überformung zur Folge hat; die Suche
nach ‚dem korrekten Ausdruck‘ zeigt, dass der oder die Sprechende im Verlauf
der Ausdrucksbildung auf einen Punkt gestoßen ist, an dem eine Regel anzuwenden
ist. Diese steht aber nicht spontan und automatisch zur Verfügung, sondern muss
bewusst aufgerufen und eingesetzt werden.
Ich möchte das
Gedankenexperiment hier abbrechen. Die Voraussagen, die aufgrund unserer
Voraussetzungen möglich werden, zeigen ein ziemlich realistisches Bild von dem,
was im aktuellen unterrichtlichen Spracherwerb tatsächlich zu beobachten sind.
Die Annahmen, die dem zugrunde liegen, sind sicher noch nicht vollständig, aber
um einiges erklärungskräftiger als die Automatisierungsthese.
Eine Frage mag hier
besonders interessieren: In unseren Annahmen wird nichts über Automatisierung
gesagt. Wie steht’s mit ihr? – Nun, wenn die Annahmen stimmen, lässt sich
sagen: Sie ist keine Frucht des Grammatikunterrichts. Dieser stellt
Hilfestellungen dafür zur Verfügung. Automatisierung stellt sich primär in der
kommunikativen, situierten Sprachpraxis ein, als kumulierter Effekt einer
Vielzahl von Lernerfahrungen.[2] Wo Automatisierung eintritt, ist bewusster
Einsatz von Wissen nicht mehr nötig, die Produktion stabilisiert sich und zeigt
nicht mehr die typische lernersprachliche Fluktuation. In je mehr Bereichen und
je weiteren Kontexten eine derartige Sprachbeherrschung erreicht ist, desto
weniger bewusste Steuerung und Kontrolle ist nötig, desto weniger leicht werden
die Sprechenden durch äußere oder innere Belastungen bei der Sprachausübung
gestört. Bei Muttersprachigen ist dieses spontan funktionierende System so
stabil, dass nur extreme Zustände (große Müdigkeit, Trunkenheit, Krankheit
etc.) nennenswerte Folgen zeigen.
2.3 Das Erbe des Audiolingualismus
Das Konzept der
Automatisierung wurde vom Audiolingualismus unter Berufung auf die
behavioristische Lerntheorie in die Fremdsprachendidaktik eingeführt. Nun hat
diese Lerntheorie schon längst ihre Überzeugungskraft verloren. Erstaunlicherweise
lebt aber das Konzept in der Fremdsprachendidaktik bis heute weiter. Warum?
Es ist wohl keine
allzu gewagte Hypothese, dass es dazu dient, auf wichtige Fragen des
unterrichtlichen Lehrens eine Antwort zu geben.
·
Ich habe mich eben auf ‚Sprachpraxis‘ berufen. Wenn diese
der eigentliche Motor des Spracherwerbs ist, dann haben wir ein didaktisches
Problem. Unterricht ist ein Ort, der es aus institutionellen und numerischen
Gründen schwer macht, allen Lernenden die Gelegenheit für intensive kommunikative
Sprachpraxis zu bieten. Wenn es gelingt, für Automatisierung außerhalb dieses
Rahmens zu sorgen, ist diese Schwäche der schulischen Lernsituation entschärft.
Übungen wären in dieser Perspektive der Ersatz für die zu geringe Gelegenheit
der Lernenden, sich selbst aktiv mit der Sprache auseinanderzusetzen.
Der Preis, der
für diese ‚Verschiebung‘ zu zahlen ist, ist die nur zu häufig anzutreffende
Kommunikationsferne produktiver Übungen: eine eher marginale Beschäftigung mit
Fragen der Bedeutung grammatischer Phänomene (d.h. eine forcierte
Formorientierung), eine Isolierung grammatischer Regularitäten voneinander und
aus dem Kontext sowie eine Abspaltung des Grammatikunterrichts und seiner
Verfahren vom ‚Rest‘ des Unterrichts (vgl. Portmann-Tselikas 2001).
·
Da vieles lange Zeit braucht, bis es verlässlich in die
Lernergrammatik Eingang gefunden hat, sind wir ständig in Unsicherheit darüber,
ob die Lernenden noch auf dem Weg oder, wie man etwas brutal sagt, am
Fossilieren sind. Was wir dringend nötig haben, ist eine leicht handhabbare
Symptomatik, die es erlaubt, hier die notwendigen Unterscheidungen zu treffen.
Über eine solche verfügen wir erst in Ansätzen. Die seit dem Audiolingualismus
nie abgebrochene Faszination der Didaktik durch das Konzept der sofortigen Automatisierung
lässt sich interpretieren als Versuch, diese Schwierigkeit dadurch zu lösen,
dass man sie erst gar nicht aufkommen lässt (vgl. Portmann-Tselikas 1999).
·
Das Konzept der Automatisierung bürdet den Lehrerinnen
und Lehrern eine schwierige Aufgabe auf, hievt sie aber auch in die schöne
Position von Experten und Schiedsrichtern: Sie führen vor, erklären,
entscheiden über richtig und falsch und bringen damit ihr Fachwissen zur
Geltung. Alle alternativen Konzepte, die ich kenne, weisen der Lehrkraft eine
diffusere, weniger eindeutige und weniger leicht zu erfüllende Rolle zu.
Natürlich führt der
Realitätssinn der Lehrenden dazu, dass sie die mit dem Konzept der
Automatisierung verknüpften Postulate eher auf die leichte Schulter nehmen (die
Lernenden tun dies ohnehin, sie wissen um die Unerfüllbarkeit der Forderung).
