Zwischen „Schicksal“, freiem Willen und instinktivem Verhalten:
Hybriditätsaspekte und Ansatzpunkte zu deren Vermittlung in Tom Tykwers:
Lola Rennt

 

Guido Rings, Cambridge

 

Trotz seines außerordentlichen Publikumserfolges und höchsten Ehrungen durch zahlreiche Filmpreise ist Tom Tykwers Lola Rennt bisher allenfalls marginal von der akademischen Sekundärliteratur erfasst worden. Die Fülle leicht zugänglicher populärwissenschaftlicher Beiträge wächst demgegenüber sehr schnell an und trägt dazu bei, eine insgesamt äußerst begrenzte bis fehlerhafte Interpretationsgrundlage zu verbreiten, die Lola Rennt als Film über „Schicksal“, „Zufall“, „Glück“ und existentielle Probleme zeitgenössischer Jugendlicher fokussiert. Der folgende Beitrag bemüht sich um eine Erweiterung und Korrektur solcher Interpretationsvorlagen, indem er das beachtliche Spektrum der im Film thematisierten ihm aber auch immanenten zeitgenössischen Hybriditätsaspekte erarbeitet. Hierbei wird deutlich, dass die mechanische, von Zeitdruck und Stress geprägte Lebenswelt der Protagonisten keinesfalls für ein anthropologisch oder religiös fundiertes „Fatum“ sondern vielmehr für einen normativ und diskursiv angelegten und darum grundsätzlich abwendbaren Kausalitätsexzess symbolisch ist. Um so bedeutsamer wird das Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdbestimmung, das die Protagonisten exemplarisch vorführen. In diesem Kontext rekonstruiert Lola Rennt stereotypische Generationskonflikte, um diese mittels Parodisierung zu dekonstruieren.

 

1. Anmerkungen zu ersten Evaluationsversuchen der Filmkritik

Tom Tykwers Lola Rennt erscheint in vieler Hinsicht als erfolgreichster deutscher Film des Jahres 1998. Mit 2,5 Millionen Zuschauern allein in deutschen Kinos sowie einem beeindruckenden Spektrum von Filmpreisen, das vom Deutschen Filmpreis in Gold, einem Bambi für die Hauptdarstellerin Franka Potente und weiteren Preisen in Genf, Seattle und Hongkong reicht, [1] hat dieser Film den Regisseur Tom Tykwer national und international bekannt gemacht. Hinzu kommt mit sieben Millionen US $ Einspielergebnis in den USA ein außergewöhnlicher finanzieller Auswärtserfolg, mit dem Lola Rennt unmittelbar hinter dem Klassiker Das Boot (1982) zum zweiterfolgreichsten deutschen Film aller Zeiten in den USA avancierte (vgl. Töteberg, 1999: 48). All dies ebnete auch Franka Potente Weg nach Hollywood, wo diese unlängst als Partnerin von Johnny Depp im Film Blow (2001) zu sehen war.

Während Publikumserfolg und beeindruckende Einspielergebnisse kaum zu leugnen sind, ist die Frage nach dem künstlerischen Anspruch sowie nach dem Stellenwert von Lola Rennt innerhalb der deutschen Filmlandschaft erheblich schwerer zu beantworten. Das Spektrum der Filmkritik reicht von einer völligen Ablehnung bis hin zu einer enthusiastischen Feier der Produktion. Für erstere Perspektive sei auf Atkinsons Besprechung (1999: 1) verwiesen, in der dieser seine eigene rhetorische Frage “Where is the reality in all this?” mit einem eindeutigen Urteil selber beantwortet: „Nowhere – it’s a movie, dummy, and a fast, crazy, exhausting one at that” […] “an empty exercise in filmmaking”. Für letztere Perspektive resümieren Gleibermann und Schwarzbaum (2001: 3) den Film exemplarisch als „spinning top of a movie“ und „kickoff of Germany’s new new wave“. Bei genauerer Betrachtung erscheint Lola Rennt zunächst eher als radikale Ausnahme in dem „cockily mainstream, brazenly commercial cinema“ der 90er Jahre (Elsaesser, 1999: 3), welches in vieler Hinsicht bereits in der zweiten Hälfte der 80er Jahre vorgeprägt wird und sich bis zur Erstellung dieses Beitrages ungebrochener Popularität erfreut. [2]   Schon mit Blick auf den von der Narrativik her auffälligen Experimentalfilmcharakter hat Tykwers bis dato erfolgreichste Produktion wenig mit der von Doris Dörrie (Männer, 1985) und Sönke Wortmann (Kleine Haie, 1991; Der bewegte Mann, 1994) mitgeprägten Verbindung von „Comedy and Commerce“ (Elsaesser, ebda.) gemeinsam. Auch lässt sich die extrem „hybride“ aus tragikomischem Action-, Kriminal-, Liebes-, Problem- und Experimentalfilm zusammengestellte Genremischung (vgl. Biermann/Schurf, 1999b: 381) kaum in die Gattung Komödie einordnen. [3] Nach Elsaesser (1999: 11) gehört Tykwer eher zu einer neuen Generation von Filmregisseuren „some of whom may well be set to become ‘auteurs’ with a distinctive style and signature“.

Lola Rennt passt auch kaum in die „Art versus Commerce“ Richtung (Elsaesser, ebda.), die vom Neuen Deutschen Film der 70er und frühen 80er Jahre, also etwa vom Autorenkino eines Fassbinder, Herzog, Wenders oder Schlöndorff, exemplifiziert wird. Die von Tykwer nahezu simplistisch gehaltene Handlung, eine an Hollywoodproduktionen angelehnte melodramatische Gestaltung und der geringe intellektuelle Tiefengrad der Gespräche zwischen den Protagonisten lassen eine solche Einordnung kaum zu. Fragwürdig ist auch, ob sich der beachtliche breite Publikumserfolg bei einer direkten Anlehnung an das Neue Deutsche Kino in der Gegenwart hätte realisieren lassen. Die Frage ist spekulativ, für die Gestaltung von Filmen wie Lola Rennt allerdings nicht uninteressant. Sicher schließen sich die von Elsaesser als tendenziell antikommerziell-künstlerisch kategorisierten Autorenfilme des Neuen Deutschen Kinos und ein breiter Publikumserfolg nicht aus. Schlöndorffs Blechtrommel und Fassbinders Angst essen Seele auf bzw. Die Ehe der Maria Braun sind Beispiele für die Möglichkeit einer schnellen internationalen Breitenwirkung solcher Filme.[4]  Kein Film des Neuen Deutschen Kinos vermochte jedoch innerhalb eines Jahres in deutschen Kinos allein 2,5 Millionen Zuschauer anzuziehen, den meisten Filmen dieser Epoche blieb ein breiter Publikumserfolg versagt und der besonders experimentelle Teil der späten 60er Jahre war in Hinsicht auf Breitenwirkung und Einspielergebnisse ein vollständiger Misserfolg.[5] Um einen gewissen Publikumserfolg und damit die insgesamt überwiegend gewünschte Breitenwirkung und finanzielle Absicherung von Filmproduktionen zu erreichen, gleichzeitig aber künstlerische Ambitionen umzusetzen, scheint dauerhaft eine innere Differenzierung im Drehbuch von Filmen angebracht. Lola Rennt beinhaltet eine solche Differenzierung, denn  einerseits ist der Film für ein breites Publikum leicht zugänglich und motivierend, insbesondere durch die Beschränkung auf eine vordergründig einfache Handlung und einfache Gespräche, die Betonung melodramatischer Effekte, die Situierung der Handlung im Erfahrungshorizont durchschnittlicher junger Erwachsener und die außerordentliche Dynamik. Andererseits bietet gerade die über eine Parodierung der einfachen Handlung erzielte Komik viele Anlässe zu einer Diskussion der dichten Symbolik und philosophischen Leitgedanken des Films. In diesem Sinne kann Lola Rennt als möglicher neuer Weg für den Versuch einer Verbindung von ‚Art and Commerce’ gesehen werden. Immerhin belegt Tykwers Produktion, dass ein experimenteller künstlerischer Film auch im Kontext der derzeitigen von Hollywoodproduktionen und deutschen Komödien geprägten Filmlandschaft Breitenwirkung erzielen kann.

 

2. Zur Narrativik eines zeitgenössischen Märchens

Der Versuch, die Attraktivität von Lola Rennt über die Handlung erklären zu wollen, ist zumindestens oberflächlich zum Scheitern verurteilt. Der Filmregisseur selber resümiert in einem Interview (1999: 1): “The story of Run Lola Run is pretty simple: you have twenty minutes to come up with 100,000 marks and run through the city to rescue your true love.” Nicht zufällig setzt gerade hier auch die negative Filmkritik an. Knörer etwa formuliert (1999: 1): „Die Geschichte selbst ist öde, voller Versatzstücke, die keinen Spaß machen. Die Zukunftsflashes angerempelter Passanten sind monströs einfallslos: Lottogewinn, Drogentod, Liebesgeschichten (ok, sie sind so banal wie das Leben selbst).“ Letztere Randbemerkung führt allerdings unmittelbar zum Kern der Thematik, die Schifferle (2000: 25) resümiert als „Lebenspiel der Großstadt“, in dem sich „Zufall, Schicksal und eigener Wille vermischen“. Aus dieser Perspektive heraus erscheint Lola als Allegorie zeitgenössischer Hybridität, denn sie verweist unmittelbar auf bizarre Mischformen aus Selbst- und Fremdbestimmung in einer hektischen und stressvollen Gesellschaft. Andererseits werden die archaischen Themen „Liebe und Geld, Zeit und Tod“ so dicht und partiell auch komisch präsentiert, dass der Film kaum als direktes Abbild einer solchen Gesellschaft betrachtet werden kann. Ungleich prägnanter ist in dieser Hinsicht die Bezeichnung als „Großstadt-Märchen“, das eben „weil es sich um vordergründigen Realismus nicht schert, zu den tieferen Wahrheiten des Kinos findet“ (Willmann, 1999: 1). Dieses Spannungspotential zwischen Realitätsbezug und –distanz zeigt sich bereits in der narrativen Struktur.

