Was hat Motorrad fahren mit Deutsch lernen zu tun?

 

Sylvia Fischer, Modena

 

 

In dem Kurs „Gesprächsanalyse mit Talkshows“ können DaF-LernerInnen kommunikative und interkulturelle Kompetenz erwerben. Der Ansatz, der auf Immersion, d.h. auf dem „Eintauchen in eine andere Sprachwelt“, beruht, geht davon aus, dass Gesprächskompetenz durch das Verstehen und Nachahmen authentischer Vorbilder erworben werden kann. Lernende können jedoch nur dann erfolgreich in der Fremdsprache kommunizieren und agieren, wenn sie sich auch über kulturelle Differenzen im Klaren sind. Diese müssen sie zunächst erkennen, um ihr Handeln in der fremdsprachlichen Umgebung partner- und situationsgerecht zu gestalten.

 

1 Wozu Gesprächsanalyse im DaF-Unterricht?

Mit der wachsenden Bedeutung von Kommunikation in der Gesellschaft entwickeln sich kommunikative Fähigkeiten immer mehr zu Schlüsselqualifikationen. Mündlichkeit und Fähigkeit zur Interaktion (selbständiges Agieren und Reagieren in einer Dialogsituation) nehmen deshalb im Fremdsprachenunterricht einen wichtigen Stellenwert ein. Die meisten Modeneser Lernenden des Studiengangs „Lingue e Culture Europee“ sind im Bezug auf ihre rezeptiven Fähigkeiten auf einer zufriedenstellenden oder sogar sehr guten Stufe angelangt, wie eine Einstufung nach dem European Language Portfolio[1] am Anfang des Jahres zeigt, doch leider mangelt es vor allem an mündlichen Produktionsfähigkeiten: Unsere Studierenden haben Hemmungen und artikulatorische und teils auch morphosyntaktische Ängste, sich auf Deutsch auszudrücken.[2] Um diese Schwierigkeiten zu überwinden habe ich den Kurs „Gesprächsanalyse mit Talkshows“ eingeführt.

Das Modeneser Modell der DaF-Didaktik, das meine Kolleginnen und ich bereits auf der Internationalen Tagung der Deutschlehrerinnen und -lehrer in Luzern 2001[3] vorgestellt haben, beruht auf dem Wechselspiel von Immersion (vgl. Ricci Garotti 1999) und Awareness, d.h. wir bieten den Studierenden ein „Sprachbad“, bei dem immer wieder Inseln der Sprachreflexion angesteuert werden können, die zu wachsendem Bewusstwerden über sprachliche Vorgänge anregen. Wie wir auch beim Erwerb der Erstsprache nichts von grammatikalischen Regeln wissen, die Sprache aber dennoch lernen, können wir beim Erwerb von Fremdsprachen unsere natürlichen Erfahrungen nachahmen und nutzen, da die „Die Sprachlernfähigkeiten des Menschen prinzipiell nicht auf Einsprachigkeit, sondern auf Mehrsprachigkeit ausgerichtet (…)“ (Wode 1995: 34) sind.

Wichtig ist jedoch, den Studierenden begreiflich zu machen, dass sie sich auf ein didaktisches Modell einlassen müssen, bei dem wenig erklärt wird, das vielmehr Lernen durch authentische Vorbilder, Nachahmung und Reflexion von ihnen verlangt. Wer Sprachenlernen mit dem sich Aneignen von rein deklarativen Wissen identifiziert, tut sich schwer zu akzeptieren, dass der Erwerb prozeduralen Wissens in erster Linie durch die Erfahrung sprachlichen Handelns in möglichst vielen und diversen Situationen erfolgt. Jemand will z.B. Motorrad fahren lernen, aber anstatt es auszuprobieren, sitzt sie oder er tagelang zuhause und lernt das Handbuch des Motorrads auswendig. Auch die Studierenden sehen ein, dass diese Person am Ende nicht selbständig fahren kann.