Die Tatsache, dass dieses Konzept in Bezug auf den Grammatikunterricht aber
weiterhin – offiziell oder nicht – in Geltung ist und nicht über Bord geworfen
wird[3], hat wichtige Konsequenzen, die geradezu als
Barrieren gegen didaktische Erneuerung wirken. Ich verweise hier nur auf zwei
Punkte:
1) Die Didaktik der Grammatik baut weiterhin
recht einseitig auf Verfahren auf, die fast systematisch Dinge ausblenden, die
für das Lernen wichtig sind. Ich habe im ersten Abschnitt einiges angesprochen
und werde unten näher darauf eingehen.
In der Praxis des Unterrichts führt die
offensichtliche Schwierigkeit, das offizielle Ziel zu erreichen, nicht selten
zu Zynismus (man „macht halt Grammatik, auch wenn’s nichts bringt“, es herrscht
da ja ein gewisser Zwang) und wertet dadurch die eigene Arbeit wie die der
Lernenden ab. Oder es werden die nicht erfolgreichen Lehr-/Lernmuster hilflos
repetiert, in der Hoffnung, die Lehre von der Automatisierung werde irgend
einmal doch noch ihre Wahrheit erweisen.
2) Wenn wir das
Ziel automatisierten Sprachverhaltens in den Vordergrund stellen, blenden wir
eine Erfahrung aus, die alle Lernenden machen (und auch ihre LehrerInnen,
zumindest, wenn diese nicht ihre eigene Muttersprache unterrichten): nämlich
die, dass das Verstehen und Sprechen einer Fremdsprache in einem anderen modus operandi erfolgt als in der
Muttersprache. (Fast) alle sind nicht nur während der Phasen des Übens, sondern
dauerhaft auf mehr Bewusstheit, größere Aufmerksamkeit, sprachsensibleres
Denken und Kommunizieren angewiesen als in der Muttersprache. Auch dann, wenn
die wesentlichen Grundlagen der Grammatik gut, sogar sehr gut beherrscht sind –
sie sind nicht auf dieselbe Weise automatisiert wie in einer Erstsprache.
Grammatikunterricht könnte ein Ort sein (nicht der einzige, hoffe ich), der
dazu beiträgt, bewusst eine Kultur der
Fremdsprachigkeit zu entwickeln, und diese soll nicht gegenüber der der
Muttersprachigkeit schon in der didaktischen Basisterminologie abgewertet
werden. Dies ist aber der Fall, wenn das wichtigste Ziel des Unterrichts darin
besteht, diese Andersartigkeit so rasch wie möglich zum Verschwinden zu
bringen. Anders ausgedrückt: Der ‚bildende‘ Effekt des Fremdsprachenlernens
besteht nicht nur in dem, was die fremde Sprache und die mit ihr verbundene
Lebenswelt den Lernenden sozusagen ‚inhaltlich‘ zu bieten haben.
Fremdsprachig-Sein zwingt zu einer anderen, aufmerksameren Art der
Sprachverarbeitung, d.h. zu einer bewussteren und sorgfältigeren Abgleichung
der Mitteilungsintention mit den zur Verfügung stehenden Sprachmitteln im
Hinblick auf die Erfordernisse der Kommunikationssituation. Vergleichbare
Erfahrungen, wenn auch aus anderen Gründen, sind in der Muttersprache am
ehesten beim Schreiben zu machen.
3 Versuch einer Neupositionierung
Nach dem bisher
Gesagten ist die folgende Charakterisierung der Aufgabe von Grammatikunterricht
sicherlich keine Überraschung. Ich stelle sie einfach hin und kommentiere
anschließend einige Punkte, die ich für besonders wichtig halte.
Grammatikunterricht
hat die Aufgabe, anwendbares, d.h. praktisch nutzbares grammatisches Wissen zu
vermitteln. Dieses hat eine eigenständige Funktion im Umgang mit der fremden
Sprache: Es hilft, Aufmerksamkeit auf relevante Aspekte dieser Sprache zu
fokussieren und ermöglicht eine klarere Orientierung im komplexen Bereich der
sprachlichen Formen/Strukturen und ihrer Bedeutung. Den Lernenden eröffnet sich
damit die Möglichkeit eines fruchtbareren Sprachkontakts sowohl im Hinblick auf
die Lernaufgabe wie auch zur Bewältigung von Kommunikationssituationen.
Die beiden
Komparative in diesem kurzen Text signalisieren implizit, aber deutlich genug
den Bezug zum ungesteuerten Spracherwerb. Die Verfügbarkeit von Wissen über Sprache
verändert die Lernbedingungen tiefgreifend, ohne dass deswegen die
grundsätzliche Gemeinsamkeit angetastet würde: Jedes Sprachlernen basiert auf
der Bemühung, Form und Bedeutung einzelner Äußerungen miteinander zu verbinden.
Wissen über Sprache erlaubt es, diese stets konkreten Bemühungen gezielter und
bewusster zu unternehmen. Voraussetzung dafür, dass dies gelingt, sind: 1) Das
Wissen muss prinzipiell anwendbar sein – es muss praktisches Wissen sein, und
2) es muss auch tatsächlich eingesetzt werden.