Tykwers „Großstadtmärchen“ ist grob in zwei Teile zu unterteilen, einem kurzen in sachlogischer chronologischer Reihenfolge mit einigen Flashbacks relativ traditionell bzw. dokumentarisch-„realitätsnah“ ausgeführten Exposé und einem Hauptteil, der mit drei möglichen Versionen von Lolas Lauf durch die Straßen von Berlin experimentiert. In letzterem Teil fungieren die Einblendungen von Comicsfilmclips, schnelle Flashforwards und die blutrot eingefärbten Zwischendialoge als Distraktoren, die „automatische“ Rezeptionsgewohnheiten extrem erschweren [6] und eine kritische Distanz zum Filmgeschehen als hybride konstruiertem Produkt erleichtern. Im Exposé wird die einmal vom originell-fragmentarischen Vorspann [7] erweckte Aufmerksamkeit des Zuschauers durch die von rasanten Kamerabewegungen betonte Geschwindigkeit und Dynamik der Handlung [8] und durch den unmittelbaren Wechsel von Farb- auf Schwarz-Weiß-Film bei den zahlreichen Flashbacks erhalten. Dabei wird Lolas Freund Manni (Moritz Bleibtreu) als kleiner Schieber eingeführt, der seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf gestohlener Autos verdient. Der letzte Handel endet allerdings mit einem fatalen Ergebnis, denn Manni lässt die Tragetüte mit dem ihm übergebenen Bargeld in Höhe von 100.000 DM in der U-Bahn liegen, als er vor Kontrolleuren flüchtet. Manni weiß, dass sein Boss Ronnie in 20 Minuten kommen wird, um das Geld in Empfang zu nehmen und geht davon aus, dass Ronnie ihn bei Verlust des Geldes töten wird. In seiner Verzweiflung ruft Manni seine Freundin Lola (Franka Potente) an und diese rennt sofort los, um ihm das Geld in der verbleibenden Zeit aufzutreiben.

Ihr Lauf durch die Großstadt („Lola Rennt“) ist dann kein einmaliges chronologisches Geschehen sondern wiederholt sich drei mal in einer jeweils nur leicht modifizierten aber doch existenziell bedeutsamen Form: In der ersten Version kommt Lola ohne jegliches Geld etwas zu spät bei Manni an, denn der ist schon in den nächsten Supermarkt gegangen um sich die 100.000 DM durch einen Überfall zu besorgen. Lola und Manni führen den einmal eingeleiteten Überfall gemeinsam zu Ende, sie werden von der Polizei gestellt und Lola wird durch einen unglücklichen Zufall von einem nervösen Beamten erschossen. In der zweiten Version trifft Lola noch etwas später ein, aber Manni hat beschlossen auf Lola zu warten und sie hat dieses Mal das Geld durch einen Überfall auf die Bank ihres Vaters tatsächlich zusammenbekommen. Alles deutet auf ein Happy End, bis ein Krankenwagen den auf Lola fixierten Manni beim Überqueren einer Straße überfährt. Die dritte Version bietet dann das von vielen Zuschauern lange ersehnte Happy End und kann bei automatischer Rezeption leicht als letztlich „wahre“ Geschichte fehlinterpretiert werden. Dieses Mal vermag Manni sein Geld von einem Stadtstreicher, der es in der U-Bahn an sich genommen hatte, zurückzuholen, und parallel gelingt es Lola über ein Roulettespiel in einer Spielhalle die gleiche Summe zu erwerben. Manni gibt also 100.000 DM an einen nun sehr mit ihm zufriedenen Ronnie, und Lola und Manni verlassen gemeinsam den Ort des dramatischen Geschehens mit weiteren 100.000 DM.

Der etwas kritischere Rezipient wird gerade durch die ungewöhnliche Reihung von drei gleichberechtigt nebeneinander stehenden möglichen Geschichten unmittelbar auf die hybride Tiefenstruktur des Films aufmerksam gemacht, die nicht zuletzt eine Folge der von  Biermann & Schurff (1999b: 387ff.) im Detail herausgearbeiteten intertextuellen Bezüge ist. Schon in Akira Kurosawas Rashomon (1950) stehen drei Versionen einer Geschichte so gleichberechtigt nebeneinander, dass der Rezipient sich unmöglich auf eine einzige, sachlogischen Kausalitätsansprüchen gerecht werdende Version festzulegen vermag. Aus Alfred Hitchcocks Vertigo (1958) entlehnt Tykwer das für ein kreisförmig verlaufendes gleichzeitig aber auch sich entwickelndes Leben stehende Leitmotiv der Spirale, das bei Hitchcock und Tykwer bereits im Vorspann eingeführt wird und sich über eine „Spiralfrisur“ (Frau mit entsprechendem Haar vor Gemälde im Museum bzw. Gemälde mit Spiralfrisur im Casino) niederschlägt sowie dann bei Tykwer auch über einen Zeichentricktunnel, eine spiralförmige Treppe und kreisende Kamerafahrten bis hin zum Muster im Bettzeug fortgeführt wird.[9]  Aus Harold Ramis Und täglich grüßt das Murmeltier (1993) könnte das aus der Weiterentwicklung des Protagonisten resultierende Happy End inspiriert worden sein, auch wenn bei Lola nicht die Intensivierung ihrer Liebesbeziehung zu Manni sondern vielmehr das Erlernen praktischer Verhaltensstrategien im Vordergrund steht.[10]  Wie geringe Verhaltensunterschiede der Protagonisten das Leben der meisten Beteiligten grundlegend zu verändern vermögen, wird demgegenüber bereits in Alain Resnais Sie raucht/Sie raucht nicht (1993) treffend illustriert.

Bei Tykwer werden die konstant bleibende Vergangenheit, die fragile Gegenwart und die davon unmittelbar betroffene Zukunft durch das visuelle Design klar voneinander getrennt. So wird die Vergangenheit immer wieder über Schwarz-Weiß gehaltene Flasbacks eingeblendet, während die Gegenwart, mit der Tykwer experimentiert, in Farbe bleibt. Die unterschiedliche Entwicklung der Protagonisten wird in den einzelnen Geschichten in chronologischer Reihenfolge erzählt, während die Zukunft der Passanten über schnelle Serien von neun bis zwölf Einzelbildern in sogenannten Flashforwards dicht resümiert vorweggenommen wird. Der außerordentliche Gegenwartsbezug ist in der Philosophie des Filmregisseurs fest verankert. So formuliert Tykwer unmittelbar nach Fertigstellung von Lola Rennt (1998: 10):

 

„Ich wünsche mir, dass man den Augenblick zu schätzen lernt, dass jeder Moment eigentlich gleich wichtig sein kann, und dass man nicht vorher wissen kann, welcher Moment der Entscheidende ist, dass man einen größeren Respekt vor der Situation hat“.

 

Damit verbunden ist eine Kritik an der Elterngeneration:

 

„Ich finde es blöd, wenn Menschen auf die Zukunft hin leben, und sich nicht auf das Nächstliegende konzentrieren. Gerade in der uns vorhergehenden Generation waren wir umzingelt von Menschen, die darüber reden, dass es ihre Kinder mal besser haben sollen. [...] Diese Haltung hat etwas Selbstzerstörerisches, in der liegt nichts Kreatives und nichts Konstruktives“ (ebda.).

 

Dieser Generationenkonflikt wird im Film auf der thematischen Ebene ausgeführt, denn nicht zufällig handelt es sich bei den insgesamt sehr positiv skizzierten Protagonisten Lola und Manni um junge Erwachsene während die Vertreter der vorhergehenden Generation überwiegend negativ charakterisiert werden.

Durch einen differenzierten Kameraeinsatz, der die Gegenwartsebene in einen inneren protagonistennahen und einen äußeren sozialen Kontext unterteilt, wird das dichotome Gesellschaftsbild weiter fixiert. Auffällig ist der Einsatz einer 35mm Filmkamera zur Darstellung von Lolas und Mannis unmittelbarem Handlungskontext während die soziale Umgebung mit einer Videokamera aufgenommen wird. Die scheinbar natürlichen Bilder der Filmkamera unterstützen einen Eindruck von Authentizität, den Lolas und Mannis Liebesbeziehung erweckt. Die deutlich unschärferen und immer wieder wackelnden Bilder der Videokamera hingegen betonen eine gewisse Künstlichkeit und Fragilität, die von der Hypokrisie der äußeren Umgebung inhaltlich aufgeladen wird. Zu diesem artifiziellen und zerbrechlichen Leben gehört die heimliche Liebesbeziehung zwischen Lolas Vater, dem Leiter einer Bankfiliale, und Jutta Hansen, einem Mitglied aus dem Vorstand der Bank. Der hypokritische Charakter dieser Beziehung wird intensiviert durch Jutta Hansens Verhältnis zu einem anderen Mann, von dem sie ein Kind erwartet. Schon die erste Version von Lolas Lauf enthüllt dieses Spiel von Intrigen und parallel das ähnlich heuchlerische Verhalten von Lolas Mutter, die ebenfalls einen verheirateten Geliebten hat. Lola selber ist ein „Kuckucksei“, d.h. sie stammt nicht von dem zunächst als Vater ausgewiesenen und hier der Einfachheit halber weiter als Vater bezeichneten Bankier ab. Die Tatsache, dass sie all dies erst in einer existenziellen Situation als junge Erwachsene erfährt, deutet auf die Perfektion der Verschleierungstechniken. Gleichzeitig betont die langjährige Kontinuität den Stellenwert von Hypokrisie als grundlegende Verhaltenskonstante der abgebildeten Gesellschaft.