Immersion, also das „Eintauchen“ in die fremde Sprachwelt, geht davon aus, „dass das Erlernen mehrerer Sprachen das Natürlichste von der Welt ist und dass Sprachenlernen gewissermaßen als (Neben)Produkt der Sozialisation und der kognitiven Bewältigung der Umwelt weitgehend unbewußt miterfolgt“ (Wode 1995: 19). Gleichzeitig ist verständlich, dass die meisten Studierenden über Sprache reflektieren wollen und auch müssen, da es unsinnig wäre, nur mit „trial and error“ weiterzulernen und bereits entwickelte kognitive Fähigkeiten brachliegen zu lassen.

Im Falle der Vermittlung von schriftlichen Fähigkeiten in der Fremdsprache wird das Prinzip des „Eintauchens“ meist automatisch befolgt: Die Lehrperson stellt Texte verschiedener Art vor, durch deren Imitation die Studierenden lernen können, eigenständige Texte zu produzieren. Auf der mündlichen Ebene mangelt es hingegen oft an solchen Modellen und Vorbildern: Außer der Lehrkraft vermitteln höchstens (meist didaktisierte) Videos oder Hörkassetten Modelle, die jedoch nicht zeigen, wie man in der Kommunikation interagiert. Aufzeichnungen von Gesprächen wie Talkshows eignen sich daher besonders als Modelle mündlicher Kommunikation, anhand deren Studierende lernen können, wie SprecherInnen zu Wort kommen, am Wort bleiben, unterbrechen usw.

„Gesprächsanalyse“ bietet sich dabei aus mehreren Gründen besonders an: Sie hilft zu verstehen, wie Frauen und Männer in Gesprächen zu Wort kommen, wie sie sich selbst dabei darstellen oder welche kulturellen Unterschiede eine Rolle spielen: „Gesprächsteilnehmer benutzen typische, kulturell (mehr oder weniger) verbreitete, d.h. für andere erkennbare und verständliche Methoden, mit denen sie Beiträge konstruieren und interpretieren (…)“ (Deppermann 2001: 8). Verschiedene Aspekte werden im Unterricht auf Basis der einschlägigen Gesprächsanalysemodelle (vgl. Henne & Rehbock 1982) analysiert und anschließend nach- bzw. weitergespielt, um den Studierenden einen erweiterten Kommunikationsspielraum zu ermöglichen.[4]

Mein neu konzipierter Kurs mit Talkshows versucht folglich die emotiv-imitativen und die kognitiven Fähigkeiten auf verschiedenen Ebenen gezielt miteinander zu vernetzen. Am Ende sollen die Studierenden besser deutsch sprechen, hören und kommunizieren können. Dabei steht die grammatikalische Korrektheit nicht im Vordergrund, wie es im herkömmlichen Sprachunterricht an den italienischen Schulen oft der Fall ist. Die Studierenden sollen vielmehr ihr Dilemma „Soll ich schweigen und damit keinen Fehler machen?“ oder „Soll ich reden und sofort durch Fehler negativ auffallen?“ überwinden und sich zutrauen, eigenständig produktiv zu werden.

 

2 Theoretischer Hintergrund und didaktische Realisierung

2.1 Aufwärmen mit der Talkshow „Nachtcafé: Zwischen Exzess und Askese. Der Traum vom erfüllten Leben“

Der Titel der Talkshow steht an der Tafel und die Studierenden haben die Aufgabe, sich in Gesprächsgruppen zu überlegen, welche Themen in einer Talkshow mit dem Namen „Zwischen Exzess und Askese…“ diskutiert werden könnten. Es geht hierbei darum, sie von ihrem Standpunkt aus an das neue Thema heranzuführen, sozusagen an ihre eigene Erfahrungswelt anzuknüpfen, damit sie sich ein „Bild machen“, sich etwas vorstellen. Es kommt nicht darauf an, zu erraten, was wirklich besprochen wird, sondern sich mit möglichst vielen Assoziationen auf das Neue einzustellen und zu -lassen.

Die einzelnen Gruppen (ca. vier Personen) tragen vor, welche Ideen sie zu dem gegebenen Thema haben: Bodybuilding und Körper - Buddhismus und New Age - Drogen und Alkohol - Meditation - Biokost…. sind die Begriffe, die schließlich dabei herauskommen.