3.1 Anwendbares Wissen
Es ist in der
Didaktik immer wieder davon die Rede, dass Grammatik ‚abstrakt‘ sei, dass die
linguistische Terminologie schwierig zu vermitteln sei etc. Damit wird auf andere
Weise das angesprochen, was hier zur Diskussion steht. Um ein Beispiel zu
geben: Dass das finite Verb im deutschen Aussagesatz an zweiter Stelle steht,
bleibt solange abstraktes Wissen, als unklar ist, was ‚die erste Stelle‘ an
Füllung verträgt. Die Regel kann jeder in einer Minute lernen, aber was sie in
Bezug auf konkrete Entscheidungen im Umgang mit Sprache besagt, ist damit noch
nicht geklärt. Ähnliches gilt für Begriffe. Die Studierenden in den eingangs
erwähnten Szenen kannten die Termini ‚Akkusativ‘ und ‚Dativ‘ bzw. ‚Grundwort‘
und ‚Bestimmungswort‘. Die Studentin konnte aber mit dem besten Willen nicht
herausfinden, wozu die Kasus gut sein sollten; in Bezug auf die
zusammengesetzten Nomina zeigte die Diskussion, dass vielen in keiner Weise klar
war, was der dürre Begriff ‚Grundwort‘ ganz praktisch für die Interpretation
bedeutet und was es heißt, dass das ‚Bestimmungswort‘ in verschiedenen
Beispielen in unterschiedlicher Relation zu diesem Grundwort steht. Dass ich
als Lehrer das gesagt, sogar betont hatte, führte nicht dazu, dass alle oder
auch nur die meisten Studierenden dies mit ihrem Wissen und ihren
Spracherfahrungen verbinden konnten.[4]
Solange diese
Vermittlung mit dem Sprachmaterial nicht gelingt, sind Begriffe und abstraktes
Wissen weitgehend leeres Stroh. Ich habe im ersten Abschnitt von ‚Vertrautheit‘
gesprochen, die aufzubauen sei. Ist Vertrautheit gegeben, erkennt man im
Sprachmaterial bestimmte ‚Muster‘ und kann in unterschiedlichen Äußerungen
‚dasselbe Muster‘ wieder finden, obwohl es mit anderem lexikalischem Material
realisiert ist. Auf der Grundlage von Vertrautheit sind Begriffe potente
Hilfsmittel, die es erlauben, Phänomene klarer zu fassen und gegen andere
abzugrenzen[5]; Begriffe allein stellen diese Vertrautheit nicht
her.
Ich halte es für den ersten und wichtigsten Zweck von Übungen, Wissen über Sprache in diesem Sinne praktisch und anwendbar zu machen, d.h. Vertrautheit zu erzeugen. Dies ist notwendige Vorarbeit für die Aufgabe der Automatisierung. Wenn es gelingt, durch Übungen im einen oder anderen Falle tatsächlich einen raschen Transfer neuen Wissens in spontan beherrschte sprachliche Verhaltenszüge zu erreichen, dann umso besser. Die Hoffnung auf solche weitergehenden Effekte sollte uns aber nicht davon abhalten zu fragen, wie die Lernenden am leichtesten mit grammatischen Phänomenen vertraut werden und welche Formen von Übungen am besten dazu beitragen können, dieses erste und grundlegende Ziel zu erreichen.[6]
3.2 Aufmerksamkeit
Aufmerksamkeit ist
eine Ressource, die in jedem, auch im ungesteuerten Lernen zur Verfügung steht,
und zumindest für adoleszente und erwachsene Lernende sind die Momente der
Aufmerksamkeit wesentliche Faktoren des Lernens: Sie sind entscheidend für das,
was am Input wahrgenommen wird und die Chance bekommt, weiter verarbeitet zu
werden.
Was Aufmerksamkeit
im Unterricht auszeichnet, ist die Verfügbarkeit von Wissen über Sprache.
Werden Lernende auf nicht sofort interpretierbare Aspekte im Sprachangebot
aufmerksam, kann durch dieses ‚Aufmerken‘ eine Brücke zum Wissen hergestellt
werden. Treffen sie im Versuch, einen Gedanken zu formulieren, auf ein Problem
oder eine Unsicherheit, kann dieses Problematisch-Werden Anlass sein,
einschlägiges Wissen aufzurufen und anzuwenden. In beiden Fällen besteht die
Chance, dass der ‚Moment der Aufmerksamkeit‘ aufgrund dieses Wissens eine
informationsreichere, tiefere und stabilere (und korrektere) sprachliche
Verarbeitung erlaubt, als dies ohne Wissen möglich wäre. Dies ist gemeint, wenn
in der oben gegebenen Charakterisierung von einer besseren Orientierung im
Blick auf die Lernaufgabe bzw. im Hinblick auf die Kommunikation die Rede ist
(vgl. dazu Hulstijn & de Graaf 1994, die Beiträge in Hulstijn & Schmidt
(Hg.) 1994, Schmidt (Hg.) 1995, van Patten 1994; Portmann-Tselikas 2001, 2002).
Aufmerksamkeit ist
das ‚Medium‘ der Anwendung von Wissen und verantwortlich für das Zustandekommen
von ‚sekundären‘ Prozessen der Sprachverarbeitung. Diese sind die Wegbereiter
für eine tatsächliche Automatisierung, die letztlich fast immer in der
Sprachpraxis passiert, häufig in einem längerdauernden Prozess zusehends
präziserer und sicherer ‚Fein-Einstellung‘ der Sprachkompetenz auf die
Anforderungen der Kommunikation. Auch erfahrene LernerInnen des Englischen mit
deutscher Muttersprache werden sich etwa in Bezug auf die ‚progressive form‘
immer neu vor die Frage gestellt sehen, ob sie diese in einem konkreten Kontext
nun anwenden sollen oder nicht. Sie werden zwar in den meisten Fällen
‚automatisch‘ die richtige Form wählen, daneben aber immer wieder auf
problematische Kontexte treffen und bewusst entscheiden müssen.