Die Gegensätze zwischen „authentischeren“ überwiegend von Gefühlen gelenkten und „artifizielleren“ primär auf die Wahrung pseudorationaler kleinbürgerlicher Normen ausgerichteten Gesellschaftsgruppen sind ernst zu nehmen. Keinesfalls jedoch dürfen Interpretationsansätze auf dieser Ebene stehen bleiben, denn dafür ist die Authentizitätskonstruktion im Film selber viel zu künstlich, vage, instabil und irreführend. Knörer (1999: 1) hat nicht Unrecht, wenn er Lolas und Mannis „in blutrot getauchte Zwischendialoge“ als „durchaus beziehungskomödienkompatibel“ resümiert.[11] Ganz offensichtlich knüpft ihr philosophischer Austausch zum Thema „wahre Liebe“ als Kernelement gemeinsamen Lebens an den im Vorspann des Films situierten Erzählermonolog zum „Menschsein“ an. Dort heißt es:

 

„Der Mensch ... die wohl geheimnisvollste Spezies unseres Planeten. Ein Mysterium offener Fragen ... Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Woher wissen wir, was wir zu wissen glauben? Wieso glauben wir überhaupt etwas? Unzählige Fragen, die nach einer Antwort suchen, einer Antwort, die wieder die nächste Frage aufwerfen wird, und die nächste Antwort wieder die nächste Frage, und so weiter, und so weiter ... Doch ist es am Ende nicht immer wieder die gleiche Frage und die gleiche Antwort?“

 

All dies lädt zur Reflexion über Sinn und Ziel menschlichen Lebens und damit scheinbar auch zu einer persönlichen Identitätssuche ein. Ähnlich verhält es sich mit den Kernfragen der zwei von Lola und Manni geführten Zwischendialoge, die beide um den Charakter und Wert ihrer Liebesbeziehung und damit um die vermeintlich gefundene aber nun in den Dialogen hinterfragte gemeinsame Identität kreisen: „Woher willst du wissen, dass du mich liebst?“ (Lola) bzw. „Wenn ich jetzt sterben würde, was würdest du machen?“ (Manni). Der einleitende Monolog wird jedoch schon dadurch relativiert, dass er ausgerechnet von Hans Paetsch, einem in den 70er Jahren durch seine Europa-Schallplatten bekannten Märchenerzähler, gesprochen wird. Die Zwischendialoge der Protagonisten werden durch eine grellrote Einfärbung und durch die simplistische Ebene, auf der ihr philosophischer Austausch stehen bleibt, komisch verzerrt. Hinzu kommt, dass gerade die existenziellen Szenen eher grotesk und insgesamt unglaubwürdig wirken. Nicht zufällig lachen viele jüngere Zuschauer, wenn die bereits völlig von der Polizei eingekreiste und unbewaffnete Lola unbeabsichtigt von einem Polizisten erschossen wird. Ähnlich absurd erscheint Mannis Tod, der beim unaufmerksamen Überqueren einer Straße ausgerechnet von einem Krankenwagen überfahren wird, und dies nachdem Lola das Geld durch einen Bankraub erbeutet hat, ohne von der bereits angerückten Anti-Terror-Einheit verhaftet zu werden. Grotesk wirkt auch die Rouletteszene, in der Lola durch Gebete und Glas zerbrechende Schreie die Kugel zwei Mal hintereinander auf die Zahl 20 zu lenken und damit das zweifache Happy End (Manni ist in dieser Geschichte auch erfolgreich) zu begründen vermag. Während der automatische Rezipient solche Aspekte als Teil filmischer Komik zu akzeptieren und das Kino mit dem beruhigenden Gefühl eines vollständigen Happy Ends zu verlassen in der Lage ist, wird die Aufmerksamkeit des kritischeren Rezipienten von den filmtechnischen und thematischen Distraktoren unmittelbar auf die Gründe für den radikal verschiedenen Ausgang der drei Geschichten gelenkt. Als maßgebliche Elemente sind der hybride Charakter von zeit- und kausalitätsbedingtem „Schicksal“, freiem Willen und instinktivem Verhalten näher zu betrachten.

 

3. Chancen im Leben

3.1. Zeit und „Schicksal“

Nicht zufällig wird ein inhumaner Zeitdruck zum zentralen Symbol des menschlichen Mit- und Gegeneinanders. Das gesamte Leben in Lolas und Mannis zeitgenössischer Gesellschaft wird von Uhren bestimmt, und Sekunden können hier über Leben und Tod entscheiden. [12] Der schnelle Wechsel von Kameraperspektiven, schnelle Kamerazufahrten bzw. Zoomverwendung und die weitestgehende Übereinstimmung von Erzählzeit und erzählter Zeit [13] erleichtern dem Rezipienten eine Identifikation mit dem Zeitdruck als Konstante allen Geschehens. Auffällig ist, dass die Protagonisten die Zeitvorgaben selber kaum beeinflussen und dementsprechend den Zeitdruck in keiner Situation wesentlich reduzieren können. Im Telefongespräch gleich zu Beginn des Films versucht Manni zwar Lola die Schuld für das unglückliche Ende des Autohandels und damit für die 20minütige „Zeitfalle“ zu geben: „Wenn du nur pünktlich gekommen wärst, dann wär das alles nicht passiert!“ Dieser Schuldzuweisungsversuch ist jedoch in Anbetracht der besonderen Umstände für Lolas Verspätung [14] kaum aufrecht zu erhalten. Vielmehr kann er als archetypische Sündenbockprojektion betrachtet werden, mit der Manni von seinem eigenen Versagen (Liegenlassen des Geldes in der U-Bahn) abzulenken versucht.

Die Zeitmetaphorik verweist in vieler Hinsicht auf den Kausalitätsexzess des im vorigen Kapitel skizzierten, von Lolas Vater und Herrn Meyer exemplifizierten pseudorationalen Diskurses, denn zu der über das private Glück gestellten Arbeitswelt dieser Personen gehören auch eine rigurose Zeiteinteilung und ein exzessiver Zeitdruck. Lolas Vater hat einen Termin mit Herrn Meyer, der absolute Priorität hat, auch wenn er sich als Vorgesetzter Meyers noch am Ehesten ohne Gefahr unmittelbarer Sanktionen gewisse Freiräume herausnehmen könnte. Diese Möglichkeit ist jedoch nur hypothetisch, denn in der Arbeitswelt von Lolas Vater werden Zeitvorgaben nicht reflektiert oder diskutiert sondern nach behavioristischem Muster erfüllt. Auf den zeitlich vorgegebenen Stimulus (die Sekretärin gibt durch, dass Herr Meyer eingetroffen ist) erfolgt als Reaktion ein sofortiger Abbruch des Gespräches mit seiner Geliebten. Dabei geht es in dem Gespräch um existenzielle Fragen wie die Kontinuität ihrer Beziehung, ein mögliches gemeinsames Kind und die formelle Auflösung der Ehe von Lolas Vater. Der Zeitdruck der Arbeitswelt hat jedoch absolute Präferenz, und dies nicht nur innerhalb eines für die Arbeit reservierten Zeitabschnittes, denn die absolute Präferenz von Arbeitsnormen wird als „schicksalhaft“ für das gesamte Leben gesehen.  

Sehr deutlich kommt dies in einer Textstelle im Film zu Herrn Meyers „Lebensphilosophie“ zum Ausdruck: „Ich habe mir überlegt, dass Kinder nichts für mich sind. Wenn man so viel arbeitet wie ich, dann hätten die ja doch nichts von mir“. Ähnlich stellt Lolas Vater, wie die Familie moniert, seine Arbeitswelt auch außerhalb der Bank über alles. Darauf verweisen schon die von ihm wiedergegebenen kontinuierlichen Klagen seiner Frau gleich in der ersten Version von Lolas Lauf: „Du hast ja nur noch deine Zahlen im Kopf“ bzw. „Du bist ja immer nur der Boss“.  Eine Folge der vollständigen Internalisierung beruflich fundierter Regeln der Logik ist die Unfähigkeit zu spontan emotionalen Reaktionen bzw. auch zu grundlegenden Loyalitätserklärungen. So antwortet der Vater auf Lolas Bitte um prinzipielle Hilfsbereitschaft („Wenn ich dich so bräuchte wie noch nie in meinem Leben, hilfst du mir dann?“) mit einer Fragesequenz („Was ist denn los?“ – „Wer stirbt?“ – „Wer ist Manni?“ – „Warum stirbt er?“) und beendet diese mit einem Verweis auf die kognitive Problematik: „Ich verstehe nicht.“ „Verstehen“ und „Fühlen“, Kognition und Emotion, stehen in diametraler Opposition, wenn Lola, die auf Mannis Hilferuf unmittelbar reagiert und für ihren Freund zu allem bereit ist (Banküberfall, Überfall auf den Supermarkt, etc.), auf ihren Vater trifft und diesen um Hilfe bittet.