Anschließend sehen wir gemeinsam den ersten Teil der Sendung an, der mit einer Umfrage auf der Straße beginnt: „Was ist für Sie der Traum vom erfüllten Leben? Sind Sie für Askese oder Exzesse?“ Einige Leute werden auf der Straße interviewt und einer sagt z.B., dass für ihn „ausgehen und weggehen“ das Wichtigste ist. Nach dieser „Hörverständnisübung“ (der Videoausschnitt wird mehrmals gezeigt) sollen die Studierenden nach jedem Durchgang mit einer PartnerIn besprechen, was sie jeweils verstehen konnten. Dadurch tragen sie immer mehr Elemente zusammen und halten - zunächst ohne die LektorIn - fest, was sie bereits verstanden haben. Nachdem der Videoausschnitt wiederholt gezeigt wurde, wird im Plenum geklärt, was die interviewten Personen nun tatsächlich berichtet haben[5]. Danach spielen die Studierenden die Szene nach, d.h. sie stellen sich gegenseitig dieselbe Interviewfrage und beantworten sie persönlich. Das Video dient hierbei als sprachliches Modell, das nachgeahmt, variiert oder negiert werden kann.

Auch folgende Aufgabe ist noch nicht mit Gesprächsanalyse verbunden, da nun jede/r einzelne notieren soll, welche Gäste sie oder er zu einer derartigen Talkshow einladen würde, z.B. einen tibetanischen Mönch, usw. Nachdem alle eine Liste von mindestens sechs Personen angefertigt haben, sollen sich wieder Gruppen von etwa vier Studierenden bilden, die gemeinsam eine Liste aushandeln. Währenddessen hat die Lehrperson eine koordinierende Rolle und ist vor allem Ansporn, deutsch zu sprechen. Jede Gruppe wählt eine/n SprecherIn und stellt ihre Liste vor.

Der Videoapparat wird wieder eingeschaltet und die eigentliche Talkshow beginnt: Der Moderator stellt die wirklichen Gäste vor. Die Studierenden haben die Aufgabe, zu überprüfen, inwiefern ihre Ideen stimmen (mehr Motivation genau zuzuhören). Sie überprüfen ihre Annahmen und das im Video Gezeigte in der Zweiergruppe - hören nochmals usw. - bis im Plenum festgehalten wird, was tatsächlich gesagt wurde. Alle sollen am Ende eine Liste der Gäste mit Vor-, Familiennamen und Berufen haben, da die Hausaufgabe lautet: „Suchen Sie diese Menschen mit www.google.de und drucken Sie einige Seiten aus. Welche Infos haben Sie gefunden? Stellen Sie diese das nächste mal kurz vor!“[6]

 

2.2 Einführende Diskussion: Kann das Kommunikationsverhalten überhaupt verändert werden?

Gesprächsanalyse befasst sich mit Kommunikation, deshalb ist es sinnvoll, den abgegriffenen Begriff vorab gemeinsam mit den Studierenden zu diskutieren, zumal diese im Laufe des Kurses ihr eigenes Kommunikationsverhalten reflektieren und möglichst verbessern sollen. Sehen wir dazu folgende, mögliche Definitionen von Kommunikation:

·        Kommunikation als natürliches Verhalten des Menschen

·        Kommunikation als äußerliche Fähigkeit bzw. Technik

·        Kommunikation als Teil und Ausdruck persönlicher Identität

(Brünner et al. 1999, Bd.2, 19)

 

Je nachdem wie wir Kommunikation definieren, ergeben sich verschiedene Ansätze. Geht man von einem natürlich gegebenen kommunikativen Verhalten aus, so bleibt wenig Spielraum für die Veränderung des Verhaltens in der Kommunikationssituation. Versteht man Kommunikation als Technik, so ergibt sich, dass Kommunikation erlernbar ist und geübt werden kann. Sieht man Kommunikationsverhalten jedoch als Ausdruck der Persönlichkeit, wird klar, dass Veränderungen im kommunikativen Verhalten jeweils an langwierige Prozesse gebunden sind.