Grammatikunterricht
bereitet auf diese permanente Aufgabe nicht nur dadurch vor, dass er
anwendbares Wissen zur Verfügung stellt, sondern auch dadurch, dass er für die
Notwendigkeit aufmerksamen Umgangs mit der Sprache sensibilisiert sowie
Vorbilder und Strategien dafür zur Verfügung stellt.
3.3 Konsequenzen für den Grammatikunterricht
Welche Folgerungen
ergeben sich aus alledem für den Grammatikunterricht? Ich gehe hier nur auf
zwei Punkte ein.
1) Eine Grundfrage
der pädagogischen Grammatik ist, wie grammatische Phänomene zuhanden der
Lernenden beschrieben werden sollen. Häufig wird diese so Frage zugespitzt:
Welche Terminologie soll man verwenden, welche Grammatiktheorie zugrundelegen?
Wenn die hier
eingenommene Position akzeptiert wird, dann lässt sich aus ihr zumindest ein
wichtiges Kriterium für die Beantwortung dieser Fragen ableiten: Das
vermittelte Wissen über Sprache soll Orientierung ermöglichen. Es darf nicht
allein die Gesetze der Form in den Vordergrund stellen, sondern soll das für
jeden rezeptiven und produktiven Gebrauch wesentliche Moment der Bedeutung zu
berücksichtigen und zu thematisieren erlauben (vgl. dazu Newbys (2002) Entwurf
der Grundlagen einer semantisch operierenden pädagogischen Grammatik sowie
seine Grammatik für Englischlernende (1999)).
Ich bin mir nicht
sicher, ob die Beschreibungen, die wir bisher verwenden, dieser Forderung auf
genügende Weise nachkommen. Bedeutungen werden sicher nicht ausgeklammert oder
verschwiegen, aber kaum differenziert oder gar gleichgewichtig mit den formalen
Aspekten behandelt. Allerdings gibt es im deutschsprachigen Raum noch kaum eine
reiche Tradition der Grammatikschreibung, auf die man zu diesem Zweck zurückgreifen
könnte. In den letzten Jahren zeigt sich aber ein vermehrtes Interesse an
Sprachbeschreibungen, die funktionalen und semantischen Aspekten eine tragende
Rolle zubilligen (etwa Radtke 1998). Es ist anzunehmen, dass die hier gemachten
Einsichten über kurz oder lang auch den Grammatikunterricht beeinflussen.
2) Eine zweite,
vielleicht wichtigere Frage ist, welche Verfahren im Grammatikunterricht
geeignet sind, die hier skizzierte Aufgabe zu erfüllen. Ich halte den
produktionsorientierten Zugang nicht einfach für falsch,[7] aber für einseitig und nicht leistungsfähig
genug.
·
Viele grammatische Erscheinungen müssen primär verstanden
werden. Ein besonders deutliches Beispiel dafür ist das Passiv. Man kann sich
mündlich sehr gut ausdrücken, ohne je das Passiv zu verwenden. Aber man kann
keine Zeitung mit Verständnis lesen, ohne es zu verstehen, und zwar: ohne es
genau zu verstehen. Der produktonsorientierte Grammatikunterricht überspringt
diesen Sachverhalt.
·
Auch grammatische Erscheinungen, die aktiv beherrscht
werden sollen, müssen wahrgenommen und verstanden werden können, damit der
Sprachkontakt außerhalb des Grammatikunterrichts wahrhaft produktiv sein kann.
Nur dann kann die praktische Erfahrung damit längerfristig zu einem
konsolidierten Lernergebnis beitragen.
Wenn die zu
lernende Form von Anfang an aktiv verwendet werden muss, haben die Lernenden
genau diese Gelegenheit nicht, bewusst und deutlich wahrzunehmen, wie Sätze und
Formulierungen aussehen und tönen, in denen diese Form korrekt und vorbildhaft verwendet
wird.[8]
·
Bei produktionsorientierten Übungen steht häufig von
vornherein fest, welche Form zu verwenden ist (Passiv, Konjunktiv II, ...).
Damit wird die entscheidende semantische
Dimension einer sprachlichen Konstruktion ausgeblendet. Die Konstruktion
kann ‚blind‘, ohne Verständnis für die involvierten Veränderungen der Aussage
oder der Darstellungsperspektive manipuliert werden. Ein wesentliches Ziel des
Übens – die bewusste Kenntnisnahme nicht nur der formalen, sondern auch der
inhaltlichen Seite grammatischer Strukturen und der Usanzen ihres Gebrauchs –
kann so nicht oder nur am Rande erreicht werden. Der freien, kommunikativen
Verwendung dieser Strukturen wird damit nicht optimal vorgearbeitet.
·
Im produktionsorientierten Grammatikunterricht liegt der
Fokus auf der gerade behandelten Regularität. Das macht oft blind für die
Schwierigkeiten, die Lernende haben, wenn bereits andere, aber formal ähnliche
Konstruktionen gelernt worden sind. Die Aufgabe besteht dann nicht nur darin,
eine neue Regularität zu lernen, sondern genauso darin, sie von der anderen zu
unterscheiden. Dies ist eine Aufgabe, die wieder zunächst im Erkennen, nicht im
Produzieren zu lösen ist.
Die Stichworte in
Abschnitt 1.3 zeigen, in welche Richtung eine weiter gefasste, den Aufgaben an
den Grammatikunterricht besser angespasste Konzeption gehen müsste. Der
folgende Abschnitt dient der Darstellung einiger Verfahren, die hier in Frage
kommen könnten. Viele weitere sind denkbar. Die Auseinandersetzung mit
nicht-produktionsorientierten Formen des Übens sowie der Vermittlung von
Modellen und Strategien aufmerksamen Umgangs mit Sprache hat zwar Tradition,
ist aber gerade im Bereich der Grammatikvermittlung fast stets nur marginal
vertreten gewesen. Entsprechend gibt es hier vieles wieder und neu zu
entdecken, zu verfeinern und zu erproben.