Der Gegensatz zeigt sich aber auch schon unmittelbar vorher, als Lolas Vater von Jutta Hansen um eine Entscheidung gebeten wird. Sie möchte von ihm ein offenes „zu ihr Stehen“, stellt die zentrale Frage („Liebst du mich?“) und leitet aus seinem Eingeständnis die Forderung ab: „Dann entscheide dich!“ Für den um eine rationale Ergründung jeder Situation bemühten Vater ist dies allerdings nicht so einfach. Schon das Verlangen nach einer Liebeserklärung möchte er erklärt wissen („Warum fragst du das jetzt?“) und erst auf Nachdruck ist er zu einer direkten Antwort bereit („Zum Teufel, ja!“), wobei Tonfall und Fluch das erzwungene Geständnis wieder relativieren. Noch ungleich weniger lässt er sich ohne weitere Reflexion auf ein Versprechen zu einer grundlegenden privaten Verhaltensänderung ein und „vertagt“ die Entscheidung, für die er im Moment keinen Handlungsbedarf sieht („Das muss doch nicht jetzt sein“). Die Unterlegenheit der pseudorationalen Position von Lolas Vater wird bereits in diesem Streitgespräch über die Kameraeinstellung festgehalten: Er sitzt zunächst auf dem Boden während sie steht, und er sitzt nicht zufällig vor seinem Aktenschrank, einem zentralen Symbol seiner Arbeitswelt, in einer Ecke, während sie vor einem leicht geöffneten Fenster, Metaphorik für die Möglichkeit eines Auswegs aus der eng begrenzten hypokritischen Beziehung, plaziert ist. Die Ausweglosigkeit der Position von Lolas Vater ist Ergebnis einer kritiklosen Akzeptanz der von Arbeitsnormen vorgegebenen Kausalität von Zeit und Raum und eines noch weniger reflektierten Transfers des dortigen Kausalitätsexzesses auf den privaten Bereich, wodurch eine wenig emotionale pseudorationale Verhaltensdisposition zur grundlegenden (Über-) Lebensstrategie avanciert ist. In den wiederholten Streitgesprächen zwischen Vater und Tochter setzt die Kameraführung diese „mise en scene“ pseudorationaler Unterlegenheit fort. [15]

Die anderen Bankangestellten werden nur marginal in Szene gesetzt, alles deutet jedoch darauf hin, dass auch sie wenig über Sinn, Bedeutung und Grenzen ihrer Arbeit sowie des alltäglichen Arbeitsstresses nachdenken. Eher das Gegenteil ist der Fall, denn ihrem Arbeitsalltag ist eine außerordentliche Mechanik immanent, die von dem Verhalten des Kassierers bei Lolas Bankraub prägnant exemplifziert wird. Weniger Angst als vielmehr tiefes Erstaunen über den Einbruch des völlig Ungewohnten spiegelt sich in seiner Mimik und Gestik wieder. Weitestgehend unfähig zur Kommunikation mit Lola verlässt er sich auf die Anordnungen seines hilflosen apathischen Vorgesetzten (Lolas Vater) und zeigt sich grundsätzlich sehr bemüht, seine alltägliche Rolle als Kassierer so optimal wie möglich auszuführen. Die Erfüllung seiner Arbeitsnormen, zu denen ein absolut verlässliches Geldzählen und Geldaushändigen gehören, bietet ihm einen sicheren Rückzugsort und verhindert die Möglichkeit besonders panischer oder apathischer Reaktionen. [16] Auf den ersten Blick zeigt der Sicherheitsbeamte ungleich mehr Flexibilität. Hierbei darf allerdings nicht vergessen werden, dass der Versuch einer Beruhigung von Unruhestiftern und Einbrechern zu seiner Arbeit gehört und dass er in besonderem Maße an einer optimalen Umsetzung seiner Arbeitsnormen interessiert sein müsste, schließlich ist Lola der Banküberall nur dank der ihm entwendeten Pistole möglich. In diesem Sinne handelt auch der Sicherheitsbeamte eher mechanisch, als er Lola ins Büro des Vaters und dann zum Kassierer folgt. Die an Lola gerichteten Sätze („Du willst doch keinem weh tun“, etc.) entstammen einem ähnlich begrenzten und als grundlegende „Lebensweisheiten“ erlernten Wissensrepertoire wie die zuvor zur „Normalisierung“ von Lola verwendeten Slogans „Jeder hat mal einen schlechten Tag“, „So ein bisschen Wut ist gut für [...] den Kreislauf“ und „Ist vielleicht nicht dein Tag heute. Macht ja nichts, man kann ja nicht immer alles haben“.

Die mechanische, von Zeitdruck und Stress geprägte Arbeitswelt der Angestellten der Deutschen Transfer Bank wird so zum Symbol für ein zeitgenössisches kollektives „Schicksal“, das allerdings nicht anthropologisch oder religös fundiert, sondern lediglich normativ und diskursiv angelegt und darum grundsätzlich abwendbar ist. Tykwer (1998: 16) geht es um die Verdeutlichung eines „sich gnadenlos abspulenden Kausalitätsexzesses“ in einer zeitgenössischen industrialisierten Gesellschaft. Mit „Fatum“ im ursprünglichen Sinne hat dies wenig zu tun und mit einer Dominanz von „Zufall und Glück“ noch weniger.[17] Dem gleich zu Beginn des Films eingeblendeten Bild fallender Dominosteine immanent ist jedoch eine fundamentale Skepsis gegenüber möglichen optimistischen Vorstellungen einer kollektiven Emanzipation vom pseudorationalen Diskurs. Lola verweist noch ungleich mehr als Manni (vgl. 3.2. und 3.3.) auf das in kognitiven und emotionalen Fähigkeiten liegende außergewöhnliche Emanzipationspotential, mit dessen Hilfe das Liebespaar in der letzten Handlungsvariante die persönliche Tragödie abzuwenden vermag. Bei beiden handelt es sich jedoch um Außenseiter, die in der dargestellten Gesellschaft weitestgehend isoliert bleiben.

So werden abgesehen von der nur sehr marginal eingeblendeten Unterweltarbeit Mannis keine alternativen Arbeitswelten in Szene gesetzt, und die kriminellen Aktivitäten Mannis unterliegen grundsätzlich sehr ähnlichen Normen. Absolute Verlässlichkeit und das genaueste Einhalten von Terminen sind hier eher noch von größerer Bedeutung, denn die pünktliche Erfüllung bzw. Nicht-Erfüllung genauestens vorgegebener Normen kann unmittelbar über Leben und Tod entscheiden bzw. ins Gefängnis führen. So stehen Lola und Manni wegen einer falschen instinktiven Reaktion Mannis in der U-Bahn (Fluchtverhalten mit Liegenlassen der Geldtasche) bzw. indirekter auch wegen Lolas unverschuldeter Unpünktlichkeit unter dem bei weitem inhumansten Zeitdruck, denn Mannis Leben ist in größter Gefahr, wenn die verlorenen 100.000 DM nicht in den nächsten 20 Minuten wiederbeschafft werden können.[18] In diesem Sinne sind auch Gelderwerb, –besitz und die persönliche Verlässlichkeit beim Umgang mit Geld in der Unterwelt von ungleich existenziellerer Bedeutung als in der „normalen“ Arbeitswelt, deren kapitalzentrierte Ausrichtung schon durch die Selektion einer Bank als exemplarischen Ort zeitgenössischer Arbeit deutlich wird. Während in letzterer grobes aber unverschuldetes Fehlverhalten maximal mit einer Kündigung sanktioniert wird, droht in ersterer für ein vergleichbares Vergehen die Todesstrafe. In enger Korrelation hierzu steht die extreme Intensivierung der totalitären Dimension in der kriminellen Arbeitswelt. Gerade weil es sich bei Mannis „Versagen“ um eine Frage von Leben und Tod handeln kann, gibt es kaum räumliche oder personale Rückzugsorte. „Abhauen“ ist für Manni keine Alternative, denn sein über schwarze Lederkleidung, schwarzen BMW, Glatze und aggressives Verhalten als Gangsterstereotyp karikaturesk in Szene gesetzter Boss Ronnie könnte ihn überallhin verfolgen und hätte auch keine Skrupel Lola zu töten. All dies deutet auf die Exemplarität und Verweisfunktion der Unterweltnormen als grotesk intensivierte Spiegelung alltäglicher von der Berufswelt diktierter Sozialnormen.

Gleichzeitig wird die Omnipräsenz solcher Normen betont, denn die meisten Filmfiguren sind in der Tat unfähig aus dem vorgegebenen kapital- und zeitzentrierten Normengerüst auszubrechen. Die Angestellten der Deutschen Transferbank haben den pseudorationalen Diskurs ihrer Arbeitswelt sogar soweit verinnerlicht, dass ein überwiegender Teil ihres Lebens nach Stimulus-Reaktions-Prinzipien geradezu „mechanisch“ abläuft, und damit der Uhrensymbolik entspricht. Das „Schicksalhafte“ eines solchen Lebens wird durch den immer wieder am Ende der Autofahrt von Herrn Meyer stehenden Unfall betont. Ob Lola ihn für ein paar Sekunden aufhält, ob er alleine fährt oder mit Lolas Vater zusammen, ist sekundär. Früher oder später fährt er selbstverschuldet in das Auto der drei aggressiv auftretenden Männer, was zu nicht näher ausgeführten Konsequenzen führt. In der letzten der drei Geschichten endet der Unfall möglicherweise sogar tödlich, und zwar für Herrn Meyer, Lolas Vater und einen unbekannten Mofafahrer, aber dies bleibt offen. Wichtiger ist die über diese Szenen betonte Unausweichlichkeit eines unglücklichen Endes des von Herrn Meyer exemplifizierten kausalexzessiven pseudorationalen Lebens, in dem ein im weitesten Sinne „berufliches“ Pflichtverständnis über privates Glück gestellt wird. Demgegenüber kann Lolas und Mannis Geschichte durchaus sehr verschieden enden, und auch andere Außenseiter verweisen auf ein ihrem Lebensstil jeweils eigenes Emanzipationspotential. Hierzu gehört die Manni helfende blinde Frau, die dessen existenzielle Probleme intuitiv sehr gut versteht und auf der Grundlage ihrer ausgeprägten Intuition in der letzten Geschichte sogar eine effektive Problemlösung anbieten kann. Nicht zufällig macht sie - und kein durch seine Sehfähigkeit vom Essentiellen abgelenkter Unbeteiligter - Manni auf den vorbeifahrenden Stadtstreicher aufmerksam, der dessen Geld immer noch bei sich hat. Auch die alte Frau, von der Lola beim Verlassen der Bank wiederholt die genaue Uhrzeit erfährt, und der Stadtstreicher stehen mit ihrem Leben weitgehend außerhalb des zeit- und geldzentrierten Normengerüstes der Kerngesellschaft. Als grundverschiedene isolierte bzw. sich auch selbst isolierende und ihres Sonderstatus kaum bewusste Randgruppen der Gesellschaft bleibt ihr Emanzipationspotential freilich gering. Ungleich größer ist das Potential der Protagonistin und partiell auch das des Protagonisten, die zeigen, dass eine Emanzipation von dem diskursiv Vorgegebenen sowohl auf kognitiver als auch auf emotionaler Ebene möglich ist.