Die Diskussion über die verschiedenen Anschauungen in bezug auf Kommunikation sollen dazu führen, dass die Studierenden sich über ihre Einstellung und deren Konsequenzen klarer werden. Eine erste Reflexion soll angeregt, Hemmungen abgebaut werden und die Lernenden können sich zum Thema und ihrer eigenen Einstellungen Gedanken machen. Wer sich innerlich gegen Veränderungen wehrt, weil er oder sie nicht an die Möglichkeit, dass erfolgreiches kommunikatives Handeln in einer anderen Kultur erlernbar ist, glaubt, wird auch nicht besonders von dem Kurs profitieren. Andererseits können die hohen Erwartungen, die einige Studierende haben, nicht erfüllt werden, da das Kommunikationsverhalten nicht ohne weiteres manipuliert und/oder korrigiert werden kann. Ziel ist vielmehr, das Bewusstsein in Bezug auf kommunikatives Verhalten zu erweitern und damit Alternativen zu ermöglichen.

 

2.3 Von der Theorie zur Praxis: Wie können Studierende mittels der Erkenntnisse der Gesprächsanalyse ihr Kommunikationsverhalten verbessern?

Folgende Gäste waren neben dem Moderator Wieland Backes bei der Talkshow „Nachtcafé: Zwischen Exzess und Askese. Der Traum vom erfüllten Leben“ anwesend: Angie Sebrich, Ex-MTV-Pressestelleleiterin und jetzt Jugendherbergsmutter - Richard Lugner, Bauunternehmer aus Wien - Caroline Link, Regisseurin - Helge Timmerberg, Autor und Journalist - Angela Marquardt, PDS-Abgeordnete - Reimer Gronemeyer, Soziologieprofessor.

Um das Verstehen zu erleichtern, hatten die Studierenden vor dem Hören der einzelnen Beiträge die Aufgabe, zu imaginieren, was die beteiligten Personen in bezug auf das Thema möglicherweise äußern könnten. Die Hypothesen wurden in Gruppen ausgetauscht und anschließend im Plenum vorgetragen und kamen der Situation in der Talkshow relativ nahe.[7]

Diese Übung soll auf die verschiedenen Thesen und Aussagen, die in der Talkdiskussion vorkommen werden, vorbereiten; Vokabeln und Phrasen werden ausgetauscht und fokussiert. Nach dem Ansehen des Videoabschnittes, in dem die einzelnen Gäste sprechen, konnten die Studierenden ihre Hypothesen wieder korrigieren, erweitern und eventuell mit Hilfe der im Internet gefundenen Homepages und Webseiten über die Personen ergänzen. Der Videoauszug wurde gemäß des Verstehensniveaus der Gruppe noch öfter gezeigt. Nach dieser generellen Einführung in das Thema der gewählten Talkshow sollen nun bestimmte Untersuchungen der Gesprächsanalyse (im folgenden GA) dazu dienen, das Kommunikationsverhalten der Studierenden zu reflektieren und zu verbessern. Dazu muss zunächst der theoretische Hintergrund dargelegt werden.

 

2.3.1 Sprecherwechsel

Die Studierenden erhalten folgendes Zitat zum Thema Sprecherwechsel.

„Denn ebenso, wie wir es (ohne eigentlich zu wissen, wie, und ohne sichtbare Anstrengung oder Konzentration) immer wieder schaffen, in großen Menschenmengen auf überfüllten Gehsteigen voranzukommen, ohne dauernd gegen entgegenkommende Passanten zu prallen oder uns in die Einkaufstaschen unserer Mit-Fussgänger zu verheddern, so gelingt es uns normalerweise ja auch in einem Gespräch, irgendwie 'voranzukommen', ohne dass es zu verbalen Rempeleien kommt.“

(Linke et al. 2001, 264)

GA untersucht z.B. wie jemand zu Wort kommt, das kann folgendermaßen der Fall sein:

·       durch Unterbrechung (latent aggressiv);

·       mit Pause oder Schweigen (meist unangenehm empfunden);

·       durch Überlappung (gleichzeitiges Sprechen);

·       mit oder ohne „gap“ (reibungsloser Sprecherwechsel).