4 Verfahrensweisen für den Grammatikunterricht
Die hier
dargestellten Typen von Übungen realisieren Formen der Auseinandersetzung mit Sprache,
die die Schwierigkeiten, Einseitigkeiten und Konfusionen zu vermeiden suchen,
die traditionelle Grammatikarbeit oft auslöst, und die es erlauben, die Arbeit
an der Grammatik kommunikationsbezogen und kooperativ zu führen: In der
Diskussion und Auseinandersetzung mit dem, was Grammatik für das Verstehen und
den Ausdruck von Gedanken beiträgt.
4.1 Präsentation: Formen mit Bedeutungen verknüpfen
Eine uralte Weise,
grammatische Phänome zu präsentieren, ist die Darbietung von Texten, in denen
sie gehäuft vorkommen. Zusätzlich können die entsprechenden Wörter, Morpheme
oder Strukturen graphisch hervorgehoben werden. Der Zweck solcher Verfahren
ist, eine Regularität im Kontext zu zeigen und diesen zu nutzen, um die
Lernenden auch ohne weitläufige Erklärungen auf die Spur der Bedeutung kommen
zu lassen.
Im Gefolge der
kommunikativen Didaktik sind solche Verfahren und die verwendeten Texte als
‚unauthentisch‘ weitgehend aus dem Unterricht verbannt worden. Abgesehen davon,
dass es authentische Texte gibt, die für solche Zwecke verwendet werden können
– Grammatikübungen sind auch nicht immer gerade ‚authentisch‘, und als
Verfahren im Zusammenhang mit der grammatischen Präsentation ist gegen solche
Versuche zumindest dann wenig einzuwenden, wenn sie es erlauben,
· grammatische
Regularitäten zugänglich zu machen, ohne sie zu isolieren, und sie gleichzeitig
in unterschiedlichen Sätzen, in verschiedenartigen syntaktischen bzw.
lexikalischen Umgebungen zu zeigen;
· sie auf dem Weg
über das konkrete Verständnis (bzw. die Verständnishypothesen) der Lernenden zu
thematisieren, zu besprechen und auf ihre Leistung in konkreten sprachlichen
Kontexten aufmerksam zu machen. Dies kann und soll in alltäglichen,
nicht-linguistischen Termini geschehen;
· ihre
begriffliche Fassung bzw. ihre schematische Darstellung so weit zu verschieben, bis sie als Resultat der Auseinandersetzung
vorgenommen werden kann, so dass sie zur präzisen Beschreibung und Benennung
einer bereits bekannten Erscheinung dient.
Ein solcher Zugang
versucht, das Erkennen und Verstehen als Basis für die Begriffsbildung zu
nehmen, nicht umgekehrt. Und es setzt dabei die gesamte bisher aufgebaute
Kompetenz mit ein – diese ist nämlich gefragt, wenn es darum geht, den Text zu
verstehen. Die neue Regularität wird damit von Anfang an im Zusammenhang mit
der bereits bestehenden Sprachkenntnis und den Intuitionen der Lernenden
gebracht. (Vgl. Sharwood Smith 1993. Doughty & Williams 1998 versammelt
eine ganze Anzahl von Studien, lerntheoretischen Überlegungen und didaktischen
Beobachtungen zu Präsentationsformen, die diesem Typ zuzurechnen sind).
Die Präsentation
von Regularitäten ist im rezeptiven Grammatikunterricht auch direkt, kontextlos
und zugespitzt möglich, so dass ohne Umschweife auf die (vorsichtiger
ausgedrückt: auf eine) entscheidende
semantische Leistung einer grammatischen Form aufmerksam gemacht werden kann.
Ich habe eingangs zwei Beispiele gegeben, die auf diese Weise die Kontraste in
‚Minimalpaaren‘ ausnützen, um bestimmte Aspekte der Grammatik gezielt
zugänglich zu machen.
4.2 Kontrastieren: Bedeutungsunterschiede ausbeuten – die Typik von Formen erkennen
Viele Texte stellen
Ereignisse nicht in der Chronologie ihres Ablaufs dar, sondern in einer für die
textuelle Darstellung relevanten Reihenfolge. Stellt man Lernenden die Aufgabe,
die Chronologie der Ereignisse klarzustellen, wenden sie ihre Aufmerksamkeit
zwangsläufig den Signalen zu, die temporale Ordnungen zu erkennen erlauben:
Tempora, Adverbialien der Zeit, logische Konnektoren, Wissen um Zusammenhänge
in der Welt.
Aufgaben dieser und
ähnlicher Art sind beileibe nichts Neues oder Großartiges. Sie erlauben es
jedoch, das Funktionieren unterschiedlicher (und nicht nur grammatischer)
Systeme in ihrem Zusammenwirken in den Blick zu nehmen und – die Aufgabenstellung
zeigt es – im Hinblick auf ihren Beitrag zur Bedeutung anzuschauen. Dieses
‚Anschauen‘ hat nichts Schwieriges an sich, auch nichts Belastendes, wie dies
Grammatik sonst oft hat. Es geht darum, das, was im Sprachkontakt ohnehin
passiert – Verstehen – in einigen Aspekten bewusst zu machen und den Beitrag
alter, bereits bekannter und neuer, noch wenig geläufiger Formen im Kontrast
zueinander und im Zusammenwirken miteinander nachzuvollziehen – und dabei
generell einsetzbare Lernstrategien zu entwickeln.