 

3.2. Zeit sich zu entscheiden

Kepser (2000: 618) misst der Zeitsymbolik zu viel wörtliche Bedeutung bei, wenn sie resümiert, dass “die Ursache für die verschiedenen Handlungsabläufe ein Zeitverzug ist“, der im Treppenhaus gleich zu Beginn von Lolas Lauf entsteht. Ähnlich irregeführt wird bereits der Kepser als Grundlage dienende Töteberg (1998: 142), als er formuliert „eine Verzögerung um 10 Sekunden und alles ändert sich”. Im Kontext des Kausalitätsexzesses der inszenierten Gesellschaft kann ein solch geringer Zeitverzug, wie er im Treppenhaus entsteht, zweifelsohne zu existenziellen Veränderungen führen, muss aber nicht. Im Fall von Lolas und Mannis verschiedenen möglichen Geschichten ist ein monokausaler Interpretationsansatz ohnehin nicht überzeugend, weil sich das kognitive und emotionale Verhalten der beiden immer wieder den skizzierten kollektiven Kausalitätsprinzipien entzieht. So kommt Lola zwar in der zweiten Geschichte, eben weil sie die besagte Treppe in ihrem Haus heruntergefallen ist, noch später bei Manni an. Er hat dieses Mal jedoch anders als in der ersten Geschichte entschieden, auf sie zu warten und so kommt es weder zum Bankraub noch zu einer Verfolgungsjagd durch die Polizei, und Lola bleibt am Leben. Auf welcher Grundlage diese Entscheidung gefällt wird, muss offen bleiben, denn es gibt keine zwingenden äußeren Faktoren. In jedem Fall handelt es sich um eine Entscheidung, die mit dem äußeren Kausalitätsprinzip der ersten Geschichte bricht.

Gleich zu Beginn des Films steht außerdem immer wieder Lolas grundsätzliche Entscheidung den wenig erfolgreich erscheinenden Kampf gegen die Zeit überhaupt erst aufzunehmen. Auch dies ist keinesfalls selbstverständlich bzw. kausallogisch vorgegeben, denn ihr Vater lehnt es in allen Fällen ab, seiner Tochter finanziell zu helfen,[19] obwohl ihm dies finanziell sicher möglich wäre.[20] In diesem Sinn trifft auch er Entscheidungen, allerdings überwiegend negativerer Natur, d.h. er entscheidet sich nicht zu helfen und er beschließt immer wieder, vorläufig keine Entscheidung über eine grundlegende Veränderung seines privaten Lebens zu treffen. Nur auf Lolas extremen Druck hin reagiert er in einer Szene impulsiv mit der Bitte, Lola solle ihrer Mutter mitteilen, dass er nicht mehr nach Hause komme. Hier sprengt er den engen Rahmen seines ansonsten den Regeln der Sachlogik folgenden Verhaltens, allerdings ohne dass die von den Arbeitsnormen vorgegebene Kausalität von Zeit und Raum grundsätzlich hinterfragt würde. Selbst wenn eine zukünftige Beziehung mit Jutta Hansen seine derzeitige ablöst, so ist weder mit Blick auf die Präferenz von Arbeitsnormen noch in Hinsicht auf hypokritisches Verhalten ein grundlegende Veränderung zu erwarten.

Über unmittelbar für den Handlungsverlauf relevante Entscheidungen hinaus zeigen sich bei Lola und Manni auch immer wieder Versuche, den tieferen Sinn ihrer Handlungen zu ergründen und entsprechend Verhaltensänderungen einzuleiten oder sinnvolles Verhalten bewusst fortzuführen. So wird ihre Liebesbeziehung, letztlich die Grundlage für Lolas Lauf durch Berlin, in den rot eingefärbten Zwischendialogen wiederholt auf „Echtheit“ überprüft. Zweifelsohne ist der intellektuelle Reflektionsgrad hierbei nicht sonderlich tief, das ambitiöse Evaluationsziel wird letztlich nicht erreicht und die Fragwürdigkeit des Vorbildcharakters der Protagonisten erhöht sich durch solche Szenen beträchtlich. Andererseits ist der Ansatz einer grundlegenden Hinterfragung ihrer Beziehung durchaus konstruktiv und als solcher im vorgestellten sozialen Kontext keineswegs selbstverständlich. Wie ausgeführt, ist weder in der regulären Arbeitswelt noch in der Unterwelt eine Hinterfragung der internalisierten Sozialnormen üblich. Liebes- und Loyalitätsbekundungen sind hier überwiegend temporäre Lippenbekenntnisse, und philosophische Betrachtungen über den Wert tradierter Verhaltensmuster werden als „realitätsfern“ abgelehnt. Prägnant resümiert der Wachmann Schuster stellvertretend für die ältere Generation schon im Vorspann: „Der Ball ist rund. Das Spiel dauert 90 Minuten. Soviel ist schon mal klar. Alles andere ist Theorie.“ Ähnlich oberflächlich kontert Lolas Vater die Kritik seiner Frau an seiner exzessiven Berufsethik mit den Worten „Na und wenn schon“ und lenkt unmittelbar darauf mit einem verbalen Gegenangriff „Endlich ist mal jemand da, der sich für mich interessiert“ von der eigentlichen Problematik ab.

Dem weitgehenden Verzicht auf Sinnfragen gegenüber Normerfüllungsmechanismen entspricht ein Verzicht auf offene Auslebung der den Sozialnormen nicht entsprechenden individuellen Wünsche und Begierden, was wiederum zu der bereits ausgeführten Dominanz hypokritischen Verhaltens führt. Schon im Sinne einer Vermeidung solcher Alternativen, ist die von Lola und Manni in Szene gesetzte Identitätssuche trotz all ihrer Defizite zunächst wegweisend und keinesfalls nur ein Produkt pubertärer Orientierungssuche, wie Henning (1998: 3) es verstanden wissen möchte, wenn er formuliert: „Gewöhnlich legt sich das Interesse an diesen Fragen mit steigendem Alter, [...] mit der Findung ihrer eigenen Identität und Persönlichkeit“. Dass eine Majorität der im Film abgebildeten Erwachsenen „ihre eigene Identität und Persönlichkeit“ gefunden hat, ist genauso zu negieren wie die implizite These, dass die Findung persönlicher Identität primär eine Frage des Alters ist. Keinesfalls dürfen eine kritiklose Akzeptanz normativ und diskursiv vorgegebener Rollenmuster als persönliche Identitätsfindung missverstanden werden, und wenn Hennings These in Bezug auf eine altersabhängige Frequenz identitätsorientierter Fragen korrekt ist, so liegt hier vielleicht gerade ein Missstand vor, zu dessen Abbau Lola Rennt durch eine Fokussierung junger Erwachsener beitragen könnte. Nicht zufällig führt die bei Lola besonders ausgeprägte innere Resistenz gegenüber kapital- und zeitzentrierten Normen zumindestens in einer der drei möglichen Handlungsabläufe zu einem außerhalb der Vorstellungs- und Handlungswelt von Herrn Meyer, Lolas Vater und möglicherweise auch dem Rezipienten liegenden Happy End. Die in dieser Version in Szene gesetzte Mythifizierung des Glücks, das nur dem Tüchtigen vergönnt ist, sollte nicht unmittelbar übernommen werden. Durchaus nachvollziehbar ist aber, dass Lolas Widerstand gegen diskursiv Vorgegebenes zusammen mit ihrer Hinterfragung des offensichtlich leicht als „natürlich“ fehlverstandenen eigenen Lebens (vgl. Lolas Vater) Grundlagen zu einer individuellen Emanzipation von vorgegebenen Normen und Diskursen bietet.

 

3.3. Zeitloser Instinkt

Assoziative Strukturen bilden einen von der Sekundärliteratur zu Lola Rennt insgesamt kaum beachteten Komplex von beobachtbarem Verhalten, der sich auf allen möglichen Lebenswegen widerspiegelt und menschliche Katastrophen sowohl herbeizuführen und zu intensivieren als auch zu bremsen bzw. abzuwenden vermag. Besonders hoch ist der Anteil behaviouristischen und damit mechanisch erscheinenden Verhaltens bei der Erfüllung von Arbeitsnormen in der Bank von Lolas Vater sowie in Mannis Unterwelt, denn hier gibt Zeit den kausalen Lebensrhythmus vor („weil es x Uhr ist/sobald y anruft, erfolgt Handlung z“).  All dies darf freilich ebensowenig mit „Instinkt“ verwechselt werden, wie Mannis Fluchtverhalten bei Sichtung von Kontrolleuren in der U-Bahn, auch wenn dieser sein Verhalten als „alter Instinkt“ verstanden wissen möchte. In solchen Fällen handelt es sich recht eindeutig um erlerntes Verhalten, wobei ohne kognitive Zwischenschritte auf einen Stimulus (Sekretärin meldet Eintreffen von Herrn Meyer, Kontrolleur betritt U-Bahn) unmittelbar reagiert wird (Lolas Vater zieht sich die Jacke an und verlässt den Raum, Manni verlässt das U-Bahn Abteil so schnell wie möglich, allerdings ohne durch Laufen die Aufmerksamkeit der Kontrolleure auf sich zu ziehen). Bei Lola verweisen die an Oskar Matzerath aus Schlöndorffs Die Blechtrommel erinnernden Schreie auf ein assoziatives Verhalten, das im Gegensatz zu dem der meisten Figuren des Films auf Widerstand begründet ist. Anders als Manni, für den ein Widerstand gegen Ronnie völlig undenkbar ist, schreit sie gegen die Ignoranz ihres Vaters und gegen den drohenden Geldverlust im Roulettespiel an.