 

Außerdem ist es wichtig, ob jemand in einem Gespräch durch Selbstwahl oder durch Fremdwahl zu Wort kommt, z.B. in einer Talkshow erteilt der Moderator oft das Wort (Fremdwahl). Die Studierenden erhalten nun eine Tabelle, die ich in Anlehnung an Trömel-Plötz (1982) erstellt habe:

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Tabelle Wortvergabe                                          Gast

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durch Moderator

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durch Eigenübernahme

an Übergangsstelle

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durch Unterbrechung

(erfolgreich)

______________________________________________________

durch Überlappung

______________________________________________________

durch Moderator nach

Bitte um Redeerlaubnis

______________________________________________________

nicht erfolgreicher

Unterbrechungsversuch

______________________________________________________

 

Beobachten

Diese Tabelle fasst zusammen, wie jemand (nicht) zu Wort kommt, die Studierenden erhalten nun folgende Aufgabe: „Sie werden gleich wieder einen Videoabschnitt sehen, suchen Sie sich einen Gast aus und beobachten Sie sie oder ihn. Konzentrieren Sie sich dabei auf die Punkte der Tabelle: Tragen Sie z.B. ein, wie oft der Gast durch Unterbrechen zu Wort kommt usw.

Anschließend vergleichen die Studierenden ihre Ergebnisse, also alle die dieselbe Person beobachtet haben, setzen sich zusammen und diskutieren, wie oft und wie diese Person (nicht) zu Wort kam. Der Videoabschnitt kann nochmals gezeigt werden, falls es notwendig ist.

Nach der Beobachtung des Modells und abschließender Besprechung der Ergebnisse, kommen wir nun zur produktiven Seite. Das Ziel des Kurses ist vorrangig das Kommunizieren in der Fremdsprache, deshalb soll die Talkshow „Nachtcafé“, als nächster Schritt nachgespielt werden.

Jede/r Studierende hat bereits einen Gast beobachtet, diese/n soll sie oder er nun nachspielen. Hierbei haben die Studierenden die Aufgabe, das Verhalten des Vorbilds in bezug auf den Sprecherwechsel nachzuahmen, z.B. unterbricht er oder sie die anderen, bzw. lässt sie oder er sich unterbrechen usw. Beim Rollenspiel (siehe Bliesener et al. 1993) dürfen sich die Studierenden aber auch auf die globale Simulation einlassen und spontan eine Rolle spielen und probieren.

 

Nachspielen

Die Lehrperson übernimmt die Rolle der Moderatorin und die Studierenden, die nicht mitspielen, beobachten jeweils eine/n KommilitonIn und notieren, wie sich die/derjenige während des Gesprächs verhält. Die „Gäste“ sollen natürlich aktiv am Gespräch teilnehmen und verhalten sich je nach ihrem Vorbild zurückhaltend oder voller Initiative: Sie kommen folglich durch Selbstwahl, Unterbrechung oder Überlappung zu Wort, bzw. versuchen zu Wort zu kommen. Einige Personen sind so gewählt, dass sie leicht in Konflikt geraten und die Moderatorin schürt die Diskussion durch provozierende Fragen.

 

Reflexion

Die BeobachterInnen beschreiben anschließend, ob der „Gast“ erfolgreich zu Wort kam und sprechen konnte, oder ob es nicht so gut geklappt hat, woran das eventuell lag (z.B. hat sich schnell übertönen lassen, sprach mit wenig Nachdruck). Sie erläutern, inwiefern sich die Person mit dem Fernsehvorbild deckte oder nicht deckte. Dann schildern die „Betroffenen“ ihre Erfahrungen in dem Gespräch. Sie sprechen darüber, wie sie sich selber empfunden haben, und sagen, ob sie mit den Beobachtungen übereinstimmen, welche Schwierigkeiten aus ihrer Sicht zu bewältigen waren.

 

2.3.2 Hörrolle und Höraktivitäten

Ich möchte ein weiteres Beispiel, das zeigt, wie Erkenntnisse der GA praktisch umgesetzt werden können, anführen. Diesmal sollen die Hörrolle und die damit verbunden Höraktivitäten genauer betrachtet werden. Die Hörrolle kann nicht als passive Haltung beschrieben werden, sie erfordert ihre eigenen Gesprächsaktivitäten, die meist als „back-channel-behavior“ oder Rückmeldeverhalten bezeichnet werden. Verbale und nonverbale Mittel über deren Einsatz sich die Studierenden durch die Beobachtung der TalkshowteilnehmerInnen klar werden sollen, sind die folgenden:

·       Blickkontakt

·       Mimik

·       Körperhaltung (zugewendet)

·       Gestik

·       Kopfnicken oder -schütteln

·       Lachen oder Lächeln

·       Rückmeldesignale wie „jaja, ja, mhm“ usw.