Auch hier lässt
sich mit der Methode der ‚Minimalpaare‘ auf höchst konzentrierte Weise die
Charakteristik einzelner Formen bzw. Strukturen aufzeigen. Die ähnlichen,
manchmal fast gleichlautenden Formulierungen realisieren ja ganz
unterschiedliche Konstruktionen:
· Er wurde nur aufgrund herausragender Leistungen zum
Präsidenten gewählt
Er würde nur
aufgrund herausragender Leistungen zum Präsidenten gewählt
· Sie ist für immer von uns gegangen
Sie ist für
immer von uns genommen
Hier werden
grammatische Formen isoliert, aber anders als üblich: Ein beschränkter, aber
entscheidender Kontext bleibt bestehen. Dieser zwingt zur Konstruktion einer
möglichen Äußerungssituation für den Satz und hält auf diese Weise die
Bedeutung im Vordergrund. Dies lässt die formale und inhaltliche Typik der
Konstruktionen sichtbar werden. Diese Typik ist besonders wichtig dort, wo neu
zu lernende Sprachmittel formale Ähnlichkeit mit bereits bekannten haben. In
diesem Fall besteht die Aufgabe darin, die neue Form in den Rahmen des bereits Bekannten
zu integrieren und die Lernenden zu befähigen, ihr ‚Profil‘ zu identifizieren –
eine Aufgabe, die wie in diesen Beispielen unter Umständen bezüglich einer
später zu lernenden dritten Form erneut anzugehen ist (etwa bei Futur vs.
Passiv mit ‚werden‘ vs. Konjunktiv mit ‚würde‘ vs. Passiv mit ‚sein‘ vs.
Perfekt mit ‚sein‘).
Analoges gilt dort,
wo formal unähnliche Mittel einander nahe Bedeutungen aufweisen oder sich in
ihren Bedeutungen überschneiden (etwa Präteritum vs. Perfekt). In solchen
Fällen wird besonders deutlich, dass die Kenntnis der Form für das Verstehen
nicht ausreicht. Im Hinblick auf das Erkennen von Gebrauchsweisen fruchtbar ist
die Vorgabe von Situationen mit der Frage, wie jemand sich mit einer besonderen
Aussageabsicht im Kopf in ihnen äußern könnte. Im Zusammenhang mit dem Gebrauch
von Tempusformen z.B.:
Bist du schon einmal in Schweden gewesen?
A Ja, ich |
war |
schon
zwei Mal dort |
|
B Nein, ich |
bin |
noch
nie dort |
gewesen |
C Ja, ich |
|
ganz kurz
einmal in Stockholm |
|
Die
Wahrscheinlichkeit ist groß, dass MuttersprachlerInnen im ersten Fall das
Perfekt, im zweiten das Präteritum verwenden würden, im dritten ist
Eindeutigkeit wohl nicht gegeben (vgl. dazu auch Newby 2002, Kap. 11). Dass diese
Dinge nicht einfach zu handhaben sind, ist klar – aber für die
Sprachbeherrschung sind sie ganz offensichtlich von Belang, und die Nähe des
Grammatikunterrichts zu Fragen des Sprachgebrauchs wird durch ein Absehen von
solchen Dingen nicht gefördert.[9]
4.3 Übergang zur Produktion
Wie wäre es, wenn
Übungsvorgaben die neu zu lernenden
Mittel bzw. Formen enthielten und die Lernenden die Aufgabe bekämen, auf
dieser Basis Umformungen vorzunehmen, die von ihnen den aktiven Gebrauch
bereits besser bekannter Konstruktionen erfordern? Die übliche Richtung der
Aufgabenstellung ist umgekehrt: vom Bekannten zum Neuen. Dies ist
lerntheoretisch für spätere Stadien unbedenklich, als Einstieg ins Üben eher
befremdlich.
Der hier
vorgeschlagene Weg hat den Vorteil, dass die Lernenden sich an das Neue
gewöhnen und es besser verstehen lernen, was ohnehin ihre erste Aufgabe ist.
Die Neuformulierung mithilfe bekannter Sprachmittel fordert sie auf vertrautem
Terrain und erlaubt ihnen eine leichtere Kontrolle von Form und Bedeutung. Und
vor allem: Die Umformungen brauchen nicht stereotyp zu sein. Während die
produktiven Übungen fast immer nur eine Lösung zulassen – diejenige nämlich,
die das neue Mittel verwendet – können ‚Rückformulierungen‘ unterschiedliche
Form annehmen und erlauben, die Aufmerksamkeit nicht nur auf das zu richten,
was ‚richtig‘ ist, sondern auch auf das, was üblich ist. Schauen wir uns die
folgende Vorgabe an:
· „Von wem wurde ‚Effie Briest‘ geschrieben? – Von Fontane.“
→ Ich hätte nicht gewusst, dass ...
Antworten könnten
hier sein: ..., dass ‚Effie Briest‘ von Fontane ist/stammt oder ..., dass
‚Effie Briest‘ ein Roman von Fontane ist oder ... dass es Fontane war, der
‚Effie Briest‘ geschrieben hat – alles Versionen, die wahrscheinlich besser
sind als ... dass Fontane ‚Effie Briest‘ schrieb und in der Reichweite der
Lernenden liegen.