In diesen Szenen sowie in ihrem Leitmotiv „Liebe kann alles“ reaktiviert sie zwangsläufig den Mythos der bedingungslosen Liebe, die Zeit, Schicksal und Tod bezwingen kann. Nur in diesem Rahmen kann die Zeit zurückgedreht werden und ihr eigener Tod oder auch der Mannis ungeschehen gemacht werden. Es ist der Rahmen eines Märchens, wobei die drei möglichen Handlungsabläufe signifikant auf die für diese Gattung charakteristische Zahl Drei (drei mögliche Wünsche, etc.) verweisen. Andererseits ist der Film aber nicht nur ein Märchen, sondern vielmehr eine hybride Konstruktion aus Märchen, Kriminalfilm, Problemfilm, Actionfilm, Horrorfilm und vielem mehr.

Ähnlich hybride wie der gesamte Film sind auch seine Protagonisten Lola und Manni, und dies äußert sich gerade in ihrem assoziativen Verhalten, wenn bei Manni Fluchtverhalten und bei Lola Widerstand in Szene gesetzt wird. Insgesamt spiegelt Manni in all seiner überwiegend reagierenden und partiell hilflosen und unsicheren Passivität eher die Charakteristiken eines femininen Stereotyps, während Lola in ihrer agierenden, von Entschlossenheit, Mut und Eigenständigkeit geprägten Rolle zentrale Elemente eines männlichen Stereotyps erfüllt. In dieser Hinsicht knüpft Tykwers Lola an die lange Tradition der dem Mann in vieler Hinsicht überlegenen „femme fatale“ in der Literatur- und Filmgeschichte an, die bereits von Josef von Sternberg in Der blaue Engel (1930) und Rainer Werner Fassbinder in Lola (1979) filmisch umgesetzt worden ist. Die Farbe rot symbolisiert im Fall der leicht punkigen tykwerschen Lola (vgl. ihr rotes Haar) freilich weniger Erotik oder Luxus als Kraft und Macht, die sich schon in ihrem kraftvollen langen Lauf allegorisch widerspiegelt. [21] Lola rennt, um in der allegorischen Symbolik des Titels zu bleiben, allerdings läuft sie nicht wie ihr Freund Manni vor Kontrolleuren davon, sondern sie rennt gegen das „Schicksal“ an, das keines ist. Anders als ihre traditionellen Vorläufer greift sie nicht auf erotische Verführungskünste zurück, um Männer zur Ausführung ihrer Wünsche zu nötigen,  sondern sie führt das aus, wozu die Männer unfähig erscheinen (Lolas Vater in seiner starren Normengebundenheit, Manni in seiner hilflosen Orientierungslosigkeit),  und zwar mit stereotypisch männlichen Mitteln. So hält sie in der ersten Version im Supermarkt Belegschaft und Kunden in Schach und führt in der zweiten Version selbständig mit einer dem Wachmann entwendeten Waffe einen Banküberfall durch.

Auch der Lauf durch Berlin und der Rückgriff auf das Glücksspiel als Problemlösungsversuch sind Aspekte, die eher auf maskuline Stereotypen verweisen. Konstruiert werden all diese Stereotypen freilich nur zum Zweck von deren Dekonstruktion, denn sowohl deren Scheitern als auch die Unglaubwürdigkeit beim Erfolg solcher männlichen Problemlösungsansätze sowie deren sichere Anwendung durch eine junge unerfahrene Frau führen unmittelbar zurück zur Konstruktion des Films als Parodie.

Bestätigt wird dies durch eine Auflösung des stereotypen Gegensatzes von männlicher Kognition und instinktgesteuerter weiblicher Emotion in der Figurenkonstellation Lola - Manni. Lola reagiert nämlich nicht nur ungleich männlicher als Manni, sie agiert auch kognitiv deutlich überlegener. Hierzu gehört die grundsätzlich gut überlegte Selektion ihres Vaters als der wahrscheinlich einzig ausreichend finanzkräftigen und zugleich sehr eng mit ihr verbundenen potentiellen Problemlösungsfigur aus ihrem gesamten Verwandten- und Bekanntenkreis, zu der sie dann auch persönlich hinläuft. Demgegenüber sind Mannis Versuche, über Telefonate mit Freunden und seiner Großmutter an die benötigten 100.000,- DM zu gelangen, von Vornherein zum Scheitern verurteilt. Sowohl das unüberlegte Verhalten in der U-Bahn, in der er vor Schreck das Geld liegenlässt, als auch der Überfall auf den Supermarkt, den er nur dank Lolas Einsatz gegen den Sicherheitsbeamten zu Ende führen kann, zeigen ihn als plan- und orientierungslosen schwachen Antihelden. Wenn Kameraführung und Zeitvorgaben (Show down um 12.00 Uhr mittags!) dabei immer wieder den bekannten Western High Noon von Fred Zinnemann (1952) zitieren und in diesem Kontext die männlichen Protagonisten der beiden Filme, Manni und Kane (Gary Cooper), parallel setzen (vgl. etwa die Rückenansicht von Manni als dieser mit der Pistole in der Hand auf den Supermarkt zugeht), [22] so geschieht dies mit eindeutig parodisierender Intention. Ridikülisiert wird hierbei allerdings nicht nur Manni, der mit dem entschlossenen und überlegen uneigennützigen männlichen Kane wenig gemein hat, sondern zugleich auch der ältere Westerntypus der 50er und 60er Jahre, dessen Protagonisten in der Überzeugung ihrer  Pflicht gegenüber „amerikanischen Grundwerten“ wie „Gerechtigkeit“ und „Freiheit“ überwiegend ohne Eigeninteresse zu leben und zu sterben verstanden.

Bei der Konfrontation von Lola mit ihrem Vater sind Kognition und Emotion grundsätzlich wieder in Übereinstimmung mit traditionellen Geschlechterstereotypen verteilt, hier erweist sich allerdings die emotional fundierte Lola als ungleich handlungskräftiger, während die rationale Position des Vaters eher als pseudorationale hilfs- und orientierungslose Starre in Szene gesetzt wird. So werden letztlich auch hier die geschlechtsspezifisch stereotypen Pole von femininer Passivität und maskuliner Aktivität im Umkehrspiel aufgelöst.

 

4. Ansatzpunkte zur Vermittlung im DaF-Unterricht

Um sich dem Film als hybridem und damit für viele zeitgenössische Filme exemplarischem Konstrukt anzunähern, könnte zunächst der Genremix erarbeitet werden. Schüler und Studenten kennen die meisten Filmgenres aus ihrem eigenen Erfahrungshorizont und können mit Hilfe des Dozenten relativ leicht eine ausführliche Liste von Gattungen zusammenstellen. Auf dem Tafel- bzw. Folienbild sollten thematisch differenzierende Begriffe wie Liebes-, Kriminal- und Horrorfilm, Actionfilm, Western und Thriller erscheinen, aber auch gängige formale Kategorisierungen wie Spielfilm, Dokumentarfilm, Experimental- und Zeichentrickfilm (vgl. Kleymann, 2001). Bereits nach Ansicht des Exposés können Zuordnungen versucht und der Film unschwer als hybrides Produkt bzw. genauer als ein aus Action-, Kriminal-, Liebes-, Problem- und Experimentalfilm zusammengestelltes tragikomisches modernes Märchen (vgl. Biermann/Schurf, 1999b: 381) mit Entlehnungen von Horrorfilmen und Western definiert werden. [23]

Der geschlechtlich hybride Charakter der Hauptdarsteller kann durch eine Sammlung von Adjektiven zu männlich-stereotypen und weiblich-stereotypen Figuren sowie deren nachträgliche Überprüfung am Exposé in Kombination mit der ersten Geschichte erarbeitet werden. Hierzu würde sich folgendes einfaches Schema anbieten, wobei Manni und Lola über ihre Anfangsbuchstaben leicht zugeordnet werden können. Doppelte Zuordnungen sollten erlaubt sein:

 

Männliches Stereotyp

Weibliches Stereotyp

aktiv                L

passiv               M

stark                L

schwach            M

kognitiv           .....

emotional          .....

agierend

Reagierend

überlegen

Unterlegen

.......

.......

 

Die erste Version der drei möglichen Handlungsabläufe erlaubt auch eine zunächst ausreichende Gegenüberstellung von Lola und Lolas Vater, wobei die dortige Identifikation mit einer stereotypen Rollenverteilung bei gleichzeitiger „mise en scene“ pseudorationaler männlicher Unterlegenheit über eine entsprechend lenkende Fragestellung leicht zu ergründen ist. Mögliche Leitfragen und Aufgaben sind:

1.   Wer verhält sich emotionaler, Lola oder ihr Vater?  

2.   Entspricht Lola damit zunächst dem weiblichen oder dem männlichen Stereotyp?

Nun arbeitet bitte mit eurem Nachbarn zusammen, um die folgenden drei Aufgaben zu lösen:

3.   Welche anderen Adjektive würdet ihr Lola in der Auseinandersetzung mit ihrem Vater geben?

4.   Welche Adjektive passen besser zu Lolas Vater?  

5.   Bitte begründet oder relativiert eure Thesen sowohl in thematischer (Aussagen im Streitgespräch, Mimik, Gestik, ...) als auch in filmtechnischer Hinsicht (Kameraperspektiven, Position der Streitenden, ....).

Aus Exposé und erster Geschichte können auch einige zentrale Symbole des Films entnommen werden. Im Plenum relativ leicht zu erschließen sind insbesondere die Uhr in ihrer Verweisfunktion auf Stress und Hektik zeitgenössischen Lebens sowie die Farbe rot in ihrer Symbolik für Kraft, Macht und Dynamik. Im Zweifelsfall könnte der Dozent als Advocatus Diavoli rot als Farbe der Erotik und Leidenschaft in Erinnerung rufen, um die Studenten zu gegenteiligen Thesen zu bewegen. Bei filmhistorisch vorgebildeten Teilnehmern könnte auch unmittelbar auf die Tradition der Lola und die dortige Besetzung der Farbe rot im Gegensatz zur tykwerschen Lola Bezug genommen werden. Aufmerksame Studenten nennen möglicherweise auch den Gegensatz der Ampelfarben Rot und Grün (vgl. schon Lolas Haare und Lolas Hose), schwarz als stereotype Farbe der Unterwelt (vgl. Ronnie Kleidung und seinen schwarzen BMW), die Spirale in ihrer Verweisfunktion auf einen zyklischen Lebensrhythmus (Zeichentricktunnel, Treppe, etc.) und die Zahl drei in ihrer Exemplarität für Märchen (drei Versionen, drei Wünsche, drei Schreie Lolas; vgl. Kleymann 2001). Geld ist unschwer erkennbar das zentrale Leitmotiv für Lolas und Mannis Geschichte, letztlich aber auch für Mannis Unterwelt und die Arbeitswelt von Lolas Vater.