·       kommentierende Bemerkungen wie „wirklich, eben, tja, genau“

 

Gibt der Hörende diese Signale nicht, führt dies beim Sprechenden zu Verunsicherung oder sogar zum Zusammenbruch der Kommunikation. Um diese Informationen auszuprobieren, machen die Studierenden folgenden „Test“.

 

Üben / Spielen

Es werden zwei Gruppen gebildet: Alle Studierenden der einen Gruppe erhalten mittels Loszettel Anweisungen,  nach denen sie „schlechte Zuhörer“ sein sollen, d.h. sie sollen kein Feedback geben, nicht nicken oder lächeln usw. Die andere Gruppe hat dagegen die Aufgabe, besonders viel Feedback zu geben und aufmerksam zuzuhören. Danach werden per Zufallsprinzip Paare gebildet und die Aufgabe lautet: „Sprecht 5 Minuten über irgendein Thema, das euch gerade bewegt. Zuerst soll eine/r sprechen und die/der andere zuhören, dann nach 5 Minuten ist Wechsel und die andere spricht.“

 

Reflexion

Danach berichten alle von ihren Erfahrungen: „Ich hatte / hatte nicht das Gefühl, dass sie oder er mir zuhörte, weil….“ Vielen Studierenden wurde angesichts einer solchen Übung bewusst, wie wichtig, die Rolle der Hörenden tatsächlich ist und wie sehr sie die Kommunikation beeinflusst. Die Funktion der Rückmeldung durch „hm“, „ja, ja“ usw., durch die der oder die Zuhörende Aufmerksamkeit signalisiert, wird den Sprechenden besonders dann bewusst, wenn keine Rückmeldung erfolgt. Denn durch Rückmeldung wird Sprechenden die Wirkung ihrer Äußerung bestätigt, bei Ausbleiben werden sie auf eventuelle Schwierigkeiten im Verständigungsprozess aufmerksam. Wenn das Gegenüber keinerlei Feedback abgibt, bricht die Kommunikation ab, oder man fragt nach, ob der/die andere überhaupt noch zuhört. Die aktive Rolle beim Zuhören wird besonders deutlich und soll sich durch die konkrete Erfahrung im Rollenspiel, das die Studierenden umfassender miteinbezieht, einprägen.[8]

 

Beobachten

Anschließend sehen wir wieder einen Ausschnitt aus der Talkshow „Nachtcafé“ und die Studierenden analysieren das Feedback-Verhalten der einzelnen Gäste der Talkshow und ziehen Rückschlüsse auf die Einstellung der GesprächspartnerInnen. Am konkreten Beispiel sollen nun die theoretisch und durch die Erfahrung gelernten Begriffe angewendet werden. Jede Gruppe hat die Aufgabe, sich auf eine einzige Person zu konzentrieren und sich Notizen zu machen. Anschließend vergleicht die Gruppe ihre Ergebnisse untereinander und stellt ihre Beobachtungen zusammenfassend im Plenum vor. Danach soll das Verhalten des Vorbildes mit dem eigenen verglichen werden. Als abschließende Reflexion sollen sich die Studierenden über folgendes Gedanken machen: „Welche Höraktivitäten möchte ich zukünftig auch ausprobieren oder übernehmen? In welchen Situationen können sie angebracht sein?“

 

3 Evaluation und Schlussfolgerungen

Am Ende des Kurses, in dem noch andere Bereiche der GA wie Selbstdarstellung, Rollen der Gesprächspartner, Frauensprache usw., behandelt wurden, erhielten alle TeilnehmerInnen den folgenden Fragebogen:

 

Fragebogen an Studierende des Kurses „Gesprächsanalyse mit Talkshows“

Füllen Sie den Fragebogen bitte individuell und anonym aus!