Das Beispiel zeigt
deutlich die Chancen, aber auch die Schwierigkeiten einer semantisch sensiblen
Übungsanlage (dies gilt für produktions- wie für rezeptionsorientierte Verfahren):
Es ist nicht einfach, Sprachgebrauch spiegelnde Übungsvorgaben im Satzformat
oder in einem satzähnlichen Format zu machen. Die Resultate simpler formaler
Transpositionen sind häufig kommunikativ kaum akzeptabel. Übungen im Textformat
sind in dieser Hinsicht vielleicht noch anspruchsvoller. Eine rein
formorientierte Übungsanlage macht die Sache leichter – sie entwertet aber die
Sätze nur zu oft zu reinem Sprachmaterial, bringt kaum Einblick in den
wirklichen Sprachgebrauch und erschwert den Transfer in die Sprachpraxis.[10]
4.4 Integrierte Arbeitsformen: Grammatik kreativ
Schließlich möchte
ich hinweisen auf eine Arbeitsform, die die viel von dem hier Geforderten
aufnimmt, indem sie Rezeption, Reproduktion und Produktion, Lesen, Schreiben
und Sprechen, Sprachgebrauch und bewusste Aufmerksamkeit auf Sprache intensiv
miteinander verbindet. Sie beruht letztlich auf der Idee des Dicto-Comp, kann
aber, wie Gerngroß, Puchta & Krenn (1999) überzeugend zeigen, in
vielfältiger Weise variiert werden. Hier werden die zentralen Forderungen
‚rezeptiver Grammatik‘ erfüllt und gleichzeitig Türen für weitere, auch
produktive Formen des Sprachkontakts aufgemacht – auf eine Weise, die sonst im
Grammatikunterricht eher nicht zu sehen ist.
5 Zum Abschluss
Eine Sprache erwerben
bedeutet, dass man sich im Feld zwischen Form und Bedeutung sprachlicher
Äußerungen zurechtzufinden lernt. Ich habe in diesem Beitrag versucht zu
zeigen, welche Konsequenzen sich aus dieser Feststellung für den
Grammatikunterricht ergeben. Das Resultat ist keine Revolution, aber eine
deutliche Verschiebung der Schwerpunkte: andere Zielsetzungen, veränderte
Erwartungen, vielfältigere Verfahrensweisen, größere Nähe zur ‚natürlichen‘,
kommunikativen Einstellung auf Sprachliches. An keiner Stelle habe ich den Sinn
von Grammatikunterricht bezweifelt. Zumindest in Bezug auf kognitiv reife,
literate Lernende kann darauf, glaube ich, tatsächlich nicht verzichtet werden[11], ganz abgesehen davon, dass solche Lernende meist
nicht darauf verzichten wollen. Ob unsere Grammatikangebote ihren Erwartungen
und Lernbedürfnissen entsprechen, ist allerdings eine andere Frage.
Hauptsächliches
‚Opfer‘ des hier vorgenommenen Perspektivenwechsels ist die Vorstellung,
Grammatikunterricht diene der Automatisierung von Regeln in der Produktion.
Diese Vorstellung ist nicht zu halten. Automatisierung ist in zentralen
Bereichen der Grammatik nicht willkürlich machbar, sie ist Frucht der Praxis,
nicht didaktischer Eingriffe.
In der Gemeinschaft
der FremdsprachexpertInnen ist dies (‚irgendwie‘) klar, und es gibt kaum
Fachleute, die noch ernsthaft ein Automatisierungskonzept im Sinne der
audiolingualen Lerntheorie vertreten. Trotzdem ist es keine Spiegelfechterei,
dagegen mit einiger Vehemenz anzugehen. Wesentliche Bereiche der Grammatikdidaktik
sind immer noch so angelegt, wie wenn es tatsächlich um dieses Ziel ginge. Das
stillschweigende Einverständnis, dass man das nicht ganz so ernst zu nehmen
habe, mag entlastend wirken – aber es befördert keine Neuorientierung, sondern
lässt den Kanon der hergebrachten Verfahrensweisen intakt. Diese decken aber,
so die Grundaussage dieses Beitrags, nur einen Teil dessen ab, was Lernende
brauchen, und lassen für das Lernen relevante Aspekte an Grammatik nicht
deutlich genug sichtbar und thematisierbar werden. ‚Bedeutung‘,
‚Aufmerksamkeit‘ und ‚Wissen über Sprache‘ als explizite Leitbegriffe der
Grammatikdidaktik signalisieren nicht nur einen Wandel in der Art, wie der
Vorgang des Sprachlernens begriffen wird, sondern eröffnen auch neue Horizonte
für das Nachdenken über angemessene Verfahren des Grammatikunterrichts.
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Biographische Angaben
Paul R. Portmann-Tselikas. Studium an der Universität Zürich, dort auch Assistent, dann zehn Jahre lang Lektor für Deutsch als Fremdsprache an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Habilitation zum Thema Schreiben und Fremdsprachenerwerb. Dozent für Mutter- und Zweitsprachdidaktik an der Universität Zürich. Seit 1995 Professor für germanistische Linguistik und Deutsch als Fremdsprache an der Universität Graz. Schwerpunkte der Arbeit: Fragen des Spracherwerbs und der Sprachdidaktik sowie Textlinguistik, Schreibforschung und Schreibdidaktik.
[1] Dies bedeutet nicht, dass die entsprechenden Markierungen korrekt vorgenommen werden. Meist werden einzelne Formen übergeneralisiert angewendet. Gerade im Deutschen ist die korrekte Verwendung des Plurals etwas, das sich bei vielen Lernenden erst spät herausbildet. Zu diesen Fragen s. auch Diehl et al. (2000).
[2] Pienemann (1999: 308ff.) spricht hier von ‚entrenchment‘, für Anderson (1983) ist der Prozess prozeduraler Anpassung und des ‚fine tuning‘ eine der späten, aber entscheidenden Phasen der Prozeduralisierung. Der deutlich systemische Charakter der Automatisierung (der die Auffassung, dass Einzelregeln isoliert voneinander eingeprägt und automatisiert werden können, als zu einfach erscheinen lässt) wird deutlich etwa
· in Bezug etwa auf Adjektivendungen. Hier ist sie abhängig von der vorgängigen Erreichung von Sicherheit hinsichtlich der korrekten Identifikation von Genus, Numerus und Kasus des Bezugsnomens sowie der Markierung des Artikeln als schwach bzw. stark. Ohne diese Voraussetzungen ist an Automatisierung nicht zu denken.