Die zentralen filmtechnischen Besonderheiten sollten wegen ihrer keinesfalls immer unmittelbar eindeutigen thematischen Relevanz erst nach einer vollständigen Sichtung des Films behandelt werden. Den meisten Teilnehmern wird die Mischung aus Schwarz-Weiß und Farbfilm, Zeichentrick und schnellen Fotoserien auffallen, aber auch Zeitlupe und Zeitraffer sind unschwer zu erkennen. Um den thematischen Bezug herzustellen, bietet sich ein Überprüfen dieses Medieneinsatzes auf den verschiedenen Zeitebenen (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) an. Hierbei sollte Tykwers Vorstellung von der existenziellen Bedeutung der Gegenwart bzw. dem Wert des Augenblicks, dessen Chancen es zu nutzen gilt, klar ersichtlich werden. Immerhin verändert sich die Schwarz-Weiß gehaltene Vergangenheit nicht und die grundlegend verschiedenen Zukunftsentwürfe hängen von geringsten Verhaltensunterschieden in der farbig gehaltenen Gegenwart ab, mit der Tykwer ausgiebig experimentiert.

Im Anschluss folgt sachlogisch eine Behandlung des sowohl im Film als auch in Interviews von Tykwer wiederholt angesprochenen Mentalitätenkonfliktes zwischen einer  zur Planung der als sicher empfundenen Zukunft tendierenden Nachkriegsgeneration und einer gegenwärtiges Eigeninteresse vor die Konstruktion einer unsicheren Zukunft stellenden zeitgenössischen jüngeren Generation. Nur sehr geübte Filmrezipienten erkennen in diesem Kontext unmittelbar den kohärenten Einsatz einer 35mm Filmkamera für Lolas und Mannis unmittelbarem Handlungsspielraum gegenüber der Verwendung von Videokameras für die Dialoge von Lolas Vater und Jutta Hansen, die Autounfälle Herrn Meyers und den Erfahrungshorizont des Stadtstreichers. Über Fragen nach der Qualität der Filmbilder bzw. nach unscharfen Bildern lässt sich dieser Gegensatz jedoch leicht erarbeiten. Letzteres ist eine gute Grundlage zur Behandlung der Dichotomie eines oberflächlich authentischeren Lebens der Protagonisten gegenüber einem artifizielleren Leben „der Anderen“. All dies könnte über die Integration von aus Massenmedien leicht zugänglichen populärwissenschaftlichen Texten relativ einfach in den größeren Kontext neuerer deutscher Sozialgeschichte gestellt werden. [24] Von Vorteil wäre dies als unmittelbare Vorentlastung des Films aber auch als grundlegende thematische Vorbereitung für den Transfer ihrer dort gewonnenen Erkenntnisse auf den soziokulturellen Kontext der Filmproduktion.

Um die Internalisierung pseudorationaler Normen in der Arbeitswelt von Lolas Vater näher erarbeiten zu können, ist eine wiederholte Sichtung des gesamten Films mindestens aber der entsprechenden Filmteile unumgänglich. In diesem Sinne bietet sich ein Vergleich der „regulären“ Arbeitswelt mit Mannis Unterwelt in Hinblick auf die Leitmotive Zeit und Geld insbesondere als Arbeitsauftrag für eine Hausaufgabe oder aber als umfangreichere Gruppenarbeit an. Für einen ausführlichen schriftlichen Vergleich bei entsprechender mehrfacher Sichtung der relevanten Szenen sollten mindestens zwei Stunden einkalkuliert werden. Für eine effektive Gruppenarbeit sollten verschiedene Räume mit jeweils einem eigenen Video- und Sichtgerät pro Arbeitsgruppe zur Verfügung gestellt werden. Ergänzendes Material zur Durchführung dieser Aufgabe aber auch zur Vorbereitung des Transfers der Filmbotschaften auf den zeitgenössischen deutschen bzw. westlich-industrialisierten Kontext finden sich bei Töteberg (1998).

 


Literatur

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Berliner Morgenpost (1998): „Die Kurve in der Geraden: Regisseur Tom Tykwer über seinen neuesten Film“, in: http://morgenpost.berlin1.de/archiv1998/980820/feuilleton/story218288. html, pp. 1-2.

Bhabha, Hommi (1994): The location of culture. New York: Routledge.

Biermann, Heinrich/Bernd Schurf (1999a): Texte, Themen und Strukturen. Deutschbuch für die Oberstufe. Textbuch. Berlin: Cornelsen.

Biermann, Heinrich/Bernd Schurf (1999b): Texte, Themen und Strukturen. Deutschbuch für die Oberstufe. Lehrerband. Berlin: Cornelsen.

Castells, Manuel (1997): The Power of Identity. Oxford: Blackwell.

Elsaesser, Thomas (1999): „Introduction: German Cinema in the 1990s“, in: Thomas Elsaesser/Michael Wedel (ed.): The BFI Companion to German Cinema. London: British Film Institute, pp. 3-16.

García Canclini,  Néstor (1995): Culturas Híbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad. Buenos Aires: Sudamericana.

Gleiberman, Owen/Lisa Schwarzbaum (2001): „Northern Highlights“, in: http://www.ew.com/ ew/archive/1,1798,1|24014|0|northern_highlights,00.html?name1=nort (Entertainment Weekly Online, 18.9.2001), pp. 1-3.

Grünewald, Dietrich (1980): Comics. Ein Handbuch. München: Beltz.

Henning, Dietmar (1998): “Tom Tykwers neuer Film ‘Lola rennt’, in: http://wsws.org/de/ 1998/sep1998/lola-s18.shtml (18.9.1998), pp. 1-3.

Kepser, Jutta (2000): „Lola rennt. Möglichkeiten zum Einsatz im DaF-Unterricht”, in: Info DaF 27, 6 (2000), p. 617-629.

Kleymann, Susanne (2001): „Lola Rennt“, Vortrag an der Anglia Polytechnic University, Fachbereich Auslandsgermanistik, 7.12.2001.

Knörer, Ekkehard (1999): „Lola rennt. Eine Kritik“, in: http://www.jump-cut.de/filmkritik/ lolarennt.html, pp. 1-2.

Rings, Guido (1994): „Comics als Gegendiskurs?“, in: Iberoamericana 3/4 (55/56), S. 37-67.

Rings, Guido (2000): „Selbst- und Fremdbetrachtungen bei Fassbinder. Eine exemplarische Analyse von ‚Angst essen Seele auf’“, in: Martin Brady & Helen Hughes (ed.): Deutschland im Spiegel seiner Filme. London: CILT, S. 52-80.

Schifferle, Hans (2000): “Lola Rennt”, in: epd Film 8/2000, pp. 17-18.

Schröder, Jörg (1998): “Lola rennt. Filmkritik“, in: http://www.online.prevezanos.com/skf/filme/ filmdat/0230.shtml, p. 1.

Sony Classics (1999): „Director’s Statement: Tom Tykwer“, in: http://www.spe. sony.com/ classics/runlolarun, p. 1-2.

Suchsland, Rüdiger (1998): „’Ich will Authentizität und Leidenschaft’. Ein  Gespräch mit Film-Regisseur Tom Tykwer“, in: http://www.jungewelt.de/ frameit.php?/1998/08-24/014.htm (24.8.1998), pp. 1-5.

Töteberg, Michael (1999): “Run Lola Run. Die Karriere eines Films”, in: Michael Töteberg (ed.): Szenenwechsel. Momentaufnahmen des jungen deutschen Films. Hamburg: Rowohlt.

Töteberg, Michael (Hg./1998): Tom Tykwer. Lola Rennt. Reinbek: Rowohlt.

Tykwer, Tom (1998): Lola Rennt. München: VPS Film.

Willmann, Thomas (1999): „Filmkritik zu ‚Lola rennt’“, in: http://www.empireonline. co.uk/reviews/review.asp?5091, p. 1.

 

Biographische Angabe

Dr. Guido Rings ist Leiter des Fachbereiches Auslandsgermanistik und Reader für Interkulturelle Studien and der Anglia Polytechnic University Cambridge. Ein Schwerpunkt seiner neueren Publikationen liegt in den Bereichen Wirtschaftsdeutsch und CALL. Hinzu kommen grammatische Untersuchungen („BBC German Grammar“ mit R. Tenberg, 1996) sowie zahlreiche diskurskritische Veröffentlichungen in neuerer deutscher Geschichte und in spanischer Philologie (“Erzählen gegen den Strich”, 1996). 

 



[1] Vgl. Töteberg (1999: 45ff., hier S. 49).

[2] Elsaessers Kategorisierungsversuch (1999: 3) bezieht sich nur auf die 90er Jahre. Er erkennt aber sehr wohl, dass Doris Dörries Männer (1985) zum „template for several post-68, post-feminist, neo-macho comedies of the late 1980s and early 1990s“ avancierte. In diesem Sinne sind Ecki Ziedrichs Singles (1988), Dominik Grafs Spieler (1990) und Katja von Garniers Abgeschminkt (1991) durchaus vergleichbar. Andererseits gibt es wenig Anzeichen dafür, dass die Popularität narrativ einfach gehaltener deutscher Komödien mit dem Jahr 2000 erloschen wäre. All dies deutet darauf hin, dass Elsaessers Ansatz im Sinne einer groben Kategorisierung durchaus eine fortlaufende Gültigkeit für das deutsche Kino seit der Mitte der 80er Jahre beanspruchen kann.