1. In welchem Bereich haben Sie am meisten gelernt? (bitte ankreuzen)

·     Hören

·     Sprechen (an Gesprächen teilnehmen)

·     Zusammenhängend sprechen

·     lesen

·     schreiben

2. Welchen möchten Sie noch verbessern?

·     Hören

·     Sprechen (an Gesprächen teilnehmen)

·     Zusammenhängend sprechen

·     Lesen

·     Schreiben

3. Warum sind Sie in dem genannten Bereich noch nicht auf Ihrem gewünschten Niveau?

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4. Welche Probleme beim Sprechen konnten Sie im Laufe des Kurses überwinden?

·       ich schäme mich, weil ich nicht gut sprechen kann

·       ich finde die Wörter nicht

·       ich kann keine Sätze formulieren

·       ich habe Angst, den anderen zu lange warten zu lassen

·       ich möchte mich auch auf Deutsch so gut ausdrücken wie auf Italienisch

·       ich habe eine schlechte Aussprache, deswegen spreche ich nicht gern deutsch

·       ich habe Schwierigkeiten, die Wörter in die richtige Position zu bringen (Syntax)

·       mir fallen nur italienische Wörter ein

·       ich muss zu lang überlegen

·       ich finde die Situationen im Unterricht nicht ansprechend und nicht authentisch

·       ich finde, dass Sprechen nicht so wichtig ist, deshalb übe ich es nicht

·       sonstige Gründe:

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5. Welche Methoden haben Ihnen besonders geholfen?

·       Referat zu theoretischen Themen aus dem Bereich der Gesprächsanalyse

·       Beobachtung der Videos „Nachtcafé“ und „Das Literarische Quartett“

·       Rollenspiel (Nachspielen der Talkshowrunden)

·       Beobachten der anderen KursteilnehmerInnen beim Rollenspiel

·       Praktische Kommunikationsübungen

·       Diskussion im Plenum

·       Reflexion über eigenes Kommunikationsverhalten

·       Andere: __________________________________________________________________________

 

6. Welche Fähigkeiten möchten Sie im Bereich des Sprechens noch lernen? Welche Kommunikationsstrategien möchten sie noch erwerben?

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Aus der Umfrage, bei der ca. 80% der KursteilnehmerInnen mitgemacht haben, geht hervor, dass der Wunsch, sich in den produktiven Bereichen weiter zu verbessern, stark ist. Sprechen steht bei fast allen Studierenden an erster Stelle. Es ist auch die Fähigkeit, die im Fremdsprachenunterricht noch immer zu stark vernachlässigt wird.

Die KursteilnehmerInnen halten Rollenspiele und praktische Übungen zum Kommunikationsverhalten fast einstimmig für eine Methode, die sie dazu bringt, sich mündlich zu verbessern. Die Studierenden spielen diese Rollen gerne und es fällt auf, dass sie in derartigen „Talkshows“ aus der oft verbreiteten Passivität herauskommen, da sie im Eifer des Gefechts einfach sprechen wollen und sich nicht primär um Korrektheit kümmern. Sie sehen die Lehrperson nicht als ständige Kontrollinstanz an, da auch diese am Spiel beteiligt ist und es darum geht, sich im Gespräch zu behaupten.

In der Gesprächssimulation ist eine hohe emotionale Beteiligung gewährleistet, da die GesprächspartnerInnen nicht rational rekonstruieren, sondern das Gespräch als Beteiligte erleben. Sie erfahren direkt durch die Reaktion ihrer Gesprächspartner die erzeugten Konsequenzen ihres Handelns. Die Studierenden identifizieren sich mit ihrer Rolle, widersprechen sich gegenseitig, fallen sich ins Wort usw. Der Wille zu sprechen ist so stark, dass die Angst oder Hemmung, die normalerweise im Vordergrund steht, vergessen wird. Die Studierenden werden also aus der passiven Haltung geholt und kommen durch das Imitieren vorgespielter Modelle und die Inszenierung fiktiver Talkrunden zu einer authentischeren Kommunikation. Es ging nicht mehr darum, irgendeine Frage der Lehrkraft zu beantworten, sondern sich mit dem gesamten zur Verfügung stehendem Wissen über Kommunikation und Gesprächsstrategien, sowohl verbal als auch nonverbal auszudrücken.