·
Grammatisch gesehen sind die Phänomene
a) Zweitstellung des finiten Verbs im Aussagesatz, b) Endstellung infiniter
Verbteile, c) Inversion des Subjekts bei Erststellung eines anderen Satzglieds,
d) Endstellung des finiten Verbs im eingeleiteten Nebensatz allesamt Ausdruck
eines einzigen zugrundeliegenden Prinzips. Sie werden sukzessive erworben, meist in dieser Reihenfolge. Durchgängige Sicherheit im Gebrauch ist erst dann
zu erwarten, wenn dieses ganze ‚Paket‘ erworben ist und das zugrundeliegende
Prinzip – intuitiv natürlich, nicht bewusst – ‚erkannt‘ ist (dazu Pienemann
1999: 118ff.).
[3] Johnson (1994) versucht, das Automatisierungskonzept durch eine Neuformulierung der lerntheoretischen Grundlagen zu retten – meines Erachtens ohne Erfolg (s. Portmann-Tselikas 1999: 343f.). Beiträge wie die von Funk & König (1991) oder Wißner-Kurzawa (1995) berufen sich nicht oder nur am Rande auf Automatisierung. Im Subtext ist das Konzept aber durchaus präsent. Sichtbar ist dies daran, dass es kaum Hinweise gibt, die auf eine alternative Sicht des Grammatikunterricht hindeuten.
[4] Ich nehme an, dass die meisten dieser Studierenden zusammengesetzte Nomina im Kontext mehr oder weniger korrekt verstehen könnten. In diesem Falle gab es keine solche Hilfestellung, die Wörter mussten ,aus sich‘ heraus interpretiert werden. Dies ist eine höhere Anforderung, die reifere sprachliche Kompetenz voraussetzt.
[5] Begriffe erlauben (im guten Fall) über diese kognitive Funktion der
Stabilisierung von Wissen hinaus bessere Kommunikation in der Klasse und
größere Autonomie der Lernenden im Umgang mit Hilfsmitteln (Wörterbücher,
Grammatiken).
[6] Im Zusammenhang mit der Feststellung, dass es eine natürliche Reihenfolge des Erwerbs von grammatischen Strukturen und Formen gibt, wird hie und da die Forderung erhoben, die grammatische Progression müsse sich dem anpassen. Ich halte dies für keine unvernünftige Forderung. Allerdings gilt es hier einige wichtige Punkte zu berücksichtigen: 1) Es gibt grammatische Erscheinungen, über die zu informieren ist, bevor die Chance besteht, dass sie erworben werden. Adjektivendungen sind so ein Fall, oder die Verbstellung in Nebensätzen etc. Sie fallen (zumindest im schriftlichen Material) auf und provozieren Fragen. Ich sehe keinen Grund dafür, hier nicht zu informieren und zu zeigen, dass sie Informationen anbieten, die man ausnützen kann. 2) Wissen über Sprache ist auch dann, wenn es möglich wäre, es ,just in time‘ zu präsentieren, potenziell weit über den Zeitpunkt des ersten Erwerbs und einer beginnenden Automatisierung hinaus wichtig. Vgl. das am Ende von Abschnitt 2 Gesagte und 3.2.
[7] Dass er sein deklariertes Ziel nicht erreicht, bedeutet ja nicht, dass er nicht andere positive Wirkungen haben kann.
[8] Vgl. Portmann-Tselikas (1999, 2001). Ich bin überzeugt, dass die zwei oder drei Beispiele, die normalerweise zur Einführung angeboten werden, bei weitem nicht ausreichen, um den Lernenden ein verständliches, facettenreiches und vor allem stabiles Bild des jeweiligen grammatischen Phänomens zu vermitteln. Dazu reicht auch die induktive Regelformulierung, die oft am Beginn der Auseinandersetzung steht, nicht aus, vor allem da sie meist allein auf die Benennung der formalen Eigenschaften einer Konstruktion ausgerichtet ist und das Verständnis ihrer semantischen Leistung vorausgesetzt bzw. nur am Rande angesprochen wird. Auch einige Minimalpaare wie in den eingangs erwähnten Sequenzen reichen nicht aus. Sie sind nur ein Element in einer Strategie, die weiter ausgreifen muss. Vgl. Punkt 4.
[9] Noch einmal: Ich glaube nicht, dass die entsprechenden Regularitäten durch solche Übungen gelernt oder gar gebrauchsreif eingeprägt werden. Diese Übungen sind Mittel, um Aufmerksamkeit und Sensibilität zu erzeugen. Überdies liefern die Übungsbeispiele simple, brauchbare Formulierungen für die Kommunikation.
[10] Trotzdem können produktive Übungen lernrelevante Funktionen erfüllen,
das möchte ich nicht abstreiten. Die Frage, welchen Stellenwert
sie haben sollen, müsste neu als Problem formuliert und untersucht werden.
Wie wichtig bewusste Sprachproduktion ist – allerdings
im Rahmen der Bemühung, Gedanken auszudrücken und kommunizierbar zu machen
–, betont Swain (1985, 1998).
[11] Grundlage für diese Behauptung sind Überlegungen über die Konsequenzen des Schriftspracherwerbs und der schulischen Ausbildung. Vgl. Scheerer (1991), Knobloch (in Vorb.).