[3] ‚Hybridität’ wird hier in Anlehnung an Homi Bhabhas Ausführungen in The Location of Culture (1994: 4ff.) als willkommene Alternative zu tradierten Polaritätssetzungen und Trennungen verstanden. “In-betweenness”, “liminality” sowie unvollständige und im Übergang befindliche Kunst- und Kulturformen können ohne Angst oder Nostalgie akzeptiert und weiterentwickelt werden, denn Identitäten sind ungleich mehr dynamischer als statischer Natur und implizieren Ambivalenzen. “Co-habitation“ (ebda.) beinhaltet im Zeitalter einer Massenkommuni-kationsgesellschaft gerade auch ein Grenzen Überschreiten bei der medialen Spiegelung inter- und intrakultureller Aspekte. In diesem Sinne erscheinen die in Lola Rennt auf der Grundlage zahlreicher intertextueller Anleihen durchgeführten Experimente mit Mischungen von Filmgattungen, Kameraeinsatz und verschiedensten filmtechnischen Kombinationen sehr interessant und in vieler Hinsicht wegweisend für neuere Filmproduktionen.

[4] Zur Breitenwirkung des zwischen publikumswirksamen Melodrama und Brechtscher Verfremdungstechnik professionell operierenden Angst essen Seele auf vgl. Rings (2000).

[5] Vgl. Straubs und Sybersbergs Produktionen, aber auch Fassbinders Katzelmacher von 1968 und Schlöndorffs Der junge Törleß von 1966.

[6] Zu Problematik und Mechanismen automatischer Rezeption sowie einigen Möglichkeiten zu deren Abbau vgl. Grünewald (1980: 43, 52) und Rings (1994: 40ff.). Der Fokus der Ausführungen liegt hier auf Comics und Anticomics kann aber unmittelbar auf grundlegende strukturelle Aspekte des hier thematisierten filmischen Kontextes übertragen werden, denn Lola Rennt beinhaltet nicht nur Comicsfilmclips sondern folgt durch die Karikierung existenzieller Situationen in vieler Hinsicht potentiellen Comicsvorlagen.

[7] Vgl. hier die Einblendung der alten von dem Kopf eines Fabelwesens verzierten Uhr, deren Pendel die Namen der Schauspieler und deren Rollen nennt aber auch unmittelbar wieder „wegwischt“ und so bereits den inhumanen Zeitdruck im Filmgeschehen vorwegnimmt. Die Schauspieler und Ihre überwiegend anti-heldenhaften Rollen werden ergänzend eingeführt durch schnell wechselnde Fotoserien, die an Polizeifotos erinnern. Hinzu kommt die anonyme sich schnell bewegende Menschenmasse, aus deren Betrachtung grundlegende philosophische Leitgedanken erwachsen, die aber trotz aller Verschiedenheit letztlich durch ihren Zusammenschluss zum Filmtitel eine konkrete Gestalt annimmt (zur Bildung jedes einzelnen Buchstabens von „Lola Rennt“  wurden ca. 300 Statisten eingesetzt).

[8] Exemplarisch sind eine extrem schnelle Zufahrt auf das rote, Mannis Hiobsbotschaft vermittelnde Telefon und der parallel erfolgende bruchhafte Wechsel der Perspektive von Weit auf Detail.

[9] Aus Krzysztof Kieslowskis Der Zufall möglicherweise (1981) zitiert Tykwer sehr wahrscheinlich die zu Beginn stehende Kamerafahrt in einen geöffneten Mund und das Anrempeln einer Frau durch den laufenden Protagonisten (Biermann & Schurf, 1999b: 387).

[10] So lernt Lola sich gegen den Hund auf der Treppe zu verteidigen. In der dritten Version ihrer Geschichte knurrt sie ihn im Zeichentrickclip unmittelbar an und springt gleichzeitig über das Hindernis. Auch steigt sie später ohne zu fragen in den Krankenwagen ein, denn sie weiß aus der vorhergehenden Episode, dass Fragen nicht weiterhelfen.

[11] Knörer (ebda.) zieht allerdings allzu triviale Schlüsse, wenn er die Parodisierung der Authentizität als „Nicht-Zusammenpassen“ deutet und den Film insgesamt als „zu psychologisch“ ablehnt.

[12] Ein guter Teil der Regiearbeit wurde entsprechend mit Diskussionen über die jeweils passende Zeiteinstellung auf den im Film immer wieder eingeblendeten Uhren verbracht. Vgl. Tykwer (1999: 2): “One really crazy aspect was all the clocks that keep coming into shots everywhere – we spent hours discussing wether it was seven minutes or six in some scenes.”

[13] Jede modifzierte Wiederholung von Lolas Lauf dauert ca. 20 Minuten und Lola hat im Film nur 20 Minuten, um das Geld für Manni zu besorgen.

[14] Weder der Diebstahl ihres Mofas während eines Kaufs von Zigaretten an einer Tankstelle noch das bei der Kommunikation mit dem Taxifahrer entstandene Missverständnis über die richtige Straße darf unmittelbar als Lolas Schuld interpretiert werden.  Vielmehr ist ihr anzurechnen, dass sie sich trotz des Mofadiebstahls weiter verzweifelt bemüht mittels eines Taxis doch noch rechtzeitig zum mit Manni vereinbarten Treffpunkt zu gelangen.

[15] Auch hier dominiert die Opposition zwischen einem sitzenden Banker und einer stehenden Lola. Lola bleibt meist in der Nähe der Tür als Metaphorik für Auswegsmöglichkeiten, während ihr Vater mal im Chefsessel und mal zwischen Tisch und Geliebter „gefangen“ erscheint. Im Übrigen verweisen die Fülle seiner stereotypen und wenig konstruktiven Fragen sowie seine apathische Haltung in der zweiten Geschichte als Geisel in der Gewalt der eigenen Tochter auf seine allgemeine Hilflosigkeit.

[16] So bleibt er während des gesamten Überfalls nicht nur extrem ruhig sondern er bietet Lola auch ohne zu zögern an, die an seinem Schalter zur Aushändigung der verlangten 100.000 DM fehlenden 20.000 DM selbständig aus dem Safe zu besorgen, eine Handlung, die er letztlich ebenfalls im gewohnten Arbeitstempo verlässlich ausführt. Lola ist auf groteske Art zu seiner Kundin geworden, die sich auf einen korrekten Service verlassen kann. Da ihr die Legitimation zur „Abhebung“ des Geldes fehlt, kann sie nicht erwarten, dass der Kassierer seine Arbeit ohne das zeitweilige Nicken seines Vorgesetzten durchführt. Ebensowenig kann sie die Geschwindigkeit dieses Arbeitsvorganges wesentlich beschleunigen, denn die verlässliche Geldaushändigung ist an ein gewisses Arbeitstempo gekoppelt und der Kassierer erscheint grundsätzlich nicht in der Lage seine Routine zu modifizieren. So kostet es ihn schon einige Überwindung, das Geld in die Abfalltüte zu werfen. Als Lola die Bank verlässt, kann sie jedoch sicher sein, exakt 100.000 DM in ihrer Tüte zu haben.

[17] Vgl. Henning (1998: 3): „Der Film ist auch ein Märchen, in dem der Zufall und das Glück regieren“.

[18] In diesem Sinne formulieren Gleibermann & Schwarzbaum (2001: 3) zu Recht, “microscopic incidents set off intrincate chain reactions”. Die strengen Regeln der Unterwelt illustrieren dies in besonderem Maße.

[19] In der dritten Geschichte trifft Lola ihren Vater nicht mehr in der Bank an, die vorhergehenden zwei Handlungsabfolgen schließen die Möglichkeit einer radikalen Verhaltensänderung des Vaters in anderen ähnlichen Situationen jedoch weitestgehend aus. 

[20] Auf letzteres deutet Lolas Entscheidung sich zunächst an ihren Vater zu wenden, die leitende Position des Vaters und auch die Tatsache, dass dieser die Negierung der finanziellen Hilfeleistung an keiner Stelle mit einem Mangel an Geld zu rechtfertigen versucht.

[21] Vgl. hierzu und zur Charakterisierung der Protagonisten Kleymann (2001).

[22] Vgl. Biermann/Schurf (1999a: 436, 438).

[23] Auch Kepser (2000: 625) betont den ausgeprägten Genremix des Films, greift mit ihrem Begriff „romantisch-philosophischer ActionLiebesExperimentalThriller“ allerdings zu kurz und lässt den Studierenden durch Vorgabe des Terminus wenig Raum zur eigenen Reflektion über diese Besonderheit.

[24]Zur Mentalität der im Film über Lola und Manni gespiegelten jüngeren Generation vgl. etwa die überwiegend sehr kritischen Texte im Spiegel Nr. 22/1994 („Tanz ums goldene Selbst“), 30/1994 („Das Dasein wird seziert“) und 38/1994 („Spiegel-Umfrage Jugend 1994“). Vergleichend könnten auch Ausschnitte aus den entsprechenden neueren Texten in Spiegel Nr. 50/1998 und 15/2001 hinzugenommen werden. Zum grundlegenden Wandel der Mentalitäten mit Blick auf eine Pluralisierung der Milieus, Subkulturen und Lebensstile sowie einer Pluralisierung der Formen des Zusammenlebens vgl. einführend etwa Beck (1990) und Meyer/Schulze (1993) sowie wiederum als möglichen Text für sprachlich fortgeschrittene DaF-Studierende den Beitrag „Die Mächtigen von morgen“ im Spiegel 18/2001. Castells (1997) bereitet mit seiner Studie “The end of patriarchalism” eine Grundlage für eine erste postfeministische Deutung von Lola Rennt. Für DaF Studierende könnten sich in einem solchen Kontext die thematisch entsprechenden Graphiken des Globus-Kartendienstes als sehr hilfreich erweisen.