 

Bibliographie

Bliesener, Thomas; Brons-Albert, Ruth (Hgg.) (1993) Rollenspiele in Kommunikations- und Verhaltenstrainings. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Brünner, Gisela; Fiehler, Reinhard; Kindt, Walther (Hgg.) (1999) Angewandte Diskursforschung, Band 1 und 2. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

Deppermann, Arnulf (2001) Gespräche analysieren. Opladen: Leske + Budrich.

Fischer, Sylvia (2002) Awareness- und Immersionsstrategien mit landeskundlichen Themen, in: Babylonia 2/2002, 32-36. www.babylonia-ti.ch.

Henne, Helmut; Rehbock, Helmut (1982) Einführung in die Gesprächsanalyse. Berlin: de Gruyter.

Hornung, Antonie (2002) Zur eigenen Sprache finden. Theorie einer plurilingualen Schreibdidaktik und Wege zu ihrer Vermittlung. Tübingen: Niemeyer.

Linke, Angelika; Nussbaumer, Markus; Portmann, Paul R. (2001) Studienbuch Linguistik. Tübingen: Niemeyer.

Ricci Garotti, Federica (Hg.) (1999) L'immersione linguistica. Una nuova prospettiva, Mailand: Franco Angeli.

Trömel-Plötz, Senta (1982) Frauensprache Sprache der Veränderung. Frankfurt: Fischer.

Wode, Henning (1995) Lernen in der Fremdsprache, Grundzüge von Immersion und bilingualem Unterricht. Ismaning: Hueber.

 

Videomaterial

„Nachtcafé: Zwischen Exzess und Askese. Der Traum vom erfüllten Leben“ mit Moderator Wieland Backes, 11.01.2002, SWR.

 

Biographische Angaben

Nach dem Magisterstudium Italianistik/Anglistik/DaF ist Sylvia Fischer seit 1996 als Deutschlektorin an der Universität Modena und Reggio Emilia, Studiengang „Europäische Sprachen und Kulturen“ tätig, nachdem sie zuvor als Deutschassistentin an einem Gymnasium beschäftigt war. Gegenwärtig hält sie Fortbildungsworkshops am Centro Linguistico di Ateneo, Modena, und am Goetheinstitut Mailand über das Thema „Immersive Strategien im DaF-Unterricht“, das sie auch auf dem LektorInnentreffen des DAAD 2002 auf Procida vorgestellt hat. Soeben hat sie darüber hinaus ein Promotionsstudium „Lingue e Culture comparate“ an der Università degli Studi di Modena begonnen.



[1] Webseite: http://culture.coe.int/lang Europarat, Strassburg, 2000.

[2] Der Kurs "Gesprächsanalyse mit Talkshows" wendet sich an Studierende des dritten Jahres, die neben dem Lektorat eine Vorlesung, die auf Fragen der germanistischen Linguistik ausgerichtet ist, besuchen. Die Studierenden sollen im Lektorat also "zum Sprechen gebracht" und mit linguistischen Themen vertraut gemacht werden (vgl. Hornung 2002).

[3] Vgl. Fischer (2002).

[4] Denn in Rollenspielen findet sich "all das, was Diskurs- und Konversationsanalyse als konstitutive Gestaltungsprinzipien von Gesprächen rekonstruiert haben (…)". (Brünner et al. 1999, Bd. 2, 91)

[5] Die Gesprächsbeiträge sind für Fremdsprachige nicht ohne weiteres zu verstehen, da die LernerInnen in der Regel mit Umgangssprache noch keine Erfahrungen haben.

[6] Hierzu finden die Studierenden meist alle möglichen Seiten im Internet, z.B. einen Artikel aus dem "Stern" über Angie Sebrich, Werbung für ein Buch von Helge Timmerberg, die Homepage von Angela Marquardt, usw. Sie sollen sich darüber Gedanken machen, warum es wichtig ist, die Quelle gut zu kennen; nicht alles, was sie im Netz finden, ist seriöses Material.

[7] Es war z.B. offensichtlich, dass der Soziologieprofessor und die PDS-Abgeordnete gegen die Konsumgesellschaft sein würden, während man bei Angie Sebrich einen Sinneswandel erwarten konnte.

[8] Die Beobachtung des nonverbalen Verhaltens kann besonders NichtmuttersprachlerInnen dabei helfen, den globalen Sinn von Äußerungen zu verstehen.